Am zentralen Busbahnhof der chilenischen Kleinstadt San Felipe steht Jean Joseph Makanaki Audain. Er kennt die Stadt, seine Orte und die Menschen. Doch diese schauen den Afrokariben, der sich selber Makanaky Adn nennt, während des Interviews immer wieder mit schrägen Augen an. Was macht er hier? Wieso hält ihm jemand ein Mikrofon an den Mund? Wieso läuft jemand mit der Kamera um ihn herum? Für die Menschen ist klar: Er ist hier fremd.
Makanaky hat sich längst an das gesellschaftliche Klima gewöhnt. Er lebt seit sechs Jahren in Chile, geboren ist er in Haiti. Er arbeitet als Feldarbeiter und ist in seiner Freizeit Slampoet. Er rezitiert Gedichte, die von seiner Heimat, der Suche nach einem guten Leben, von Ausbeutung und vom Stolz, Haitianer und Schwarz zu sein, handeln.
Denn Chile hat ein Rassismusproblem. Das Land, das seit Jahrhunderten Migration aus Europa fördert, geht mit Vorurteilen, Ausgrenzung und Ausbeutung gegen seine eigenen indigenen und inneramerikanische Migrant:innen vor, so die Soziologin und Migrationsexpertin Maria Tijoux. Es sei der Komplex eines Landes und einer Gesellschaft, die Teil eines „weissen“ Europa sein will und deshalb noch viel härter gegen alle tritt, die diesem Stereotyp nicht entsprechen.
Reise ins Unbekannte
Makanaky wuchs auf der Insel Gonavé auf, nur ein paar Luftmeilen entfernt von der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Während er durch die Strassen von San Felipe, seinem aktuellen Zuhause läuft, erinnert er sich an früher: „Meine Familie überlebt dank Geldüberweisungen aus dem Ausland. Schon früher schickten uns Verwandte Geld, damit wir Essen kaufen und zur Schule gehen konnten.“
Als Makanaky zwölf ist, migrieren seine Eltern mitsamt den jüngeren Schwestern in die französische Kolonie Guadeloupe. Er soll nachkommen, doch die Einreise wird immer schwieriger und Geschichten von gekenterten Booten bei der Überfahrt zur Karibik-Insel machen der Mutter Angst. Später wird sein Vater aus Guadeloupe abgeschoben, übrig bleibt seine Mutter, die nun für die gesamte Familie Geld verdient – denn in Haiti gibt es keine Arbeit.
Auf Anweisung seiner Mutter macht sich Makanaky mit seinem Bruder auf nach Chile. Seine Mutter sagt, die Einreise sei einfach und das Land befinde sich im wirtschaftlichen Aufschwung. Man könne als Tourist einreisen, eine Arbeit suchen und danach das Visum beantragen, habe sie von Bekannten gehört. Die Mutter hat genügend Geld gesammelt, um ihnen den Flug zu bezahlen. So starten sie jeweils mit 1000 Dollar in der Hosentasche ihre Reise.
Das war vor fünf Jahren. Damals war Chile für seine wirtschaftliche Stabilität bekannt. Das Land hat die Wirtschaftskrise von 2009 ohne grössere Probleme gemeistert und nahm bei internationalen Militärinterventionen in unstabileren Regionen teil. In Haiti leitete der Chilene Juan Valdés von 2004 bis 2008 einen Blauhelmeinsatz, der nach einem Bürgerkrieg wieder für Stabilität im Land sorgen sollte. Damals erlangte Chile auf der Insel einen grösseren Bekanntheitsgrad. Chile, so die Meinung, sei fortschrittlich und respektiere die Menschenrechte.
Ankunft und Enttäuschung
Das war auch die Meinung von Makanakys Mutter. Doch gleich nach der Ankunft kommt die bittere Realität. Die Brüder hangeln sich von Job zu Job, immer ohne Vertrag, geschweige denn Sozialversicherungen. Das Spanisch fällt ihnen anfangs schwer – ein weiterer Faktor, der es für andere leicht macht, sie auszunutzen. Sie werden beschimpft, mehrmals wollen die Arbeitgeber:innen ihnen nichts zahlen.
Die ersten Monate wohnen sie in einem baufälligen Zimmer für eine viel zu hohe Miete, während die Besitzerin ihnen auch noch die Reparaturkosten aufdrücken will. Makanaky meint erzürnt: „Jeden einzelnen Nagel mussten wir zahlen, jeden Nagel!“ Trotz der Gelegenheitsjobs wird das Geld nach kurzer Zeit knapp.
Es ist eine schwierige Zeit. Beim Sprechen beginnt Makanaky Gedichte zu rezitieren.
Voy dejando unas gotas de tinta
a base de rabia y reproche,
dedicadas
a un sistema que no tiene más
que un corazón de piedra.
Ich lasse ein paar Tropfen Tinte zurück
Tinte bestehend aus Wut und Vorwurf,
gewidmet
an ein System, das aus nichts mehr
als einem Herz aus Stein besteht.
Seine Wut trägt er auf das Blatt Papier. Von dort holt er die Kraft, um weiter nach Arbeit und einer Wohnung zu suchen. Es zieht ihn aufs Land, dort soll es mehr Arbeit geben und eine höhere Wahrscheinlichkeit, einen Job mit Vertrag zu bekommen – der einzige Weg, das Visum verlängern lassen zu können.
Visum als Existenzfrage
Das richtige Visum ist in Chile überlebenswichtig. Nur mit legalem Aufenthalt hat man Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung, Bildung und weiteren Dienstleistungen. Zwar stellte 2017 die damalige sozialdemokratische Präsidentin Michelle Bachelet per Dekret das Recht auf Zugang zum Gesundheitssystem über ausländerrechtliche Fragen. Doch die Praxis sieht bis heute anders aus. Selbst bei der derzeitigen Impfkampagne werden zum Teil Migrant:innen widerrechtlich abgewiesen und gebeten, sich als illegale Einwohner:innen bei der Polizei zu melden.
Doch auch wer die nötigen Papiere zusammen hat, bekommt noch lange kein Visum. Mit Antritt der rechten Regierung von Sebastián Piñera verlangsamte sich die Aushändigung der Visa um mehrere Monate. Aktivist:innen berichten von bis zu zwei Jahren, die es brauche, bis Visumanträge bearbeitet werden. Das heisst auch: zwei Jahre ohne gültige Steuernummer und ohne effektiven Zugang zu Bildung, einem Bankkonto oder Gesundheitsversorgung.
Der Menschenrechtsaktivist Jean Claude Pierre-Paul meint dazu gegenüber das Lamm: „Man lebt in einem rechtsfreien Raum, ohne Möglichkeit, von offiziellen Stellen Hilfe holen zu können.“
Doch selbst das Visum schützt nicht vor Diskriminierung. Pierre-Paul, selber in Haiti geboren, arbeitet mehrere Jahre im Migrationsdepartement einer armen Gemeinde in Santiago. Er erscheint im Jahr 2019 in mehreren Zeitungen, als er von einem Vorfall berichtet, den er beim Besuch eines Gesundheitszentrums erlebt hatte: Einer Frau aus Haiti, die unter starken Schmerzen litt und ohnmächtig wurde, wurde die Behandlung verweigert.
Pierre-Paul erinnert sich, wie er laut das untätige Personal beschimpfte. Als die Polizei kommt, nimmt sie ihn in einen kleinen Raum und schlägt mehrmals auf ihn ein. Er wiederholt mehrmals: „Ich bin bei der Gemeinde angestellt.“ Heute meint er gegenüber das Lamm: „Hätte ich das nicht gesagt, hätten sie mich für irgendeinen Haitianer gehalten und einfach weiter geprügelt.“ Pierre-Paul erstattet Anzeige, doch bis heute gibt es kein Resultat.
„Das Haus aufräumen“
Seit dem Anstieg der inneramerikanischen Migration reagieren Staat und Medien kaum unterschiedlich auf das neue Phänomen. Breite Teile der Medien verbreiten rassistische Klischees über Armut, Drogenbanden und fehlende Sauberkeit von Migrant:innen. Nur selten wird über die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen, die überbelegten Wohnungen oder die schwierigen Grenzübertritte berichtet.
Chile ist nach der Dominikanischen Republik, die auf der gleichen Insel wie Haiti liegt, das mittel- und südamerikanische Land mit den zweitmeisten Migrant:innen aus Haiti. Und das, obwohl zwischen den beiden Ländern 6000 Kilometer liegen.
Der rechte Präsident Sebastián Piñera ist 2019 mit zwiespältigen Aussagen aufgetreten. Während er auf internationalen Veranstaltungen Migrant:innen dazu einlud, ins prosperierende Chile zu kommen, sprach er nach innen von kriminellen Banden, ungezügelter Migration und meinte, man müsse „das Haus aufräumen“. Pierre-Paul meint dazu: „Das bedeutet in der Praxis: Wir Migrant:innen werden als Gefahr für die innere Sicherheit gesehen.“
Die Regierung erhöht die Polizeikontrollen auf gültige Aufenthaltspapiere, bringt angeblich zum Kampf gegen den Drogenhandel das Militär an die Grenze und führt öffentlichkeitswirksam Abschiebeflüge durch. In weisse Schutzanzüge gekleidet, mit Handschellen und Masken ausgerüstet, werden Migrant:innen der Presse vorgestellt. Menschenrechtsorganisationen prangern derweil an, dass viele kein ordentliches Rechtsverfahren erhalten. Mittlerweile fordert Human Rights Watch die Aussetzung dieser Flüge.
Nebst den Abschiebeflügen organisiert die Regierung sogenannte freiwillige „humanitäre Flüge“ unter anderem nach Haiti und Kolumbien, finanziert durch grosse chilenische Unternehmen und Unternehmer:innenverbände. Migrant:innen konnten sich freiwillig melden und bekamen den Rückflug bezahlt. Die einzige Bedingung: Sie können über neun Jahre nicht nach Chile einreisen.
Schwarze Haut, weisse Masken
Auch Makanaky erwähnt diese Flüge. Sie seien Ausdruck einer grundrassistischen Politik. Man beute die Migrant:innen aus, nehme ihnen alle Rechte und am Ende schaffe man sie freiwillig oder unter Zwang wieder ausser Land.
Auch in der Gesellschaft habe sich die Lage verschlimmert. Makanaky erzählt, wie häufig der Platz im Bus frei bleibt oder Leute ihm entgegenspucken. Es ist offener Rassismus von Leuten, die ihren Frust gegen diesen Bevölkerungsteil richtet.
Beim Sprechen über den Rassismus in Chile wird Makanaky nachdenklich. Er nimmt einen Vergleich vor: In Haiti gebe es bis heute eine Leitkultur der Elite, die durch die ehemalige Kolonialmacht Frankreich geprägt ist. Trotz mehr als 200 Jahren Unabhängigkeit spricht man unter Gebildeten Französisch und in der Schule wird gesagt, man solle sich kultiviert und europäisch verhalten.
„Wir sollen unsere schwarze Haut vergessen“, meint Makanaky und zitiert dabei den karibischen Schriftsteller und Psychoanalytiker Frantz Fanon. In den 50er-Jahren veröffentlichte der Autor sein Buch Peau noire, masques blancs und legte damit den Grundstein für die Theorien der Entkolonisierung. Er hob hervor, dass die afroamerikanische Elite der französischen Kolonien versuche, „weiss“ zu sein und dabei ihre eigene Herkunft verberge und verabscheue.
In Chile, so Makanaky, passiere etwas Ähnliches. Die Bevölkerung verneine ihre indigene und zum Teil afroamerikanische Herkunft. Man wolle europäisch sein und sich vom Rest Lateinamerikas abschotten. Um den Unterschied zu unterstreichen, werde nach unten getreten – gegen alle, die dem europäischen Stereotyp nicht folgen: amerikanische Migrant:innen, Indigene und Afros im Allgemeinen.
Chile müsse seine indigene, afroamerikanische und lateinamerikanische Realität anerkennen, erst dann könnte der institutionelle und gesellschaftliche Rassismus überwunden werden, meint Makanaky. Für manche kommt dies zu spät. Pierre-Paul erwähnt, dass sich mittlerweile immer mehr Migrant:innen entscheiden, aufgrund der Ausgrenzung, der staatlichen Diskriminierung und des unsicheren Lebens das Land wieder zu verlassen. Sie gehen Richtung USA, zum Teil über Land mit unzähligen gefährlichen Grenzen und bewaffneten Konflikten.
Makanaky hat sich vorerst entschieden, zu bleiben. Mittlerweile hat er feste Freundschaften, eine Partnerin und ein Kind. Auch wenn er hier Wurzeln geschlagen hat, bleibt seine Heimat Haiti. Zum Schluss des Interviews hält er fest: „Ich habe eine politische Aufgabe, meinen Leuten Kraft zu verleihen, um für die Sache der Schwarzen kämpfen.“
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