Am Freitag, 3. April hat die Regionalregierung der Provinz Nord-Kivu im Osten Kongos eine 14-tägige Ausgangssperre für Goma angekündigt. Die Ankündigung stiftete zunächst Verwirrung in der Bevölkerung und den Medien. Gerade noch rechtzeitig kommunizierte die Regierung, dass es sich dabei um eine Empfehlung handelt, mit dem Ziel, den Verkehr in die und aus der Stadt zu stoppen – mit Ausnahme der Warentransporte. Inzwischen wurde der dritte Corona-Fall in der Stadt Goma bestätigt. In den sozialen Medien und mit selbstorganisierten Sensibilisierungskampagnen auf Märkten wird darüber informiert, wie korrektes Händewaschen funktioniert. Der Slogan „Restez à la Maison“ macht die Runde. Nur: So einfach ist das nicht.
Die WHO-Massnahmen im Kontext: Eine Bürde für die Ärmsten
Die universellen WHO-Massnahmen, die in der Schweiz oder in Frankreich sehr wohl Sinn machen, sind in einer Stadt wie Goma schwierig umzusetzen. Für die meisten ist es notwendig, das Haus täglich zu verlassen, um die Familie ernähren zu können. Um die 70 Prozent der Bevölkerung arbeitet im informellen Sektor – als Marktfrauen, fliegende Manicuristen, Autowäscher, Strassenköchinnen, Fotografen oder Designerinnen. Sie leben au taux du jour, im Tagessatz, wie man hier sagt. Was am Tag verdient wird, kommt abends als Essen auf den Tisch. Ohne Geld oder Nahrungsmittelhilfe ist eine Ausgangsperre schlicht unzumutbar – und vielleicht sogar kontraproduktiv.
In vielen Stadtteilen gibt es in den Häusern weder fliessendes Wasser noch regelmässige Stromzufuhr. Die Leute verlassen täglich ihre Wohnungen, um gelbe Plastikkanister an den gemeinschaftlichen Wasserstellen aufzufüllen. Social distancing, der erste Pfeiler der WHO-Massnahmen, scheint mit dem zweiten, der persönlichen Hygiene, zu kollidieren. Ohne Einkommen werden sich die Menschen weder Seife noch Desinfektionsmittel kaufen können. Und der fehlende Strom macht Homeoffice sogar für diejenigen unmöglich, die einen Laptop besitzen und einige Arbeiten zu Hause erledigen könnten. Abgesehen davon ist es fraglich, ob die Empfehlung, wenn möglich zu Hause zu bleiben, überhaupt zum gewünschten social distancing führen würde. Wohnungen oder Häuser mit ein bis zwei Zimmern werden oft von achtköpfigen Familien bewohnt, Betten oder Matratzen werden geteilt.
Zwei Philosophie-Professoren der University of Johannesburg befürchten, dass der Schaden, den gewisse Massnahmen unter Bedingungen, wie sie in manchen Gegenden Afrikas herrschen, gravierender wäre als der erwartete Gewinn – gravierender gar als die Ausbreitung des Coronavirus selbst. Das hat auch damit zu tun, dass der Anteil der über 65-Jährigen in vielen afrikanischen Ländern sehr klein ist: In der Demokratischen Republik Kongo beträgt er gerade mal 2.47 Prozent. Ein weiterer Punkt: Ziel des social distancing ist ja, die Kurve der Neuinfektionen „abzuflachen“, damit die Gesundheitssysteme nicht überlastet werden. In einem Land wie der Demokratischen Republik Kongo mit 95 Millionen Einwohner*innen, wo laut France24 gerade mal 50 Beatmungsmaschinen zu Verfügung stehen, ist die Auslastung der Intensivstationen schon bei wenigen kritischen Fällen erreicht.
Die Journalistin OluTimehin Adegbeye berichtet, dass etwa im nigerianischen Lagos viele Menschen das social distancing gar nicht praktizieren wollen. Gerade bei einer Krankheit wie dem Coronavirus ist dies verständlich. In den meisten Gesundheitsstrukturen im subsaharischen Afrika ist es wichtig, dass eine Person nicht alleine ins Krankenhaus gehen muss. Das liegt daran, dass die Patient*innen in den meisten Krankenhäusern nur medizinisch behandelt und betreut werden. Für Krankenpflege (inklusive Verpflegung), persönliche Hygiene oder das Waschen der selbst mitgebrachten Bettlaken sind dagegen Familie und Freunde verantwortlich. Ein Freund aus Goma erklärte mir: „Man muss praktisch und realistisch denken. Die Leute werden sich enorm wehren, in Spitälern in Quarantäne zu müssen, nur weil sie positiv getestet wurden.“ Aufgrund ihrer Erfahrungen wünschten sie sich die Nähe zu ihren pflegenden Verwandten. Unter diesen Bedingungen sei das nur zu Hause möglich.
Nichtsdestotrotz erhöht die Eindämmung der Ausbreitung des Virus die Chance, die Kapazitäten der Krankenhäuser – die im Übrigen sehr erfahren im Umgang mit Infektionskrankheiten sind – auszubauen und die befürchtete Komorbidität mit anderen verbreiteten Krankheiten zu reduzieren. Die Frage ist nur, unter welchen Bedingungen. Trotz der unterschiedlichen sozialen, ökonomischen, medizinischen und demographischen Strukturen ihrer Länder haben viele afrikanische Regierungen bis anhin die standardisierten WHO-Empfehlungen übernommen und folgen damit den in Ostasien und in westlichen Ländern erprobten Massnahmen. Aber gerade die Ärmsten werden von diesen Massnahmen mitunter ökonomisch hart getroffen.
Ein Beispiel: Nachdem die Anzahl Passagiere in öffentlichen Verkehrsmitteln in Goma reduziert wurde, damit genügend Abstand gehalten werden kann, haben sich die Transportpreise verdoppelt. Durch die Grenzschliessung und die Isolation sind die Preise von Grundnahrungsmitteln bereits um das Doppelte gestiegen. Hinzu kommt die angedrohte und ausgeübte Gewalt durch die Polizei, das Militär und den Geheimdienst, welche die Massnahmen durchsetzen: Besitzer*innen von kleinen Läden werden trotz mangelnder finanzieller Mittel dazu gezwungen, Wasser und Seife aufzustellen. Wer sich nicht an die Regeln hält, riskiert, verhaftet zu werden. Die Corona-Massnahmen scheinen den Sicherheitskräften zudem Vorschub zu leisten, härter gegen die sogenannten merchants pirates, die illegalen Strassenhändler*innen, vorzugehen. Weil sie bei ihrer Tätigkeit das Verbot von Versammlungen von über zwanzig Leuten nicht berücksichtigen können, werden sie mit Tränengas an ihren täglichen Einkünften gehindert.
Es gibt aber auch Beispiele für lokal angepasste Dispositive, etwa in Süd-Kivu, der Nachbarprovinz von Nord-Kivu, in der sich Goma befindet. Dort wird unter Nobelpreisträger Dr. Mukwege, der die örtliche Kommission zur Bekämpfung des Coronavirus leitet, eine praktikable Anpassung der WHO-Massnahmen präsentiert: Es gilt eine partielle Ausgangssperre für Menschen mit hohem Komplikationsrisiko. Über-60-Jährige werden, so der Vorschlag, in gemeinsamen Wohnungen untergebracht, während die jüngeren Familienmitglieder vorübergehend in anderen Häusern wohnen und weiterarbeiten, um die Älteren ernähren zu können.
Aber selbst mit diesen Anpassungen wird die Corona-Krise auf dem afrikanischen Kontinent laut Expert*innen gravierende ökonomische Konsequenzen haben: Zusammenbruch des Tourismus, Rückgang der ausländischen Investitionen, Störungen der Versorgungsketten und Rohstoffmärkte. Laut einer neuen Schätzung des UN-Entwicklungsprogrammes könnten das Coronavirus und die Reaktionen darauf die Hälfte aller Jobs im subsaharischen Afrika vernichten.
Bedingungsloses Grundeinkommen – The time is now?
Abhilfe könnte ein Konzept schaffen, das sich in Europa gerade zunehmender Beliebtheit erfreut: das bedingungslose Grundeinkommen. Um ihren Bürger*innen in der Notsituation über die Runden zu helfen, haben Regierungen auf der ganzen Welt gigantische Hilfspakete beschlossen: Indonesien und Grossbritannien erweitern oder erhöhen die Zahlungen ihrer Bargeldprogramme, in den USA bekommen die meisten Bürger*innen Schecks zugeschickt, Spanien diskutiert ein Grundeinkommen für die Ärmsten. In den meisten afrikanischen Ländern sind ähnliche Hilfsmassnahmen nicht in Sicht. Den Regierungen fehlen dafür die finanziellen Mittel.
Dass diese Mittel fehlen, hat viele Gründe. Dass das Land keine fairen Gewinne aus der Rohstoffbranche zieht und potentielle Staatseinnahmen durch Steuerbefreiungen von multinationalen Unternehmen – natürlich auch auf deren Druck – entfallen, spielt in der Demokratischen Republik Kongo sicher eine wichtige Rolle.
Ohne die Möglichkeit zur direkten finanziellen Unterstützung bleibt nur die Sensibilisierung der Bevölkerung zur Vermeidung der Ausbreitung des Virus. Goma Actif, ein Kollektiv von Künstler*innen, Journalist*innen und engagierten Bürger*innen, verteilt etwa die von African Masks hergestellten Masken in persönlicher Interaktion an ältere Personen in Goma. Auch die meisten Hilfsorganisationen im Land setzen auf solch essentielle Sensibilisierung. Diesen fehlen jedoch nicht so sehr die Mittel. Sie nehmen vielmehr an, dass Unwissen in der Bevölkerung social distancing und ausreichende Hygienemassnahmen erschwert – und nicht ihre prekäre ökonomische und soziale Lage.
Der niederländische Schriftsteller Rutger Bregmann hat angesichts der aktuellen Situation ein Kapitel zum Grundeinkommen aus seinem Buch Utopia for Realists online zugänglich gemacht. Er zeigt darin auf, dass dieser Ansatz gerade für ökonomisch schwache Länder Sinn macht. So schreibt Bregmann: „Warum teure Weiße in Geländewagen schicken, wenn wir ihre Gehälter einfach an Menschen, die in Armut leben, aushändigen können?“ In der gegenwärtigen Krisensituation muss die Rolle von Hilfsorganisationen grundsätzlich überdacht werden. Gerade jetzt, wo sie gezwungen sind, Aktivitäten wie Workshops mit Vertreter*innen aus der Bevölkerung einzustellen.
Natürlich gibt es Forderungen in diese Richtung. Humanitäre Organisationen setzen in Krisensituationen mit Erfolg vermehrt auf Bargeldtransfers, etwa für Geflüchtete oder Betroffene von Naturkatastrophen. Da erstaunt es, dass die Forderungen nicht mehr, nicht lauter, nicht konkreter sind. Und auch hierfür gibt es etliche Gründe.
Obwohl sich wiederholt gezeigt hat, dass Menschen nicht einfach faul werden, wenn man ihnen Geld gibt, herrscht die Ansicht, dass Menschen, die in Armut leben, nicht mit Geld umgehen können. Doch Pilotprojekte und Studien von Namibia über Uganda bis Kenya haben gezeigt, dass Bargeldtransfers auch bei geringem Bildungsstandard vernünftig eingesetzt werden. Es zeigte sich, dass sie zu dauerhaftem Einkommen, mehr Haus- und Viehbesitz, verbesserten schulischen Leistungen, Wirtschaftswachstum und Geschlechtergleichstellung sowie zu einem Rückgang von Kriminalität, Kindersterblichkeit, Unterernährung und Schwangerschaften bei Teenagern führen. Menschen in Armut wissen selber am besten, was sie brauchen. Es wäre daher sinnvoll, ihnen einen möglichst grossen Teil der für die Entwicklungshilfe eingesetzten Gelder direkt zukommen zu lassen.
Doch im Diskurs der Entwicklungshilfe hält sich das Prinzip, dass Menschen mit der (sehr teuren) Vermittlung von Wissen zum Handeln befähigt werden sollen, anstatt sie mit Gütern, auch mit Geld, zu versorgen. Dazu passt der Slogan „Give a man a fish, and you feed him for a day. Teach a man to fish, and you feed him for a lifetime“. Nur: Die meisten Leute wissen ganz genau, wie man fischt. Es fehlen ihnen einfach die Angelruten und der Zugang zu den Fischgründen und Fischmärkten. Dass diese simple Tatsache verkannt wird, hat auch mit der tiefen Verwurzelung des Bilds des aufgeklärten Menschen zu tun. Mindestens seit dem Aufkommen des westlichen Wohlfahrtsstaates sind Menschen idealerweise unabhängig durch Arbeit, anstatt von Sozialhilfe abhängig zu sein. Denn, so das Narrativ, Abhängigkeit von Hilfe bedeutet Entmündigung und Passivität statt Freiheit und Gleichheit.
Der kulturelle und soziale Kontext von Ungleichheit – auch eine globale Verpflichtung?
In Afrika gibt es aber viele Kontexte, in denen Abhängigkeit radikal anders wahrgenommen wird. Wie der Sozialanthropologe James Ferguson in seinem letzten Buch für das südliche Afrika aufgezeigt hat, wird an vielen Orten die moralische Verantwortung der Bessergestellten mitgedacht, wenn Ungleichheit besteht: Wer mehr hat, gibt denjenigen, die weniger haben. In Ländern, wo der Hauptteil der Bevölkerung ohne gesichertes Einkommen lebt, ist es üblich, dass Familie und Bekannte Betroffene bei medizinischen Notfällen unterstützen, ihre Schulgebühren bezahlen und bei Wohnungsnot helfen. In Kontexten wie in Goma, wo Möglichkeiten für formelle Beschäftigung oder Sicherheit durch einen Wohlfahrtsstaat fehlen, wird dieses Verteilungsprinzip umso wichtiger. Dies zeigt auch ein Blick auf die afrikanische Diaspora: Die Summe des Geldes, das diese an ihre Familienmitglieder auf dem afrikanischen Kontinent schickt, ist um ein Vielfaches höher als diejenige der Entwicklungshilfe. Das Überleben vieler Afrikaner*innen wird gerade in solchen Abhängigkeitsverhältnissen erst gesichert.
Könnten nicht auch die internationale Gemeinschaft und die humanitäre Hilfe von diesen kulturellen und sozialen Logiken ausgehen? Von der moralischen Verpflichtung, diejenigen zu unterstützen, die weniger haben? Die Forschung hat gezeigt, dass kleine Geldbeträge Aktivitäten ermöglichen, die sonst schwierig oder unmöglich wären. Anstatt die Menschen passiv zu machen, befähigen sie diese, aktiver und gleichberechtigter an den Abhängigkeitsverhältnissen teilzunehmen, welche das Leben aller Menschen, vor allem aber der in Armut lebenden, entscheidend prägen.
Die Corona-Krise macht auch global betrachtet wieder einmal deutlich, wer Zugang zu welchen Möglichkeiten und zu welchen Formen der Unterstützung hat. Das bedingungslose Grundeinkommen ist sowieso eine der offensichtlichsten Antworten auf die Fragen der Armutsbekämpfung. In Bezug auf COVID-19 in afrikanischen Ländern ist es aber dringend notwendig. Es könnte nicht nur das Überleben der Ärmsten sichern, sondern die Machbarkeit von social distancing und persönlichen Hygienemassnahmen enorm erhöhen. Damit würde es effizienter als etliche Sensibilisierungsmassnahmen zur Eindämmung des Coronavirus beitragen.
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