„Das Gesetz muss wider­spie­geln, was Recht und Unrecht ist.“

Der Bundesrat posi­tio­niert sich gegen die Einfüh­rung des soge­nannten Konsens­prin­zips bei der laufenden Revi­sion des Sexu­al­straf­rechts. Das stösst auf viel Unver­ständnis. Nun spricht sich nach Amnesty Inter­na­tional auch das Natio­nale Fach­gre­mium gegen Gewalt an Frauen für eine umfas­sen­dere Revi­sion aus. Im Inter­view erklärt Agota Lavoyer von der Opfer­hilfe Bera­tungs­stelle Lantana, warum dieser Schritt längst über­fällig ist. 

das Lamm: Frau Lavoyer, sie arbeiten selbst auch als Opfer­hil­fe­be­ra­terin. Wieso braucht es eine radi­kale Revi­sion des Sexualstrafrechts?

Agota Lavoyer: Wir lehren bereits unsere Kinder, dass du Nein sagen darfst, wenn du etwas nicht willst. Gerade auch, was die eigene Sexua­lität anbe­langt. Nein heisst Nein, das ist in der Theorie eigent­lich kaum bestritten. Auf der anderen Seite sehen wir als Opferhilfeberater*innen jede Woche Frauen, die entmu­tigt und ernüch­tert sind, weil sie vor Gericht keine Chance gegen ihren Peiniger hatten, weil bei der Verge­wal­ti­gung etwa zu wenig oder keine Gegen­wehr im Spiel war.

Frauen, die etwa inner­halb einer Vertrau­ens­be­zie­hung verge­wal­tigt werden, wissen, dass die Verur­tei­lungs­quote bei nicht stereo­typen Sexu­al­de­likten sehr gering ist – und verzichten deswegen oftmals von Beginn an auf eine Anzeige. Dabei sind diese Fälle ja die grosse Mehrheit!

Das Gesetz muss wider­spie­geln, was Recht und Unrecht ist. Damit das funk­tio­nieren kann, braucht es auch in der Schweiz das Konsens­prinzip. Es kann nicht sein, dass ein Über­griff nur dann als Verge­wal­ti­gung gilt, wenn physi­sche Gewalt oder Drohung im Spiel war.

Sie befürchten, dass die Einfüh­rung des Konsens­prin­zips in der laufenden Revi­sion des Sexu­al­straf­rechts womög­lich schei­tern könnte?

Auf mehrere Inter­pel­la­tionen erwi­derte der Bundesrat, dass kein Hand­lungs­be­darf bestehe. Es sei gemäss Bundesrat zwar wichtig, den Diskurs zu verfolgen und ernst zu nehmen; die geltende Gesetz­ge­bung sei aber ausrei­chend. Zudem wurde der Vorwurf erhoben, der Vorschlag des Konsens­prin­zips sei zu spät einge­bracht worden. Das stimmt nicht: Verbände und NGOs trugen diese Idee schon vor Jahren an die Politik heran.

Dennoch bringt die Revi­sion womög­lich auch längst hinfäl­lige Fort­schritte. Der starre Verge­wal­ti­gungs­be­griff von vagi­naler Pene­tra­tion mit dem Penis wird mit grosser Wahr­schein­lich­keit etwa ausgeweitet.

Grosse Ände­rungen sind dennoch nicht zu erwarten. Wird das Thema nicht prio­ritär genug behandelt?

Ich glaube eher, dass viel Halb­wissen kursiert, was letzt­end­lich dazu führt, dass der Hand­lungs­be­darf falsch einge­schätzt wird. Ich vermisse eine seriöse, fakten­ba­sierte, mythen­freie und öffent­liche Diskus­sion zur Reform des Sexu­al­straf­rechts. Es kursieren so viele Halb­wahr­heiten und falsche Vorstel­lungen. Immer wieder werden aus einzelnen Stati­stiken, etwa der Krimi­nal­sta­ti­stik, Schlüsse gezogen, ohne andere Stati­stiken und das grosse Dunkel­feld zu beachten. Dies ist schlicht falsch

Wird die Istanbul-Konven­tion mit der heutigen Rechts­lage von der Schweiz nicht hinrei­chend umgesetzt?

Ja, defi­nitiv. Artikel 36 der Konven­tion besagt, dass alle Staaten, welche die Konven­tion rati­fi­ziert haben, nicht einver­nehm­liche sexu­elle Hand­lungen unter Strafe stellen. Der Schweizer Staat behauptet, man erfülle diesen Artikel. Aber so, wie das momen­tane Sexu­al­straf­recht funk­tio­niert, gilt die sexu­elle Selbst­be­stim­mung des Menschen nur dann als schüt­zens­wert, wenn sie quasi mit der Faust vertei­digt wird.

Sie schreiben in der Medi­en­mit­tei­lung, der heutige Verge­wal­ti­gungs­tat­be­stand gehe von einem stereo­typen Sexu­al­de­likt aus, das in keiner Weise der Realität von sexu­ellen Über­griffen entspricht. Was ist damit gemeint? 

Viele Menschen stellen sich einen sexu­ellen Über­griff in der Nacht im dunklen Park vor, wenn sie das Wort „Verge­wal­ti­gung” hören. Die Frau wird ange­fallen, schafft es trotz massiver Gegen­wehr nicht, davon­zu­kommen, trägt Verlet­zungs­spuren davon, geht zuerst in die Notauf­nahme und dann zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Solche Fälle sind von unserem Sexu­al­straf­recht zum grossen Glück relativ gut geschützt – doch sie stellen eine Minder­heit dar.

Nicht nur in der Schweiz, sondern welt­weit kennen über 70% der Opfer den Täter. Meist sind zwischen­mensch­liche Bezie­hungen im Spiel. Es gibt auch sehr viele Fälle, die einver­nehm­lich anfangen und dann in eine Verge­wal­ti­gung über­gehen. In diesen Fällen nutzt der Täter das bestehende Vertrau­ens­ver­hältnis aus, die Frau ist über­for­dert und weiss nicht, wie ihr geschieht. Diese Fälle sind juri­stisch meist chancenlos.

Keine sexu­elle Praktik würde dem Konsens­prinzip zum Opfer fallen, wie Gegner*innen oft monieren, nur die Einver­nehm­lich­keit ist entschei­dend. Kampa­gnen­foto des Natio­nalen Fach­gre­miums gegen Gewalt an Frauen. © Dani­elle Liniger

Wie erklären Sie sich diese hohe Zahl an Sexu­al­de­likten in persön­li­chen Opfer-Täter-Beziehungen?

Ich bin keine Expertin für Forensik. Aber es ist sicher einfa­cher, mit einer bekannten Person sexuell über­griffig zu werden, als die fremde Frau im Park anzu­fallen. Wenn ein Vertrau­ens­ver­hältnis besteht, ist Macht­aus­übung viel einfa­cher, oftmals reicht psychi­scher Druck. Wir kennen zudem das Phänomen, dass sich die Täter solche Über­griffe auch mora­lisch relativ gut zurecht­legen können. Es ist dieser Mythos von „Sie sagte zwar Nein, meinte aber eigent­lich Ja”.

Kritiker*innen sagen, das Konsens­prinzip würde zu einer Flut falscher Beschul­di­gungen führen.

Es gibt Studien, die belegen, dass Frauen bei Falsch­be­schul­di­gungen, wenn über­haupt, dann eher von stereo­typen Verge­wal­ti­gungen spre­chen. Viel wich­tiger noch: Es gibt im Sexu­al­straf­rechts­be­reich stati­stisch nicht mehr Falsch­be­schul­di­gungen als bei allen anderen Delikten. Und „Im Zweifel für den Ange­klagten” gilt ja auch beim Konsens­prinzip immer noch. Zu sagen, es würde zu einer Flut falscher Beschul­di­gungen führen, fusst im Endef­fekt wiederum auf dem sexi­sti­schen Mythos der lügenden, rach­süch­tigen Frau.

Braucht es in erster Linie nicht mehr Präven­tion statt neue juri­sti­sche Mechanismen?

Natür­lich braucht es Präven­tion, aber das eine kommt nicht ohne das andere aus. Wir lehren Jugend­liche und Kinder, die sexu­elle Inte­grität anderer zu akzep­tieren. Gleich­zeitig erfahren sie aber, dass grenz­ver­let­zendes Verhalten ohne Gewalt­an­wen­dung in der momen­tanen juri­sti­schen Praxis gar nicht oder nicht ange­messen bestraft wird. Präven­tion braucht einen gesetz­li­chen Boden.

Wie soll es jetzt weitergehen?

Das ist noch offen. Für uns ist aber klar, dass wir dran­bleiben und unsere Stimmen auch weiterhin in die Politik und die Gesell­schaft einfliessen lassen. Wir wollen eine öffent­liche Debatte über die Revi­sion. Es reicht nicht, wenn nur hinter verschlos­senen Türen in der Rechts­kom­mis­sion disku­tiert wird.

Wir würden uns ausserdem wahn­sinnig wünschen, dass sich auch andere Grup­pie­rungen öffent­lich äussern. Es gibt noch viele Player in diesem Feld, die sich noch nicht geäus­sert haben, etwa Opferanwält*innen oder Staatsanwält*innen. Was die Debatte braucht, sind Fakten. Und Beharrlichkeit.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 8 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 676 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel