Erstmals in der Geschichte der Vereinten Nationen haben die Mitgliedstaaten Verhandlungen über ein internationales Abkommen zur Steuerpolitik aufgenommen. Der Entscheid für die UNO-Steuerkonvention fiel Ende 2023: Erfolgreich unterstützten die Staaten des Globalen Südens das Vorhaben nahezu geschlossen, während die Schweiz gemeinsam mit den anderen OECD-Ländern dagegen stimmte.
In den vergangenen Jahrzehnten war die OECD die wichtigste Akteurin in internationalen Steuerfragen. Zusammen mit der G20 regelte sie etwa die globale Mindeststeuer für Konzerne. Nun könnte aber das UNO-Steuerabkommen die Bedeutung der OECD-Steuerregeln, die den Globalen Süden systematisch benachteiligen, deutlich schwächen.
Everlyn Muendo begleitet die Verhandlungen in New York im Auftrag des Tax Justice Network Africa. Die afrikanische Ländergruppe setzt sich unter anderem dafür ein, gleichberechtigte Mitbestimmung für die Länder des Globalen Südens sicherzustellen, robuste Regeln zu schaffen, um unlautere Finanzflüsse zu bekämpfen und die Steuertransparenz weltweit zu stärken.
Das Lamm: Everlyn Muendo, Sie haben an den diesjährigen Verhandlungen zur UNO-Steuerkonvention teilgenommen. Was ist ihr Gesamteindruck?
Everlyn Muendo: Es gab eine sehr scharfe Kluft zwischen Globalem Süden und Norden. Die steuerpolitischen Interessensgegensätze zwischen den beiden Lagern wurden sehr deutlich.
Die Transparenz der Verhandlungen ist im Vergleich mit jenen bei der OECD bereits ein grosser Fortschritt. Mit welchen Standpunkten des Nordens haben die Länder des Südens die grössten Schwierigkeiten?
Erstens ist der Globale Norden der Meinung, dass die UNO-Rahmenkonvention die bereits bestehenden OECD-Beschlüsse lediglich ergänzen soll und diese nicht – wie sie es nennen – duplizieren sollte. Zweitens scheint der Norden die Rolle der UNO auf das reine „Capacity Building“ beschränken zu wollen – also darauf, den Aufbau von Infrastruktur in den Steuerbehörden des Südens und die Ausbildung entsprechender Expert*innen zu unterstützen.
Dahinter steckt aber eine tiefgreifende Fehleinschätzung der Situation des Globalen Südens: Die Vertreter*innen des Nordens scheinen zu glauben, dass wir nicht über ausreichende Kapazitäten verfügen und dass das der Grund für die heutigen Probleme in der internationalen Besteuerung sei.
„Das Problem sind nicht unsere mangelnden Kompetenzen, sondern die Regeln des jetzigen Systems.“
Was sagen Sie zu diesem Argument?
Dieses Argument ist unaufrichtig. Denn selbst während der Verhandlungen der letzten Jahre in der OECD, in denen die Länder des Globalen Südens theoretisch mitbestimmen konnten, haben diese erhebliche Bedenken geäussert: Sowohl am Inhalt der Mindeststeuer als auch daran, wie die Besteuerungsrechte an Länder mit grossen Absatzmärkten umverteilt werden sollen. Diese Bedenken wurden jedoch konstant ignoriert.
Das Problem sind nicht unsere mangelnden Kompetenzen, sondern die Regeln des jetztigen Systems. Wie ich in einem meiner Statements in den UNO-Verhandlungen sagte: „We cannot capacity build ourselves out of unfair taxing rules“. Egal, wie viel „Capacity Building“ wir betreiben – es wird uns nicht von den unfairen Steuerregeln befreien.
Die Länder des Globalen Nordens versuchen in den Verhandlungen also, die Fragen zu umgehen, die für den Süden entscheidend sind.
Ja. Mein Eindruck ist, dass sie nicht aufrichtig verhandeln. Das wäre aber ein grundlegendes Prinzip multilateraler Verhandlungen. Alles auf „Capacity Building“ beschränken zu wollen, wirkt hingegen nicht sehr vertrauensbildend. Der Steuerbericht des UNO-Generalsekretärs machte sehr deutlich, wie die mangelnde Inklusivität des heutigen Systems die internationale Steuerzusammenarbeit ineffektiv macht. Unsere Argumente sind also gut abgestützt, alles liegt auf dem Tisch.
Wie kann die zivilgesellschaftliche Steuergerechtigkeitsbewegung diese falschen Narrative der EU oder der Schweiz effektiv kontern?
Zunächst müssen wir dafür sorgen, dass anerkannt wird, dass die OECD-Lösungen der letzten zehn Jahre für eine bedeutende Gruppe von Menschen nicht funktionieren: Etwa der automatische Informationsaustausch von Bankkunden- und Konzerndaten oder die Mindeststeuer für multinationale Konzerne greifen insbesondere für die Länder des Globalen Südens nicht.
„Es geht darum, angemessene Bildungssysteme für alle aufzubauen oder um die Krise im öffentlichen Gesundheitswesen im Globalen Süden zu bekämpfen.“
Was gilt es zu tun?
Für die Entwicklungsfinanzierung sind Steuern enorm wichtig. Hinter den technischen Diskussionen über Gewinnverteilungsregeln oder wie Besteuerungsrechte aufzuteilen sind, versteckt sich die chronische Unterfinanzierung essenzieller Dinge: Es geht darum, angemessene Bildungssysteme für alle aufzubauen oder um die Krise im öffentlichen Gesundheitswesen im Globalen Süden zu bekämpfen. Es geht auch darum, mehr Ressourcen zur Finanzierung von Klimaschutzmassnahmen zu generieren.
Kurz: Es geht um Menschen, die Opfer der heutigen Steuerpolitik sind! Deshalb wollen wir diesen UNO-Prozess, der tatsächlich inklusiv ist, unbedingt vorantreiben.
Was bräuchte es in ressourcenreichen Ländern Afrikas, in denen die Rohstoffindustrie ein sehr wichtiger Wirtschaftszweig ist?
Für Afrika ist eine angemessene Besteuerung des Rohstoffsektors absolut zentral. Die meisten multinationalen Konzerne auf dem Kontinent sind in diesem Sektor tätig. Aber ihre Hauptsitze befinden sich natürlich in den Industrieländern des Nordens.
Dahinter steckt eine sehr komplizierte Geschichte, die weit in unsere Kolonialgeschichte zurückreicht: Vor ihrem Abzug bauten die Kolonialist*innen unsere Wirtschaft noch so um, dass sie auch nach der Unabhängigkeit noch deren grösste Profiteure blieben.
„Welches Land ist für gute Schokolade bekannt? Es ist nicht Ghana.“
Inwiefern?
Anstatt beispielsweise die Ernährungssicherheit zu verbessern, wurde weiterhin überwiegend Kaffee, Tee, Feldfrüchte und Rohstoffe produziert. Also Luxusgüter, die vor allem in Industrieländern gefragt sind. Die Rohstoffe kommen von uns, aber ihr Wert wird ausserhalb Afrikas abgeschöpft. Umgekehrt werden die Produkte, die im Norden auf der Grundlage unserer Rohstoffe hergestellt werden, dann wieder an uns verkauft. Wir profitieren von unseren eigenen Ressourcen nicht so, wie wir sollten.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Welches Land ist für gute Schokolade bekannt? Es ist nicht Ghana.
Dass es hingegen die Schweiz ist, ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass mehr als die Hälfte der in die Schweiz importierten Kakaobohnen aus Ghana stammt.
Mit schädlicher Steuerpolitik verlagern Konzerne Gewinne in der Höhe Hunderter Milliarden US-Dollar in den Norden. Selbst aus den tatsächlichen wirtschaftlichen Aktivitäten der ausländischen Unternehmen in Afrika erhalten wir nicht unseren gerechten Anteil an Steuern. Das System ist wirklich gegen uns gerichtet.
„Die Länder des Nordens sitzen in den Verhandlungen dank ihren Konzern-Hauptsitzen am viel längeren Hebel – und einige nutzen das schamlos aus!“
Es wird noch dauern, bis neue UNO-Regeln Früchte tragen werden. Gibt es auch ausserhalb dieses Prozesses derzeit Möglichkeiten für Verbesserungen?
Wir kämpfen auch für mehr bilaterale Doppelbesteuerungsabkommen auf der Grundlage des UNO-Modells, das viel besser ist als jenes der OECD. Aber damit waren wir bisher nicht sehr erfolgreich. Die Länder des Nordens sitzen in den Verhandlungen dank ihren Konzern-Hauptsitzen am viel längeren Hebel – und einige dieser Länder nutzen das schamlos aus!
Selbst wenn wir also über viel Know-How verfügen, geben wir am Ende immer noch viele unserer Steuerrechte ab. Solange wir auf Direktinvestitionen aus diesen Ländern bauen, um unsere wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, können sie uns steuerpolitisch unter Druck setzen. Dieser wirtschaftspolitische Ansatz führt in die Irre.
Was wäre denn ein möglicher Weg? Die kenianische Regierung hat ja jüngst mit finanzpolitischen Reformen enorme politische Spannungen im Land ausgelöst.
Bei den Protesten gegen das Finanzgesetz vom Juni 2024 ging es um viel mehr. Sie waren Ausdruck der Frustration hart arbeitender Kenianer*innen über die zunehmenden wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten.
Der Staat ist hoch verschuldet und die Regierung muss dringend mehr Mittel für den Schuldendienst und die wirtschaftliche Entwicklung aufbringen. Dazu führt sie neue Steuern ein, mit denen die Lebenshaltungskosten stark steigen: eine Ökosteuer, eine Kraftfahrzeugsteuer, eine erhöhte Strassenunterhaltsabgabe und die Abschaffung der Mehrwertsteuerbefreiung für bestimmte wichtige Konsumgüter. Das belastet tiefe Einkommen viel stärker als hohe.
„Kenia ist zu einem Experimentierfeld für Austeritätsmassnahmen geworden.“
Gleichzeitig ist der Service Public schwach. Der Grossteil der Einnahmen fliesst in den Schuldendienst – dieser kann mehr als 50 Prozent der Einnahmen verschlingen – und in die Korruption, die wichtige öffentliche Dienstleistungen verdrängt. So wurden etwa die Gehälter von Assistenzärzt*innen stark gekürzt. Zudem wurde ein neues Finanzierungsmodell für Universitäten eingeführt. Damit schossen die Studiengebühren in die Höhe.
Kenia ist zu einem Experimentierfeld für Austeritätsmassnahmen geworden – auch unter dem Einfluss des Internationalen Währungsfonds. Dabei zahlen einfache Kenianer*innen mehr und erhalten weniger!
Was sagen Sie denn zum in der Schweiz oft erhobenen Vorwurf, dass von zusätzlichen Steuereinnahmen in afrikanischen Ländern sowieso nur korrupte Politiker*innen profitieren würden?
Wie könnt ihr in der Schweiz über Korruption in Afrika sprechen, ohne einzugestehen, dass ihr die grössten Förderer*innen von Intransparenz und unlauteren Finanzströmen seid!
Im Ernst: Es braucht immer zwei für einen Tango. Ja, den korrupten afrikanischen Beamten gibt es. Aber wer besticht ihn? Viele Konzerne wie zum Beispiel Glencore. Dessen Korruptionsfälle sind sehr aufschlussreich.
Wieso wird die Verantwortung immer nur der einen Seite zugeschoben?
Wir müssen anerkennen, dass undurchsichtige Finanzplätze wie die Schweiz korrupten Leuten aus unseren Ländern als sichere Verstecke dienen. Deshalb wird doch ein Grossteil der Vermögen im Ausland gehalten. Niemand sagt: „Oh, ich werde mein Geld in Kenia verstecken.“ Nein! Es ist die Schweiz! Ihr seid aus gutem Grund berüchtigt!
Kommen wir zurück zur UNO. Im Februar stehen wohl die nächsten Verhandlungen an. Könnten sich die Positionen des Globalen Nordens verändern?
Nun, es gibt in dieser Beziehung zwei interessante Entwicklungen: Erstens haben sich die EU-Staaten bei der Abstimmung über die Eckwerte der Konvention im August enthalten, statt Nein zu stimmen, wie sie das bei den früheren Resolutionen getan haben. Ich glaube, das ist ein Zeichen dafür, dass sich die sehr starke Skepsis des Globalen Nordens gegenüber dem Prozess an sich etwas entschärft. Das könnte sich positiv auf die nächsten Verhandlungsrunden auswirken.
Zweitens könnte der Sieg Donald Trumps in den US-Präsidentschaftswahlen dazu führen, dass die USA sowohl OECD- wie auch UNO-Prozesse völlig blockiert. Bisher haben die Länder des Nordens immer gesagt, es brauche bei der UNO Entscheide im Konsens. Ich denke aber, dass sie diese Position angesichts der Entwicklungen in den USA jetzt anpassen müssen.
Worauf wollen Sie hinaus?
Wäre es nicht besser, sich mit einfachen Mehrheitsentscheiden zufriedenzugeben, auch wenn der Konsens das Ideal ist? Manchmal läuft es halt einfach nicht nach dem eigenen Ideal. Statt sich von einem einzigen Land oder einer kleinen Gruppe von Ländern aufhalten zu lassen, wäre es demokratischer, allen anderen zu erlauben – sei es aus dem globalen Norden oder Süden – vorwärtszumachen.
„Indem wir uns in der Steuerpolitik an die UNO wenden, können wir diese grundlegenden Herausforderungen angehen.“
Werden Entscheide im Konsens gefällt, haben die USA als wirtschaftlich stärkstes Land aber quasi eine Vetomacht. Da wäre es viel demokratischer, jedem Land in Mehrheitsentscheiden eine gleichberechtigte Stimme zu geben.
Wo sehen Sie auf dem afrikanischen Kontinent positive Entwicklungen, aus der ungerechten aktuellen Situation herauszukommen?
In verschiedenen afrikanischen Ländern fordern die Menschen mehr Rechenschaftspflicht von Spitzenpolitiker*innen und Wirtschaftsführer*innen. Vor allem in Westafrika, zum Beispiel im Senegal. Die Aufstände, die wir dort erleben, sind bis zu einem gewissen Grad auch ein extremer Ausdruck des Wunschs nach Selbstbestimmung in Gesellschaften, die wir immer noch als postkolonial bezeichnen können. Nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich.
Egal ob wir uns den Handel, die Verschuldung, die Steuern oder was auch immer anschauen: Wir mögen zwar völkerrechtlich anerkannte Staaten mit politischer Souveränität sein, von wirtschaftlicher Souveränität sind wir aber weit entfernt. Indem wir uns in der Steuerpolitik an die UNO wenden, können wir diese grundlegenden Herausforderungen angehen. Denn Souveränität in der Besteuerung ist ein sehr wichtiger Teil wirtschaftlicher Souveränität.
Dieses Interview erschien zuvor im Magazin „Global“.