Thierry*, Gampelen (BE)
Seit etwas mehr als einer Woche bin ich hier in Gampelen. Zuvor habe ich zwei Jahre lang in Bern und Muri gelebt. Als mein negativer Entscheid kam, hat man mich vorgewarnt: Vom Bahnhof aus müsse man eine halbe Stunde gehen, um das Camp in Gampelen zu erreichen. Ich hatte einen Rucksack und einen grossen Koffer dabei.
Im Camp selbst ist es ganz okay, so gab es etwa keine Schlägerei, seit ich hier bin. Meistens ist es ruhig und im Moment sind gerade nicht so viele Leute hier. Im Zentrum in Muri, wo ich zuvor lebte, gab es viele Familien, hier in Gampelen habe ich bisher nur Männer gesehen.
Die Reinigungsarbeiten, die wir im Camp verrichten müssen, sind gut organisiert. Aber die Beschäftigung… es gibt nichts zu tun. Man kocht, man isst, man schläft. Es gibt nur einen Töggelikasten und für diejenigen, die lesen können, hat es ein paar Bücher, aber die meisten sind auf Deutsch. Um mich zu beschäftigen, bin ich oft am Deutsch lernen, auf meinem Mobiltelefon. Zuvor habe ich viel gearbeitet. Ich reinigte Züge bei der SBB. 21 Monate lang hatte ich diesen Job, er wurde mir vom Sozialdienst vermittelt. Jetzt wurde ich dazu verdammt, aufzuhören. Ich darf nicht arbeiten, nicht zur Schule gehen, weiss nicht, was ich tun soll.
Um das wenige Geld zu erhalten, das wir kriegen, müssen wir hier im Camp sein und auf einer Liste unterschreiben. Das Geld kommt immer am Donnerstag, es sind zehn Franken pro Tag. Damit kaufe ich dann Öl, Reis und andere Lebensmittel. Gemüse und Früchte kriegen wir ab und zu, ich glaube, am Montag. Beim Einkaufen schaue ich immer auf die Preise, da das Budget sehr knapp ist. Meistens koche ich alleine, denn wir haben alle unterschiedliche Essgewohnheiten. In Burundi, wo ich herkomme, kennen wir andere Gerichte als im Sudan oder in Algerien.
Der negative Asylentscheid kam für mich überraschend, ich hatte wirklich nicht damit gerechnet. Und ich weiss nicht, was ich jetzt tun soll. Ich sitze fest. Zurückgehen ist unmöglich. Weitergehen in ein anderes Land ist auch fast unmöglich. Und hier habe ich Angst, dass die Polizei mich mit Gewalt holt. Für mich ist es schlimm, dass ich nicht weiss, wie lange es dauern wird. Wie lange ich hier warten muss. Warten. Warten, ohne zu wissen, was als Nächstes kommt. Wie lange wird es dauern, zwei Monate, drei Monate, drei Jahre?
In Wirklichkeit ist es hier wie in einem Gefängnis. Es ist ein offenes Gefängnis: Weil man frei ist, rauszugehen und zurückzukehren.
Aufgezeichnet am 9.10.2024 von Ayse Turcan
„Asylsuchende, die einen rechtskräftigen negativen Asylentscheid erhalten haben, müssen die Schweiz verlassen. Sie werden bis zu ihrer Ausreise in kantonalen Rückkehrzentren untergebracht“, heisst es auf der Website der bernischen Gesundheits‑, Sozial- und Integrationsdirektion ganz nüchtern. Was dabei nicht erwähnt wird: Die Menschen, die in diese „Zentren“ verfrachtet werden, wollen in der Regel nicht ausreisen. Personen aus Ländern, mit denen kein Rückübernahmeabkommen besteht, kann die Schweiz oft nicht oder nicht einfach ausschaffen. Sie leben zum Teil jahrelang in diesen Unterkünften – ohne Beschäftigungsmöglichkeiten, ohne Perspektiven. Den abgewiesenen Asylsuchenden soll das Leben so unerträglich gemacht werden, dass sie freiwillig ausreisen – ungeachtet der Tatsache, dass sich die jeweiligen Fluchtgründe nicht einfach in Luft auflösen. Der Begriff „Rückkehrzentrum“ verschleiert die Lebensrealitäten der Unterbringungen, die von den Bewohner*innen oft „Camps“ genannt werden.
Die sogenannten Rückkehrzentren (RZB) des Kantons Bern haben einen schlechten Ruf: Einige liegen räumlich isoliert auf dem Land wie das RZB Gampelen oder in einem Bunker unter der Erde wie das RZB Bern-Brünnen – dessen Betrieb ursprünglich befristet sein sollte. 2021 wurden die Zentren von der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter überprüft und kritisiert. Die Bewohner*innen der RZB im Kanton Bern, die von der ORS Service AG betrieben werden, kriegen Nothilfe – aktuell zehn Franken am Tag. Um dieses Geld zu erhalten, müssen sie teils täglich ihre Anwesenheit mit einer Unterschrift bestätigen. Es ist eine der Methoden, mit denen die Asylsuchenden kontrolliert werden.
Mar-Zaid*, Gampelen (BE)
Ich bin seit mehr als fünf Jahren in der Schweiz und seit zweieinhalb Jahren hier im Camp in Gampelen. In dieser Zeit habe ich viele Menschen kommen und gehen sehen. Einige sind schon seit Jahren hier, viele bleiben auch nicht so lange. Einige verschwinden von selbst, wohin, weiss ich nicht. Andere werden abgeholt. Kürzlich haben sie zwei Leute aus Afghanistan geholt und ausgeschafft, die seit zehn Jahren in der Schweiz waren. Es kamen sehr viele Polizisten, das hat vielen Angst gemacht.
Das Camp ist total isoliert. Vorher war ich mal eine Zeit lang in einem Camp in Biel. In einer Stadt oder in der Nähe einer Stadt zu sein, das ist etwas besser. Manchmal ist das Camp hier in Gampelen übervoll, manchmal ist es so wie jetzt, mit wenig Leuten. Es gibt verschiedene Gebäude, ein zentrales, und weitere kleinere. In das grössere Gebäude bringen sie immer die Neuen. Und dann schauen sie sich die Leute genau an: Sind sie gehorsam? Machen sie sauber? Sind sie jeden Morgen hier? So schauen sie zu, ein paar Monate lang, ich weiss nicht, wie lange. Dann ändern sie vielleicht mal die Zusammensetzung, dann musst du in ein anderes Gebäude ziehen.
Irgendwann haben sie die Regeln geändert. Vorher gab es Leute, die andere Lösungen hatten, andere Orte zum Schlafen. Die nur am Donnerstag kamen, wenn jeweils das Geld ausbezahlt wird. Dann haben die Leute von der ORS gesagt: „Schau, du musst kommen. Du musst jeden Tag unterschreiben.“ Ich selber schlafe immer dort. Das mit dem Unterschreiben ist wichtig, damit sie die Kontrolle haben.
Für mich ist das Camp wie ein Gefängnis. Die Atmosphäre ist scheisse. Wenn ich im Camp bin, muss ich auf Rechte verzichten. Ich muss auf meine Freiheit verzichten.
Man sollte keinen Lärm machen. Man sollte nicht ans Telefon gehen, wenn man mit anderen Personen zusammen in einem Raum ist. Da ist aber trotzdem immer jemand, der hustet, jemand, der telefoniert. Also schläfst du nicht gut. Du hast kein richtiges Leben. Du bist nicht derjenige, der entscheiden kann.
Hier in Gampelen gibt es nichts, nicht einmal der Töggelikasten funktioniert im Moment. Man kann ihn nur anschauen. Das Internet ist alles für die Leute. Früher war das Wlan oft überlastet, weil so viele Leute gleichzeitig ins Netz wollten. Jetzt ist es besser, sie haben die Kapazität erhöht.
Wenn ich in Gampelen bin, werde ich katalogisiert. Wenn ich aber an einem anderen Ort bin, zum Beispiel hier an den Treffen in Ins**, werde ich zum Menschen. Oder wenn ich mit dem Zug fahre: Dann weiss niemand, wer ich bin.
Aufgezeichnet am 16.10.2024 von Ayse Turcan
** Einmal pro Woche treffen sich in nahegelegenen Dorf Ins Menschen aus dem Camp mit solidarischen Personen aus der Umgebung.
Tausende Menschen befinden sich in der Schweiz in Asylverfahren und sind in verschiedenen Arten von Unterkünften untergebracht. Ein grosser Teil der Bevölkerung hört von diesen Orten nur dann, wenn es zu Konflikten kommt oder wenn Missstände aufgedeckt werden. Das Lamm will dem etwas entgegensetzen: In der Reihe „Stimmen aus den Camps“ stehen die Menschen in den Asylunterkünften im Zentrum. Dabei sollen insbesondere diejenigen zu Wort kommen, deren Asylgesuch abgelehnt wurde. Sie leben in sogenannten Rückkehrzentren oder Camps, wie sie sie selbst oft nennen. Die Beiträge stellen jeweils ein Thema in den Fokus und lassen die Bewohner*innen selbst zu Wort kommen.
Nadim*, Bern-Brünnen
Das Camp, in dem ich wohne, liegt in der Nähe des Einkaufszentrums Westside. Auf dem Areal von Coop hat es einen Bunker. Eine Rampe führt mehrere Meter unter den Boden, dort ist unser Camp.
Im Moment wohnen vielleicht gerade achtzig Personen dort. Viele sind aus Afrika, es hat aber auch Menschen aus Kurdistan und aus anderen Ländern.
Die Gemeinschaftsräume sind klein, es hat ein paar WCs und Duschen, eine Küche. Wir sind unter der Erde, es gibt also kein Tageslicht, keine Fenster, keine Verbindung nach draussen. Wir wissen nicht, wann Tag und wann Nacht ist. Im Sommer ist es heiss und feucht, dann dampfen wir richtig.
Die Luft da unten ist nicht gut. Ich brauche aber viel Sauerstoff zum Schlafen, weil ich krank bin; das hat mein Arzt gesagt. Deswegen schlafe ich, wenn es das Wetter erlaubt, oft draussen. In der Nähe der Rampe habe ich eine alte Matratze. Morgens früh um fünf oder sechs Uhr stehe ich dann auf, gehe nach unten in den Bunker, um mich zu waschen und um zu frühstücken. Für die Reinigung der Räume sind wir, die dort wohnen, selbst zuständig. Aber das funktioniert nicht so gut, alle wollen das Putzen schnell hinter sich bringen.
Bevor ich den negativen Entscheid bekommen habe, habe ich in einem Studio gewohnt, das war gut. Dann kam der Entscheid und sie sagten, gib alles zurück. Sie sagten mir: wir schicken dich nicht zurück in den Iran. Sie lassen mich aber auch nicht in andere Länder Europas gehen. Ich bin also blockiert. Ich habe mein Schicksal nicht selbst in den Händen.
Ich finde, das Camp in Brünnen ist eigentlich unbewohnbar, das ist kein richtiges Leben dort unten. Die Leute müssen wissen, dass es diesen Platz, diesen Ort in der Schweiz gibt. Die Leute müssen davon wissen und versuchen, ihn zu schliessen. Dieser Ort ist ein Verbrechen.
Aufgezeichnet am 4.9.2024 von Ayse Turcan
*Name von der Redaktion geändert.
Die Reihe „Stimmen aus den Camps“ wird finanziell unterstützt von Migros Engagement („ici. gemeinsam hier“), von der Stiftung Mercator Schweiz, von der Landis & Gyr Stiftung und von der Stiftung Corymbo.
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