“Das ist kein rich­tiges Leben”

Wer nach einem nega­tiven Asyl­ent­scheid in einem soge­nannten Rück­kehr­zen­trum unter­ge­bracht ist, erlebt Isola­tion und Perspek­tiv­lo­sig­keit. Drei Betrof­fene berichten von ihrem Leben in einem System, das sie nicht leben lässt. 
Wie in einem kaputten Töggelikasten: Leben in Nothilfe-Camps. (Bild: Alain Schwerzmann)

Thierry*, Gampelen (BE)

Seit etwas mehr als einer Woche bin ich hier in Gampelen. Zuvor habe ich zwei Jahre lang in Bern und Muri gelebt. Als mein nega­tiver Entscheid kam, hat man mich vorge­warnt: Vom Bahnhof aus müsse man eine halbe Stunde gehen, um das Camp in Gampelen zu errei­chen. Ich hatte einen Ruck­sack und einen grossen Koffer dabei. 

„Ich darf nicht arbeiten, nicht zur Schule gehen, weiss nicht, was ich tun soll.“

Thierry, Asyl­su­chender Kanton Bern

Im Camp selbst ist es ganz okay, so gab es etwa keine Schlä­gerei, seit ich hier bin. Meistens ist es ruhig und im Moment sind gerade nicht so viele Leute hier. Im Zentrum in Muri, wo ich zuvor lebte, gab es viele Fami­lien, hier in Gampelen habe ich bisher nur Männer gesehen.

Die Reini­gungs­ar­beiten, die wir im Camp verrichten müssen, sind gut orga­ni­siert. Aber die Beschäf­ti­gung… es gibt nichts zu tun. Man kocht, man isst, man schläft. Es gibt nur einen Tögge­li­ka­sten und für dieje­nigen, die lesen können, hat es ein paar Bücher, aber die meisten sind auf Deutsch. Um mich zu beschäf­tigen, bin ich oft am Deutsch lernen, auf meinem Mobil­te­lefon. Zuvor habe ich viel gear­beitet. Ich reinigte Züge bei der SBB. 21 Monate lang hatte ich diesen Job, er wurde mir vom Sozi­al­dienst vermit­telt. Jetzt wurde ich dazu verdammt, aufzu­hören. Ich darf nicht arbeiten, nicht zur Schule gehen, weiss nicht, was ich tun soll.

„In Wirk­lich­keit ist es hier wie in einem Gefängnis.“ 

Thierry, Asyl­su­chender Kanton Bern

Um das wenige Geld zu erhalten, das wir kriegen, müssen wir hier im Camp sein und auf einer Liste unter­schreiben. Das Geld kommt immer am Donnerstag, es sind zehn Franken pro Tag. Damit kaufe ich dann Öl, Reis und andere Lebens­mittel. Gemüse und Früchte kriegen wir ab und zu, ich glaube, am Montag. Beim Einkaufen schaue ich immer auf die Preise, da das Budget sehr knapp ist. Meistens koche ich alleine, denn wir haben alle unter­schied­liche Essge­wohn­heiten. In Burundi, wo ich herkomme, kennen wir andere Gerichte als im Sudan oder in Algerien.

Der nega­tive Asyl­ent­scheid kam für mich über­ra­schend, ich hatte wirk­lich nicht damit gerechnet. Und ich weiss nicht, was ich jetzt tun soll. Ich sitze fest. Zurück­gehen ist unmög­lich. Weiter­gehen in ein anderes Land ist auch fast unmög­lich. Und hier habe ich Angst, dass die Polizei mich mit Gewalt holt. Für mich ist es schlimm, dass ich nicht weiss, wie lange es dauern wird. Wie lange ich hier warten muss. Warten. Warten, ohne zu wissen, was als Näch­stes kommt. Wie lange wird es dauern, zwei Monate, drei Monate, drei Jahre?

In Wirk­lich­keit ist es hier wie in einem Gefängnis. Es ist ein offenes Gefängnis: Weil man frei ist, raus­zu­gehen und zurückzukehren.

Aufge­zeichnet am 9.10.2024 von Ayse Turcan

„Asyl­su­chende, die einen rechts­kräf­tigen nega­tiven Asyl­ent­scheid erhalten haben, müssen die Schweiz verlassen. Sie werden bis zu ihrer Ausreise in kanto­nalen Rück­kehr­zen­tren unter­ge­bracht“, heisst es auf der Website der berni­schen Gesundheits‑, Sozial- und Inte­gra­ti­ons­di­rek­tion ganz nüch­tern. Was dabei nicht erwähnt wird: Die Menschen, die in diese „Zentren“ verfrachtet werden, wollen in der Regel nicht ausreisen. Personen aus Ländern, mit denen kein Rück­über­nah­me­ab­kommen besteht, kann die Schweiz oft nicht oder nicht einfach ausschaffen. Sie leben zum Teil jahre­lang in diesen Unter­künften – ohne Beschäf­ti­gungs­mög­lich­keiten, ohne Perspek­tiven. Den abge­wie­senen Asyl­su­chenden soll das Leben so uner­träg­lich gemacht werden, dass sie frei­willig ausreisen – unge­achtet der Tatsache, dass sich die jewei­ligen Flucht­gründe nicht einfach in Luft auflösen. Der Begriff „Rück­kehr­zen­trum“ verschleiert die Lebens­rea­li­täten der Unter­brin­gungen, die von den Bewohner*innen oft „Camps“ genannt werden.

Die soge­nannten Rück­kehr­zen­tren (RZB) des Kantons Bern haben einen schlechten Ruf: Einige liegen räum­lich isoliert auf dem Land wie das RZB Gampelen oder in einem Bunker unter der Erde wie das RZB Bern-Brünnen – dessen Betrieb ursprüng­lich befri­stet sein sollte. 2021 wurden die Zentren von der Natio­nalen Kommis­sion zur Verhü­tung von Folter über­prüft und kriti­siert. Die Bewohner*innen der RZB im Kanton Bern, die von der ORS Service AG betrieben werden, kriegen Nothilfe – aktuell zehn Franken am Tag. Um dieses Geld zu erhalten, müssen sie teils täglich ihre Anwe­sen­heit mit einer Unter­schrift bestä­tigen. Es ist eine der Methoden, mit denen die Asyl­su­chenden kontrol­liert werden.

Mar-Zaid*, Gampelen (BE)

Ich bin seit mehr als fünf Jahren in der Schweiz und seit zwei­ein­halb Jahren hier im Camp in Gampelen. In dieser Zeit habe ich viele Menschen kommen und gehen sehen. Einige sind schon seit Jahren hier, viele bleiben auch nicht so lange. Einige verschwinden von selbst, wohin, weiss ich nicht. Andere werden abge­holt. Kürz­lich haben sie zwei Leute aus Afgha­ni­stan geholt und ausge­schafft, die seit zehn Jahren in der Schweiz waren. Es kamen sehr viele Poli­zi­sten, das hat vielen Angst gemacht.

„Wenn ich im Camp bin, muss ich auf Rechte verzichten.“

Mar-Zaid, Asyl­su­chender Kanton Bern

Das Camp ist total isoliert. Vorher war ich mal eine Zeit lang in einem Camp in Biel. In einer Stadt oder in der Nähe einer Stadt zu sein, das ist etwas besser. Manchmal ist das Camp hier in Gampelen über­voll, manchmal ist es so wie jetzt, mit wenig Leuten. Es gibt verschie­dene Gebäude, ein zentrales, und weitere klei­nere. In das grös­sere Gebäude bringen sie immer die Neuen. Und dann schauen sie sich die Leute genau an: Sind sie gehorsam? Machen sie sauber? Sind sie jeden Morgen hier? So schauen sie zu, ein paar Monate lang, ich weiss nicht, wie lange. Dann ändern sie viel­leicht mal die Zusam­men­set­zung, dann musst du in ein anderes Gebäude ziehen.

Irgend­wann haben sie die Regeln geän­dert. Vorher gab es Leute, die andere Lösungen hatten, andere Orte zum Schlafen. Die nur am Donnerstag kamen, wenn jeweils das Geld ausbe­zahlt wird. Dann haben die Leute von der ORS gesagt: „Schau, du musst kommen. Du musst jeden Tag unter­schreiben.“ Ich selber schlafe immer dort. Das mit dem Unter­schreiben ist wichtig, damit sie die Kontrolle haben. 

„Wenn ich in Gampelen bin, bedeutet es, dass ich kata­lo­gi­siert werde.“

Mar-Zaid, Asyl­su­chender Kanton Bern

Für mich ist das Camp wie ein Gefängnis. Die Atmo­sphäre ist scheisse. Wenn ich im Camp bin, muss ich auf Rechte verzichten. Ich muss auf meine Frei­heit verzichten. 

Man sollte keinen Lärm machen. Man sollte nicht ans Telefon gehen, wenn man mit anderen Personen zusammen in einem Raum ist. Da ist aber trotzdem immer jemand, der hustet, jemand, der tele­fo­niert. Also schläfst du nicht gut. Du hast kein rich­tiges Leben. Du bist nicht derje­nige, der entscheiden kann.

Hier in Gampelen gibt es nichts, nicht einmal der Tögge­li­ka­sten funk­tio­niert im Moment. Man kann ihn nur anschauen. Das Internet ist alles für die Leute. Früher war das Wlan oft über­la­stet, weil so viele Leute gleich­zeitig ins Netz wollten. Jetzt ist es besser, sie haben die Kapa­zität erhöht.

Wenn ich in Gampelen bin, werde ich kata­lo­gi­siert. Wenn ich aber an einem anderen Ort bin, zum Beispiel hier an den Treffen in Ins**, werde ich zum Menschen. Oder wenn ich mit dem Zug fahre: Dann weiss niemand, wer ich bin.

Aufge­zeichnet am 16.10.2024 von Ayse Turcan

** Einmal pro Woche treffen sich in nahe­ge­le­genen Dorf Ins Menschen aus dem Camp mit soli­da­ri­schen Personen aus der Umgebung. 

Tausende Menschen befinden sich in der Schweiz in Asyl­ver­fahren und sind in verschie­denen Arten von Unter­künften unter­ge­bracht. Ein grosser Teil der Bevöl­ke­rung hört von diesen Orten nur dann, wenn es zu Konflikten kommt oder wenn Miss­stände aufge­deckt werden. Das Lamm will dem etwas entge­gen­setzen: In der Reihe „Stimmen aus den Camps“ stehen die Menschen in den Asyl­un­ter­künften im Zentrum. Dabei sollen insbe­son­dere dieje­nigen zu Wort kommen, deren Asyl­ge­such abge­lehnt wurde. Sie leben in soge­nannten Rück­kehr­zen­tren oder Camps, wie sie sie selbst oft nennen. Die Beiträge stellen jeweils ein Thema in den Fokus und lassen die Bewohner*innen selbst zu Wort kommen. 

Nadim*, Bern-Brünnen

Das Camp, in dem ich wohne, liegt in der Nähe des Einkaufs­zen­trums West­side. Auf dem Areal von Coop hat es einen Bunker. Eine Rampe führt mehrere Meter unter den Boden, dort ist unser Camp.

„Wir sind unter der Erde, es gibt also kein Tages­licht, keine Fenster, keine Verbin­dung nach draussen.“

Nadim, Asyl­su­chender Kanton Bern

Im Moment wohnen viel­leicht gerade achtzig Personen dort. Viele sind aus Afrika, es hat aber auch Menschen aus Kurdi­stan und aus anderen Ländern.

Die Gemein­schafts­räume sind klein, es hat ein paar WCs und Duschen, eine Küche. Wir sind unter der Erde, es gibt also kein Tages­licht, keine Fenster, keine Verbin­dung nach draussen. Wir wissen nicht, wann Tag und wann Nacht ist. Im Sommer ist es heiss und feucht, dann dampfen wir richtig.

Die Luft da unten ist nicht gut. Ich brauche aber viel Sauer­stoff zum Schlafen, weil ich krank bin; das hat mein Arzt gesagt. Deswegen schlafe ich, wenn es das Wetter erlaubt, oft draussen. In der Nähe der Rampe habe ich eine alte Matratze. Morgens früh um fünf oder sechs Uhr stehe ich dann auf, gehe nach unten in den Bunker, um mich zu waschen und um zu früh­stücken. Für die Reini­gung der Räume sind wir, die dort wohnen, selbst zuständig. Aber das funk­tio­niert nicht so gut, alle wollen das Putzen schnell hinter sich bringen. 

„Das Camp in Brünnen ist eigent­lich unbe­wohnbar, das ist kein rich­tiges Leben dort unten.“

Nadim, Asyl­su­chender Kanton Bern

Bevor ich den nega­tiven Entscheid bekommen habe, habe ich in einem Studio gewohnt, das war gut. Dann kam der Entscheid und sie sagten, gib alles zurück. Sie sagten mir: wir schicken dich nicht zurück in den Iran. Sie lassen mich aber auch nicht in andere Länder Europas gehen. Ich bin also blockiert. Ich habe mein Schicksal nicht selbst in den Händen.

Ich finde, das Camp in Brünnen ist eigent­lich unbe­wohnbar, das ist kein rich­tiges Leben dort unten. Die Leute müssen wissen, dass es diesen Platz, diesen Ort in der Schweiz gibt. Die Leute müssen davon wissen und versu­chen, ihn zu schliessen. Dieser Ort ist ein Verbrechen.

Aufge­zeichnet am 4.9.2024 von Ayse Turcan

*Name von der Redak­tion geändert.

Die Reihe „Stimmen aus den Camps“ wird finan­ziell unter­stützt von Migros Enga­ge­ment („ici. gemeinsam hier“), von der Stif­tung Mercator Schweiz, von der Landis & Gyr Stif­tung und von der Stif­tung Corymbo.


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