Sie bekommt es einfach nicht hin, die Bundesverwaltung mit dem Rechnen. Bereits zum zweiten Mal innert kurzer Zeit zeigen Recherchen von das Lamm, wie das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) mit dessen Vorsteherin, SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Zahlen rund um die Luftfahrtbranche irreführend darstellt.
Zunächst kommunizierte das UVEK, die Flugbranche müsse vor allem deshalb gerettet werden, weil sie 190’000 Angestellte beschäftige. Eine Aussage, die sich an der Grenze zur Lüge bewegt. Die Zahl kommt nur zustande, weil die Barista und der Podologe des Flugbegleiters mitgerechnet werden, was in der folgenden medialen Berichterstattung aber komplett vergessen ging. Bis heute wird die Fantasiezahl von 190’000 von den Medien wiedergegeben. Obwohl das Lamm immer wieder darauf aufmerksam gemacht hat, wie irreführend sie ist.
Immerhin: An der Pressekonferenz am 29. April berief sich Sommaruga nicht mehr auf die Anzahl Arbeitsplätze, sondern auf die Exportleistung der Flugbranche, um ihre Rettung zu rechtfertigen. Ein Drittel der Exportgüter würde über die Luftfahrt ins Ausland gelangen. “Bei der Luftfahrtindustrie handelt es sich um eine volkswirtschaftlich kritische Infrastruktur”, meinte der Bundesrat dazu. Er rettet die Flugbranche also nicht etwa wegen den Sommerurlauber*innen auf Thailand, sondern wegen den Exporten, so die Botschaft.
Aber auch diese Begründung entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als krass irreführend. Dieser Drittel der Exportgüter bezieht sich auf den Wert, und nicht das Volumen, der Luftexporte. Mengenmässig wird also gar nicht besonders viel exportiert.* Aber es geht noch viel dreister: Tief in der Statistik offenbart sich, dass 86% des aufgeführten Exportvolumens auf das Kerosin, das die Flugzeuge zum Fliegen brauchen, entfällt. Die Schweiz exportiert per Flugfracht also vor allem CO2-Emissionen in die Atmosphäre.
Und es geht noch weiter. In der dringlichen Botschaft des Bundesrats zur Änderung des Luftfahrtgesetzes angesichts der COVID-19-Krise führt der Bundesrat noch eine dritte Zahl ins Feld: Die Abwicklung von Luftfracht sei für rund 70% der Schweizer Unternehmen eine wichtige Voraussetzung für ihre Geschäft. Wenn das tatsächlich stimmen würde, wäre das ein Totschlagargument gegen alle Klimanörgler*innen. Aber auch diese Zahl – Sie werden es erwartet haben – stimmt so nicht. Wie soll sie auch? Masseure, Friseurinnen, Automechaniker, Schreinerinnen, Treuhänder, Bäuerinnen – sie alle brauchen überhaupt keine oder sehr wenig Luftfracht. Wie kommt die Zahl also zustande?
Sie scheint aus einer Studie der Hochschule St. Gallen zu stammen; zumindest stimmt der Wortlaut der Botschaft mit der Zusammenfassung der Studie fast wortwörtlich überein. Für die Studie wurde 2009 eine schweizweite Befragung von Empfänger*innen und Versender*innen von Luftfracht sowie von Logistikdienstleistern durchgeführt.
Sie richtete sich also praktisch nur an Firmen, die sehr direkt mit Luftfracht zu tun haben – und keinesfalls an die ganze Schweizer Wirtschaft. Insgesamt wurden 2’781 Personen angeschrieben; 217 von ihnen nahmen schliesslich an der Onlineumfrage teil, was einer ernüchternden Rücklaufquote von 7.8% entspricht. Zwar sind diese 217 Unternehmen für fast 10% aller Schweizer Exporte zuständig, aber bei rund 600’000 registrierten Firmen kann man kaum von einem repräsentativen Resultat für die Schweizer Volkswirtschaft sprechen. Und schon gar nicht von Systemrelevanz.
Unvermögen?
Ist das nun Unvermögen, ein statistischer Blindflug der Bundesverwaltung? Schwer vorstellbar. Vielmehr befindet sich das UVEK in einem Zielkonflikt. Das gleiche Departement, in dem das Bundesamt für Umwelt (BAFU) die Ratifizierung des Pariser Abkommens begleitet und für die Umsetzung der Klimaziele verantwortlich ist, soll jetzt die darbende Flugbranche retten.
Um den Zielkonflikt aufzulösen, rechnet die Bundesverwaltung den Flugverkehr schön. Überraschend ist dabei, dass bis jetzt die grosse politische Empörung über die Zahlenklauberei ausblieb. Lediglich die nimmermüden Klimastreikenden wehren sich auf der Strasse – und werden abgeführt. Von den Parlamentarier*innen, die aufgrund der irreführenden Zahlen gerade einen Milliardenkredit gesprochen haben, hört man hingegen praktisch nichts.
Eigentlich ist es klar: Die exzessive Mobilität durch immer billigere Flügen ist nicht vereinbar mit dem Kampf gegen die Klimaerwärmung. Airlines sind aber auch wirtschaftlich nicht nachhaltig aufgestellt. Corona hat gezeigt, dass selbst bei gut geführten Airlines der gesamte Jahresprofit nach nur gerade zwei bis drei Monaten verpufft.
Während in der ganzen Schweiz Restaurants und Bars schliessen müssen, weil der Bundesrat nicht in das private Mietverhältnis eingreifen will, rettet das gleiche Gremium eine Branche, die über ihre Verhältnisse lebt. Dass das Parlament die Milliardenhilfe an die Swiss ohne verbindliche Klimabestimmungen durchgewinkt hat, zeigt schmerzhaft auf, wie inhaltsleer die grünen Anstriche der Christdemokrat*innen und des Freisinns wirklich sind.
Wie problematisch die Kredite wirklich sind, wird sich erst in naher Zukunft zeigen
Bundesrat und Parlament schaufeln sich mit den Milliardenkrediten ihr klimapolitisches Grab: Aufgrund der tiefen Gewinnmargen in der Zivilluftfahrt, besonders bei Kurzstreckenflügen, werden die Airlines ihre Kredite nur dann zurückzahlen können, wenn sie nach der Pandemie den Flugverkehr wieder auf das alte Niveau hochfahren, oder gar noch höher. Ein eklatanter Widerspruch zu den erklärten Klimazielen.
Eigentlich hätte die zum Teil selbstverschuldete wirtschaftliche Misere der Flugbranche den Ausgangspunkt für einen nachhaltigeren Flugverkehr und für die Umsetzung einer Vision für die Zukunft der Schweiz bilden können. Das Gegenteil ist eingetreten: Desillusionierung. Und die Erkenntnis: Wenn es um Zahlen geht, ist unsere Regierung überraschend kreativ; wenn es um unsere Zukunft geht, überhaupt nicht.
* Anmerkung 16. Mai 14:30: In der ersten Fassung dieses Texts stand an dieser Stelle noch ergänzend: „ein Bruchteil des jetzigen Flugverkehrs würde dafür ausreichen.“
Wir haben diesen Satz gelöscht, nachdem wir unsere Berechnungen aufgrund eines Hinweises aus der Leser*innenschaft überarbeitet haben. Wir sind zum Schluss gekommen, dass wir nicht mehr beurteilen können, wie viele Flüge tatsächlich nötig wären, um die anfallende Flugfracht zu bewältigen.
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