Am 18. Oktober 2021, dem zweiten Jahrestag des Beginns der Oktoberrevolte in Chile, debattiert der Verfassungskonvent zum ersten Mal über den Inhalt der neuen Verfassung. Im Herzen der Veränderungen sind Perspektiven der Plurinationalität, der Ökologie und des Feminismus. Es ist der erste verfassungsgebende Prozess weltweit, in dessen zentralem Organ gleich viele Männer und Frauen sitzen, und die erste Institution des Landes mit Quoten für die indigenen Völker.
Auch wir, die Coordinadora feminista 8M, sind mit der Delegierten Alondra Carillo im Konvent vertreten. Sie wird in der Arbeitskommission 1 über die zukünftige Staats- und Regierungsform Chiles debattieren und erste Vorlagen an den Konvent zur Abstimmung übergeben. Für uns als soziale Bewegung ist das eine enorme Herausforderung. Bislang waren wir darauf konzentriert, soziale Forderungen aufzustellen, heute sind wir daran beteiligt, den Kern des zukünftigen politischen Systems neu zu definieren.
In diesem Prozess werden die historisch ausgeschlossenen Gruppen eine Stimme erhalten, Initiativen aufstellen und über wichtige Themen wie Grundrechte und politische Teilnahme entscheiden können. In einem Klima der politischen Polarisierung werden die politischen Kräfte von unten eine der kraftvollsten Sprüche der Revolte wahr machen müssen: „Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und wird in Chile sterben.“
Wie ist es dazu gekommen?
Feministische Kräfte gegen Chiles neoliberales Staatsmodell
Am 9. Oktober 2019 sprach der chilenische Präsident Sebastián Piñera vor internationaler Presse von einer chilenischen „Oase innerhalb eines erschütterten Lateinamerikas“. Erst vor Kurzem gab es landesweite Proteste in Ecuador, Bolivien hatte einen Staatsstreich erlebt und in Peru folgte innerhalb von Monaten ein Präsident nach dem anderem. Doch Chile schien ruhig – zumindest in den Augen des Unternehmers und rechten Präsidenten Piñera.
Er täuschte sich: Nur eine Woche nach seiner Rede begann in Chile eine Revolte bis dahin unbekannten Ausmasses. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war die Erhöhung des Fahrpreises im öffentlichen Verkehr von Santiago um 30 Pesos, gerade einmal drei Rappen.
„Es sind nicht 30 Pesos, sondern 30 Jahre“, „Ich will mehr Zeit mit meinem Kind als mit meinem Chef verbringen“ oder „Bis es sich lohnt, zu leben“, schrieben die Menschen auf Plakate oder schrien es in Massen auf Demonstrationen. Millionen von Menschen waren auf der Strasse, das Land stand für mehrere Tage still.
In diesen Tagen öffnete sich eine neue politische Perspektive, die die Basis der lateinamerikanischen „Oase“ ins Wanken brachte.
Für uns als organisierte Feminist:innen kam die Revolte nicht aus heiterem Himmel. Sie war Ausdruck eines langjährigen Unbehagens und wichtiger Mobilisierungen gegen die Grundpfeiler des chilenischen neoliberalen Modells. Die privatisierte Altersvorsorge, der privatisierte Zugang zu Wasser, der unzählige Gemeinden um das kostbare Gut bringt, die Militäreinsätze und der Landraub im Wallmapu – dem Ursprungsgebiet der indigenen Mapuche –, das marktorientierte Bildungswesen oder die patriarchale Gewalt bildeten in den vergangenen Jahren Ausgangspunkte für zahlreiche kleine Revolten, die zusammen den Weg zur Oktoberrevolte von 2019 ebneten.
Eine zentrale Rolle hat hierbei die feministische Massenbewegung gespielt, die seit 2018 das politische Geschehen massgebend geprägt hat. In nur wenigen Jahren entwickelte sich aus einer Bewegung mit Forderungen wie dem Ende der Femizide oder dem Recht auf Abtreibung eine politische Alternative, die alle Gesellschaftsbereiche durchdringt und auf Basis einer feministische Analyse der Realität Perspektiven zum Wandel vorantreibt.
Mittlerweile sind feministische Ideen in allen politischen Räumen vertreten, von der Gewerkschaftsarbeit über die parlamentarische Politik bis hin zu sozialen Basisorganisationen.
Als wir am 8. März 2019 erstmals zum feministischen Generalstreik aufriefen, ging es nicht mehr nur um „Frauenthemen“, wir stellten ein ganzes Programm gegen die Prekarisierung des Lebens auf. Es ging um Grundrechte wie das Recht auf ein Zuhause oder das Recht auf ein Leben in einer sauberen Umwelt. Wir haben eine strukturelle Kritik an den herrschenden Verhältnissen angebracht und die verschiedenen politischen Kämpfe unter dem Deckmantel einer feministischen Analyse der Realität vereint.
Karina Nohales ist Teil der chilenischen Coordinadora Feminista 8M, eine Dachorganisation, die die meisten feministischen Organisationen des Landes vereint. Zwischen den Jahren 2019 und 2020 war sie Sprecherin der Coordinadora.
Der Feminismus hält die Revolte am Leben
Die Oktoberrevolte von 2019 begann in Santiago, der Hauptstadt, jedoch veranlasste die Reaktion der Regierung – Ausrufung des Ausnahmezustands, nächtliche Ausgangssperre und Einsatz des Militärs gegen Demonstrierende – das ganze Land dazu, aufzustehen. Nach vier Wochen der Mobilisierungen einigten sich die meisten Parteien mit Vertretung im Parlament auf einen verfassungsgebenden Prozess, um die umstrittene Verfassung von 1980 hinter sich zu lassen.
Diese Verfassung wurde während der Militärdiktatur von 1973 bis 1990 geschrieben und stellt die Basis für das neoliberale Modell des Landes dar. Hier wird das Privateigentum über soziale Grundrechte gesetzt und die traditionelle Kernfamilie als Basis der Gesellschaft verankert.
Nach Meinung der Parlamentarier:innen sollte das Abkommen die Proteste für beendet erklären. Doch auch danach hielt die feministische Bewegung die Revolte über Monate am Leben. Wenige Tage vor den ersten Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie kamen allein in Santiago über zwei Millionen Frauen zum 8. März zusammen. Das ist mehr als ein Viertel der gesamten Bevölkerung der Hauptstadt!
Breite Teile der sozialen Bewegungen mobilisierten ihre Kräfte, um den verfassungsgebenden Prozess zu beeinflussen. Die Feminist:innen im Parlament brachten die Quotenregelung ein und erkämpften erstmals die Möglichkeit, dass parteiunabhängige Wahllisten teilnehmen konnten. Schlussendlich gewannen die Bewegungen mehrere Sitze im Verfassungskonvent, das mit der Ausarbeitung der neuen Verfassung beauftragt ist. Die rechten Parteien ergatterten nur einen sehr kleinen Teil der 155 Sitze.
Menschenrechtslage nichtsdestotrotz auf dem Tiefpunkt
Trotz aller Erfolge erlebt Chile einen kontradiktorischen Augenblick. Die Menschenrechtslage hat einen historischen Tiefpunkt erreicht. Bislang herrscht komplette Straflosigkeit bezüglich der durch die Regierung begangenen systematischen Menschenrechtsverletzungen seit Beginn der Revolte.
Mehr als vierzig Personen wurden im Kontext von Demonstrationen ermordet, über 500 Personen haben durch Schüsse der Polizei mindestens ein Auge verloren, mehr als 5’000 Menschen haben bislang Anzeige gegen staatliche Sicherheitskräfte aufgrund von erlebten Menschenrechtsverletzungen gestellt, mindestens 500 Personen erlebten sexualisierte Gewalt während der Revolte, und schlussendlich befinden sich unzählige junge Aktivist:innen in politischer Haft aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen. Zudem setzt die Regierung zunehmend das Militär gegen die indigenen Mapuche ein, zuletzt rief die Regierung am 12. Oktober in mehreren Provinzen im Süden des Landes den Ausnahmezustand aus.
Die Repression ist Teil des Alltags geworden und scheint die einzige Form zu sein, in der die Regierung auf soziale Forderungen reagiert. Mit historisch tiefen Zustimmungswerten erwartet den Präsidenten derzeit eine Verfassungsklage vonseiten des Parlaments, nachdem die Pandora Papers Korruptionsvorwürfe gegen ihn bekannt machten und die Staatsanwaltschaft angekündigt hat, zu ermitteln.
Am 21. November finden die entscheidenden Präsidentschaftswahlen für die Zukunft des Landes statt. Während auf der linken Seite der ehemalige Studierendenführer Gabriel Boric gute Chancen hat, gewählt zu werden, versammelt sich die politische Rechte um den Neofaschisten José Antonio Kast. Der Sohn von Nazis, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Justiz der Alliierten nach Chile flohen, hat zwar keine realistischen Erfolgsaussichten, aber wird nach der Wahl wohl eine Führungsposition in der politischen Rechten übernehmen und mit seinen antidemokratischen Vorstellungen die linken Kräfte vor einige Herausforderungen stellen.
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