Unterschiedliche Dinge können gleichzeitig wahr sein. Den Satz muss man sich dieser Tage besonders oft sagen.
Am vergangenen Wochenende wurde ein Jude in Zürich aus antisemitischen Motiven auf offener Strasse mit einem Messer attackiert. Er musste im Krankenhaus behandelt werden. Das Ganze hätte tödlich enden können.
Es ist das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass der Antisemitismus in der Schweiz sich in roher, physischer Gewalt Bahn brach.
Die SVP zeigt sich schon länger besorgt über den Anstieg von Antisemitismus. Sie wittert ihn vornehmlich in linken Parteien und Gruppen. In der Debatte zur Messerattacke sagte der SVP-Fraktionschef Tobias Weidmann am Montag: „Antisemitismus 2024 kommt nicht von rechts, sondern von der antikapitalistischen Linken oder aus migrantischen Milieus.“
Dieses populistische Manöver ist leicht zu durchschauen. Schliesslich hat sich die SVP nie als Beschützerin marginalisierter Menschen hervorgetan. Zuletzt war es die Sünnelipartei, die eine Erhöhung des Budgets für den Schutz jüdischer Einrichtungen ablehnte. Einen Antisemitismusbeauftragten, wie es ihn in Deutschland gibt, will sie ebenfalls nicht.
Die plumpste Form von Antisemitismus ist im rechten Spektrum zudem virulenter als im linken, wie Studien nahelegen. Dass zu den sogenannten migrantischen Milieus laut dem SVP-Kantonsrat per se keine Rechten gehören können, ist eine zusätzliche, verquere Art von Rassismus. Als ob Herkunft etwas mit politischer Weltsicht zu tun hätte.
Der SVP-Politiker Weidmann kaperte und instrumentalisierte so die Ängste von Menschen, die in ihrer Sicherheit bedroht sind, um eigenes politisches Kapital daraus zu schlagen. Was sonst ist von dieser Partei zu erwarten?
Das Sensorium für Antisemitismus schärfen
Nun will der Leiter der Sicherheitsdirektion Mario Fehr sogar prüfen, ob dem mutmasslichen Täter, einem minderjährigen Doppelbürger, die schweizerische Staatsbürgerschaft entzogen werden könne. Nach dem Motto: Der soll diese Gewalt dort weiter ausleben, wo wir es nicht mitbekommen – und wo sie hingehört. Schweizer, die als IS-Kämpfer in Nordostsyrien im Gefängnis sitzen, will der Bundesrat übrigens nicht zurückhaben.
Es ist wahr, dass sowohl die SVP als auch Fehr das Leid von Juden_Jüdinnen nun ausnutzen, um gegen Linke, Muslim*innen und migrantisierte Menschen zu hetzen. Am Schutz von Jüdinnen*Juden ist ihnen kaum etwas gelegen. Diese Doppelmoral gilt es zu benennen. Diesen Rassismus gilt es zu bekämpfen.
Doch die reine Abwehr ist nicht genug.
Denn gleichzeitig ist wahr, dass jüdisches Leben in der Schweiz bedroht ist. Das machte der Angriff vom Wochenende nochmal deutlich. Und wahr ist auch, dass Antisemitismus in linken Kreisen existiert, so wie in allen Teilen der Gesellschaft.
Diese Erkenntnis ist banal: Das Durchschauen der menschenverachtenden Ideologien, die uns umgeben, und zwar im Wissen darüber, dass wir alle mit ihnen sozialisiert wurden – das steht im Zentrum linken Denkens. Es ist harte Arbeit, den ganzen Dreck loszuwerden, in dem wir schwimmen.
Nach Jahrzehnten der mühsamen Aufklärung durch Betroffene und Aktivist*innen haben viele Progressive etwa erkannt: Rassismus lässt sich nicht zur Seite legen wie ein Paar Schuhe, das nicht mehr passt. Es ist Arbeit, zu verstehen, wie er funktioniert und wie man auch den eigenen, erlernten Rassismen entgegentritt.
Viele linke Männer mussten zudem schmerzlich feststellen, dass es nicht reicht, sich als feministischer Ally zu bezeichnen, wenn man nicht versteht, wie Sexismus in der Gesellschaft und in uns allen wirkt. Auch dieser Sinneswandel vollzog sich nicht durch Zauberhand, sondern wurde hart erkämpft und hart erarbeitet.
Auch beim Antisemitismus gilt es, die eigene Wahrnehmung und Überzeugung immer wieder aufs Neue kritisch zu prüfen, das Sensorium für Antisemitismus in der Gesellschaft zu schärfen, von Betroffenen zu lernen. Auch das – man ahnt es schon – ist harte, politische Arbeit und keineswegs ein Selbstläufer. Auch bei Linken nicht.
Konsequent kämpfen
Allzu plumpe Kritik an „den Eliten“ oder „den Reichen“ kann durchaus antisemitische Stereotype aufleben lassen. Ein zu einfaches Verständnis vom ehrlichen Handwerksbetrieb als moralisch reines Pendant zum bösen Finanzmarkt erinnert an die antisemitische Nazi-Idee von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital. Auch die Berichterstattung über und der Protest gegen die israelische Regierung kann antisemitische Ressentiments bedienen. All das hilft dem gewaltvollen Antisemitismus zu gedeihen.
Auf die neueste Hetze der SVP gibt es nur eine Antwort: Gerade weil er von Reaktionären lediglich als Schutzschild und Waffe missbraucht wird, müssen Linke dem Antisemitismus umso konsequenter entgegentreten – auch in den eigenen Reihen. Der Kampf für ein sicheres, ein gutes Leben für alle darf nicht dem Rassismus der SVP zum Opfer fallen. Er kann gleichzeitig nicht bei der blossen Empörung über die Rechten stehenbleiben und zur leeren Pose werden. Er ist überlebenswichtig.
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