Inhaltswarnung: Dieser Beitrag enthält Schilderungen von Vertreibung, Hunger, Krankheit, Gewalt und Tod.
Neunmal bin ich seit letztem Oktober vertrieben worden. Ich bin Serena Awad, eine Palästinenserin aus dem Norden Gazas, und lebe nun im südlichen Al Nussirat Camp. Früher habe ich mich als Geflüchtete identifiziert, weil meine Grosseltern aus ihrer Heimatstadt flüchten mussten – aber heute reicht dieser Begriff nicht mehr. Ich bin sowohl Geflüchtete als auch Vertriebene. Mit meinem Rucksack bin ich von einem Ort zum nächsten gelaufen, immer auf der Flucht vor den anhaltenden Invasionen und dem ständigen Panzerbeschuss Israels.
Es soll hier nicht um Statistiken, Zahlen oder Fakten gehen, die überall im Fernsehen und im Internet zu finden sind. Ich werde über mich selbst sprechen, über mein tägliches Leben, meine Arbeit und darüber, wie das Leben für mich in den letzten zehn, bald elf Monaten verlaufen ist.

Unsere Geschichte, unsere Rechte, unsere Existenz und unser Widerstand sind nicht kompliziert. Im Gegenteil: Es ist der wohl einfachste Konflikt – auch wenn ich das Wort „Konflikt” nur ungern verwende, weil es suggeriert, dass Palästina und Israel gleichermassen verantwortlich sind. Aber das stimmt nicht. Es handelt sich um eine brutale militärische Besatzung, Siedlerkolonialismus, ethnische Säuberung, eine Blockade und ein Apartheidregime, das aus der Besatzung Palästinas durch Israel hervorging.
Es begann vor 76 Jahren
Ich habe bereits vor dem 7. Oktober sechs Angriffe überlebt: Den ersten im Dezember 2008 als ich erst neun Jahre alt war, den zweiten im November 2012 und die restlichen vier im Juli 2014, Mai 2019, Mai 2021 und Mai 2023. Mein Leben war schon vor dem letzten Oktober eine Abfolge ununterbrochener Massaker. Ich kann also nicht sagen, dass seither etwas Neues begonnen hat, aber was wir jetzt durchleben, übersteigt jede Vorstellungskraft und jedes menschliche Verständnis.
All das begann vor 76 Jahren mit der Al Nakba, als das israelische Militär über 75 Prozent der palästinensischen Bevölkerung gewaltsam aus ihren Häusern und von ihrem Land vertrieb. Auch meine Grosseltern wurden gezwungen, ihre Stadt Al Lodd zu verlassen – meine Heimatstadt, die ich selbst nie besuchen durfte. Sie mussten alles zurücklassen, ihr ganzes Hab und Gut, um am Ende in Gaza zu landen.
Nakba, was auf Arabisch „Katastrophe” bedeutet, bezieht sich auf die Flucht und Vertreibung von etwa 750’000 Palästinenser*innen durch jüdische paramilitärische Gruppen und später das israelische Militär zwischen 1947 und 1949 im Kontext der Staatsgründung Israels. Diese Ereignisse führten zur Enteignung von Land, zur systematischen Zerstörung von über 400 Dörfern und zu einem anhaltenden Rückkehrverbot für die vertriebenen Palästinenser*innen.
Als Kind lauschte ich den Geschichten meiner Grosseltern. Dabei versuchte ich stets zu verstehen, wie sie sich fühlten, als sie alles zurückliessen. Wie sie nie darüber hinwegkamen. Wie viele Menschen aus Trauer über ihre Sehnsucht nach der Heimat starben. Ich habe meine Grosseltern sterben sehen, während sie von ihren Häusern und dem Tag träumten, an dem sie zurückkehren könnten. Doch dieser Tag kam nie.
Einer der Orte, an die ich im letzten Jahr evakuiert wurde und um mein Leben fliehen musste, als ich von Norden nach Süden zog, war das Flüchtlingslager Al Bureij. In ebendiesem Lager suchte auch mein Grossvater um 1948 Zuflucht. Seine Heimatstadt Al Lodd, aus der er unter Beschuss fliehen musste, ist bis heute von israelischen Siedler*innen besetzt. 76 Jahre später erlebe ich Al Nakba erneut, durchlebe dieselben Gräueltaten wie meine Grosseltern.
Nur in meinem Schlafanzug und mit meinem Rucksack verliess ich mein Zuhause.
Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich die Geschichten meiner Grosseltern selbst erleben würde – bis zum 11. Oktober. An diesem Tag musste auch ich mein Haus verlassen, verängstigt, weinend und mit der Frage beschäftigt, wohin ich gehen sollte.
Obwohl er nun 322 Tage zurückliegt, erinnere mich genau an diesen Tag. Nur in meinem Schlafanzug und mit meinem Rucksack verliess ich mein Zuhause. Wir hatten keine Zeit, unsere Sachen zu packen, während Bomben über unseren Köpfen fielen.
Wir alle dachten, dass wir bald zurückkehren könnten. Also hatte ich nur meinen Laptop und ein Telefon dabei. Alles andere liess ich da: meine Kleidung, die Bilder aus meiner Kindheit, mein Leben, den Geruch meines Zimmers und sogar meine warme Lieblingsdecke. Unser gesamtes Quartier wurde durch Tonnen an Bomben ausgelöscht. Unsere Nachbar*innen, die sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen, liegen jetzt unter den Trümmern. Mein Haus steht noch. Es wurde nicht dem Erdboden gleichgemacht – bis jetzt. Aber es hat keine Fenster, keine Türen, keine Wände, und die Bombe, die es ruiniert hat, liegt noch darin.
Ganz ehrlich: Ich habe so viel geweint. Tagelang habe ich geweint und versucht zu begreifen, wie mir jemand mein Zuhause wegnehmen konnte.
Wir haben alles verloren
2.3 Millionen Menschen in Gaza haben mindestens eine Sache verloren – sei es ein Familienmitglied, ein*e Freund*in, ein Körperteil, ihr Haus, ihren Arbeitsplatz, alle Ersparnisse oder ihr Land.
Meine Familie hat zwei Wohnungen verloren, mein Vater seinen Job, und meine Schwester, die im November letzten Jahres heiraten wollte, ihr neues Haus. Zusammen mit ihrem Verlobten musste sie nach Ägypten evakuiert werden. Ihre Hochzeitspläne und das Hochzeitskleid liessen sie zurück.
Während ich 20 Familienmitglieder verloren habe, haben andere mehr als 50 verloren.
Ich habe 20 Familienmitglieder verloren. Darunter mein Cousin Mohammed, Bisan, die Frau meines anderen Cousins und ihr Baby Basel. Auch Tamer, meinen besten Freund aus Kindertagen, habe ich verloren; die Armee hat ihn vor den Augen seiner Mutter erschossen. Drei Freund*innen von mir sind Geiseln. Ich weiss nicht, ob sie noch am Leben sind. Sie heissen Adel, Haitham und Nedal.
Mein Verlust ist – bedauerlicherweise – nichts im Vergleich zu den Tausenden von Menschen in Gaza, die noch mehr verloren haben. Während ich 20 Familienmitglieder verloren habe, haben andere mehr als 50 verloren, darunter ihre engsten Verwandten. Ich habe mein Zuhause verloren, während andere unter den Trümmern ihres Hauses begraben wurden.
Ich habe aufgrund des Mangels an Lebensmitteln und sauberem Wasser 14 Kilo abgenommen. An manchen Tagen bekamen wir im Lager nur eine Mahlzeit. Auch jetzt ist die Ernährungslage nicht wirklich besser – aber zumindest können wir Früchte essen, was wir seit Monaten nicht konnten.
Es ist extrem schwierig, an Trinkwasser zu kommen. Es gibt gefiltertes Wasser in Flaschen zu kaufen, aber das ist teuer, und nicht alle können es sich leisten. Viele Menschen sind auf die Hilfe von Wassertransportern angewiesen. Das heisst, sie müssen für ein paar Liter Wasser stundenlang in der Hitze anstehen. Ein paar Liter Wasser, das reicht kaum aus.
Auch andere Dinge sind für uns fast unerreichbar: Shampoos, Handseifen und alle Hygienemittel sind vom Markt verschwunden. Also muss ich meine Haare mit Geschirrspülmittel waschen.
Im Norden des Gazastreifens ist die Situation noch schlimmer. Meine dortgebliebenen Freund*innen und Familienangehörigen verhungern, während ich diese Zeilen schreibe.
Selbst in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir nie vorstellen können, dass mir ein*e gleichaltrige*r Soldat*in alles nehmen könnte, was ich je hatte.
Wir ersticken hier gerade in der Verschmutzung. Es ist unvorstellbar. Die Menschen in den Zelten, Notunterkünften und sogar in den noch nicht bombardierten Häusern haben mit schweren Krankheiten zu kämpfen. Der Krieg verursacht schlechte Hygienebedingungen, Trinkwassermangel und ein nicht funktionierendes Abfallsystem – und dazu die Hitze. Die Krankheiten breiten sich rasant aus und fressen uns lebend.
Vor kurzem wurde ich sehr krank. Im Krankenhaus wurde mir Hepatitis A diagnostiziert. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Gaza leidet unter dem Virus, was unter diesen Umständen leider normal ist. Denn Hepatitis A wird auch über kontaminiertes Wasser oder Lebensmittel übertragen. Ich hatte unsägliche Schmerzen, aber das war nichts im Vergleich zu den verletzten Menschen, die in einem kaum funktionierenden Krankenhaus um ihr Leben kämpfen müssen. Viele werden am Boden behandelt, weil es nicht genügend Betten, Hygieneartikel oder saubere Laken gibt.
Was gibt mir Hoffnung?
Die Tage vergehen und ich verwende meine ganze Energie, um dem Tod, den Bomben und den Drohnen zu entkommen. Es ist der Gedanke an den Tag, an dem all das vorbei sein wird und wir endlich wieder atmen können, der mich durch diese Zeit bringt. Der Tag, an dem die Armee mir erlauben wird, in mein Zuhause zurückzukehren.
Die meisten Soldat*innen der israelischen Armee sind in ihren Zwanzigern oder Dreissigern – einige davon mit doppelter Staatsbürgerschaft. Selbst in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir nie vorstellen können, dass mir ein*e gleichaltrige*r Soldat*in alles nehmen könnte, was ich je hatte.
Der Tag wird kommen – und ich habe keine Angst davor, dass ich ihn möglicherweise nicht mehr erleben werde. Alles, was ich weiss, ist, dass wir letztlich Ruhe und Frieden finden werden.
Dieser Text wurde von Mara Haas aus dem Englischen übersetzt. Demnächst erscheint ein zweiter Artikel von Serena Awad über ihre Arbeit vor Ort. Seit Beginn des Genozids in Palästina arbeitet unsere Autorin mit dem American Friends Service Committee in Gaza. Sie verteilt Hilfsmittel und berichtet über die Geschichten der Palästinenser*innen.
Korrigendum: Die Autorin sprach ursprünglich von vielen Soldat*innen mit einer doppelten Staatsbürgerschaft. Die Redaktion hat dies auf “einige” korrigiert; laut Schätzungen besitzen 10 bis 15 Prozent der Israelis eine doppelte Staatsbürgerschaft.
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