Die Low Rise Jeans ist zurück und nicht nur die deutsche Comedienne Carolin Kebekus wettert, dass Körperformen kein Trend sind. Denn diese Hose verkörpert den „heroin chic“ der 1990er, für den Frauen dünn sein und schmale Hüften haben sollten. Männer hingegen sollten vor allem durch ihre definierten Arme auffallen.
Man könnte meinen, diese Geschlechtsstereotypen der dünnen Frau und des starken Mannes seien überholt – doch sie sind nach wie vor omnipräsent. Und sie haben mehr mit der Geschichte des Vibrators zu tun, als man annehmen würde.
Mythos Vibrator
Vermutlich klingt dieser Zusammenhang zunächst unglaubwürdig. Denn einigen Leser*innen ist vielleicht eher bekannt, dass sich „hysterische“ Frauen im späten 19. Jahrhundert von einem Arzt entweder händisch oder mithilfe eines Vibrators zum Orgasmus hätten rubbeln lassen, um geheilt zu werden. Der – natürlich männliche – Herr Doktor hätte dabei nicht erkannt, dass er die Frau zum Orgasmus gebracht hatte und diese Ekstase stattdessen „hysterischen Paroxysmus“ genannt. Filme wie „In guten Händen“ (2011) mit Maggie Gyllenhaal und unzählige Bücher und Artikel wie Naomi Wolfs „Vagina“ (2013) bestärken diese Geschichte.
Die These stammt aus dem Buch „The Technology of Orgasm: ‚Hysteria‘, the Vibrator and Women’s Sexual Satisfaction“ der Technikhistorikerin Rachel Maines aus dem Jahr 1999. Maines behauptet zudem, dass Ärzte im 19. Jahrhundert davon ausgegangen sind, Orgasmen könnten nur durch Penetration hervorgerufen werden. All dies soll Maines‘ Theorie bestätigen, dass Frauen von männlichen Medizinern in der Praxis unterdrückt und nicht ernst genommen worden sind.
Diese Geschichte ist aber ein Mythos; Maines stellte allerlei Quellen aus verschiedenen Epochen verkürzt und im falschen Kontext dar. Das Einzige, was tatsächlich stimmt: Hysterie galt im späten 19. Jahrhundert vor allem als „Frauenkrankheit“, die den Sexualtrieb beeinflussen, Lähmungen und Krämpfe verursachen, zu Empfindungsstörungen führen und das Bewusstsein verändern konnte.
Hysterie wurde zu einem Sammelbecken für all das, was sich Männer nicht erklären konnten.
Bei Augenleiden und Nervosität
Der Vibrator hatte zwar einen klar medizinischen Zweck, allerdings hatte dieser nur am Rande mit Hysterie zu tun. Insbesondere die Behandlungsform war nicht so, wie sie Maines beschreibt. Den heute vermutlich bekanntesten Vibrator erfand der Brite Joseph Mortimer Granville 1883: einen Nervenvibrationsapparat.
Granville hütete sich davor, das Gerät bei der Diagnose Hysterie einzusetzen. Er schrieb in seiner wissenschaftlichen Abhandlung über Nervenvibration: „I have never yet percussed a female patient“, („Ich habe noch nie eine Patientin perkussiert“ auf Deutsch), also mit dem von ihm entwickelten Gerät behandelt. Zudem setzte sich der Arzt dafür ein, dass die (Vibrations-)Massagegeräte, wie die frühen Vibratoren auch genannt wurden, nur von geschultem Personal angewandt werden sollten.
Der Behandlungsmethode lag folgende Idee zugrunde: Einem kranken Körper fehlt Energie, die ihm mittels der Vibration von aussen zugeführt werden kann. Der Kreislauf gerät so wieder in Schwung, das Blut zirkuliert schneller und transportiert „schlechte Bestandteile“ besser ab.
Gesellschaftliche Veränderungen wie die Industrialisierung gaben der Idee Auftrieb. Viele Menschen glaubten, der technische Fortschritt bringe den Körper wortwörtlich zum Vibrieren. Und dass es die medizinische Vibration als Gegenkraft brauche, um den „nervösen“ Körper zu beruhigen.
Die Vibration hatte zunächst vielfältige Anwendungsweisen, die bei Nervosität, Rheuma, Gicht oder Augenleiden helfen sollte – übrigens gleichermassen bei Frauen und Männern. Auch in der Frauenheilkunde wurde Vibration eingesetzt, meist für Uterusleiden und Vaginalnarben. Die Ärzte waren jedoch peinlich darauf bedacht, dass „onanistische Reizung“, wie der Gynäkologe Kurt Witthauer 1905 in seinem „Lehrbuch der Vibrationsmassage mit besonderer Berücksichtigung der Gynäkologie“ schrieb, ausgeschlossen war.
Der Vibrator wurde auch bei einer Hysteriediagnose verwendet. Allerdings nicht an den Genitalien, sondern nur, um die angeblich symptomatischen Arm- und Bein-Lähmungen zu lockern.
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Massage für Schönheit, Jugend und Stärke
Vibration war nur bei wiederholter, regelmässiger Anwendung erfolgreich. Auch deshalb verbreitete sich die Methode rasch weit über die Arztpraxis hinaus. Vibratoren wurden zunehmend nicht nur in Friseursalons als Zusatzdienstleistung angeboten, sondern fanden auch Eingang in allerlei Haushaltsratgeber.
Die mechanischen oder elektromechanischen Vibrationsgeräte mit illustren Namen wie Venivici, Fema- oder Puco-Vibrator und der vermutlich am weitesten verbreitete Sanax der Berliner Firma Sanitas und seine Schwestergeräte Penetrator oder DoDo-Vibrator überschwemmten bald den Markt. Die Gerätevielfalt hängt auch mit einem neuen Nutzungsbereich zusammen, der ab dem frühen 20. Jahrhundert boomte: die Schönheitspflege.
Mit dem Privatkonsum spätestens ab den 1920er-Jahren rückten Gebrauchsmöglichkeiten wie Schönheits- und Jugendanwendungen in den Mittelpunkt – zwar vor allem für Frauen, aber auch Männer sollten davon profitieren. Laut Anwendungsbroschüre sollte etwa ein Vibrator der deutschen Firma AEG Frauen eine schlanke Taille, einen graziösen Gang und schmale Hüften verschaffen. Sie sollten so Anmut erhalten. Beliebt waren auch straffe Brüste und ein flacher Bauch. Bei Männern stand hingegen eine jugendliche Figur, eine kräftige Lunge, starke Arme und Schultern im Vordergrund. Sie sollten ausdauernd und fit für den Beruf werden.
Dasselbe Gerät versprach also, vom Gender abhängig unterschiedlich zu wirken. Die Idee dahinter: Männer und Frauen hätten unterschiedliche Körper, die anders auf denselben Einfluss von aussen – in diesem Fall Vibration – reagieren. Gleichzeitig sind diese Wirkungen stark stereotypisch geprägt. Frauen sollten schön und schlank, Männer stark und arbeitsfähig sein.
Das Vermächtnis des Vibrators
Auch ohne den Hysterie-Orgasmus-Mythos hat die Geschichte des Vibrators genug mit Frauen, dem Patriarchat und Genderklischees zu tun. Sie ist zwar nicht so catchy, weil es nicht direkt um Sex und die Unterdrückung durch Ärzte geht. Der frühe Nutzen der Vibratoren und anderer Schönheitsprodukte hat die heutige Gesellschaft aber viel tiefer geprägt, als wir uns eingestehen möchten.
Mit diesem Mythos konnten wir getrost auf die Auswüchse des Patriarchats vor hundert Jahren zeigen und glauben, dass Ärzte ach so wenig über die weibliche Sexualität wussten, die sie nur auf das Gebären reduzierten. Wir konnten uns damit in unserem vermeintlichen feministischen Wissen über die Unterdrückung von Frauen in der Geschichte und unserem Fortschrittsglauben bestärken. Mit der revidierten Geschichte des Vibrators müssen wir uns hingegen viel selbstkritischer auseinandersetzen.
Diese Geschichte zeigt, wie mithilfe von Vibratoren ein binäres Körpersystem gefestigt wurde, das Männer und Frauen grundlegend voneinander unterscheidet. Sie zeigt, wie gesellschaftliche Rollenzuschreibungen auch körperlich zu erfüllen waren. Und wie wir bis heute mit den Geschlechterbildern der schönen, schlanken Frau und des starken, leistungsfähigen Mannes zu kämpfen haben.
Noch immer lächeln uns meist schlanke bis sehr schlanke Frauen von Werbetafeln entgegen – sei es für Kleidung, Cremes oder Tampons. Umgekehrt werden häufig bereits leicht übergewichtigen Menschen in der Ärzt*innenpraxis ihre tatsächlichen Krankheiten abgesprochen; die Krankheitssymptome seien auf ihren ungesunden Lebensstil zurückzuführen, heisst es dann.
Aber nicht nur das Aussehen unseres Körpers gerät in den Fokus: Die erwartete Leistungsfähigkeit des Mannes in der Berufswelt wird mit der minimen zweiwöchigen Vaterschaftszeit in der Schweiz gar staatlich gefördert.
In dieser Geschichte war es nicht die Medizin oder die Mediziner, die Frauen und ihre Sexualität unterdrückten. Vielmehr war es ein patriarchales System, das sich medizinischer Begründungen bediente, um Frauen und Männer ihre gesellschaftlichen Rollen zuzuweisen. Unterstützt durch Konsum: Denn wer dieser Rolle nicht entsprach, konnte dem entgegenwirken, indem er oder sie das passende Gerät kaufte oder für die geeignete Behandlung bezahlte.
Die Geschichte des Vibrators zeigt, dass wir bei Weitem nicht genug über unseren Körper und dessen Geschichte wissen. Doch wenn wir unsere Genderklischees über Bord werfen wollen, dann müssen wir erst verstehen, woher sie kommen und wie tief sie verankert sind. Denn wir sind weit davon entfernt, diese überwunden zu haben und in einer Gesellschaft zu leben, in der Gleichberechtigung der Geschlechter existiert.
Sarah Scheidmantel (sie/ihr) ist Kulturwissenschaftlerin und Medizinhistorikerin. Sie studierte in Weimar, Berlin und Cambridge (UK) Medien- und Kulturwissenschaften sowie Wissenschaftsgeschichte und promoviert seit 2019 an der Universität Zürich zur Vibrationsmassage und Weiblichkeitskonzepten um 1900. So möchte sie die historische und politische Dimension von Medizin, Geschlecht und Gesellschaft beleuchten.
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