Am 26. Mai um elf Uhr nachts betritt die erfundene Gestalt Günther Häusler eine Tankstelle in Eglisau Zürich. Er sieht sich kurz um und geht dann schnellen Schrittes auf die Angestellte hinter der Kasse zu. Er zückt eine Faustfeuerwaffe und fordert die Angestellte auf, ihm den Inhalt der Kasse zu übergeben. Einen kurzen Moment später flüchtet Günther mit dem Bargeld aus der Tankstelle in die Nacht hinaus.
Mit diesem Überfall beging Günther Häusler einen qualifizierten Raub, eine Straftat, welche in jedem Fall mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bestraft wird. Im schlechtmöglichsten Fall wird die Strafe unbedingt ausgesprochen und Günther wandert ins Gefängnis.
Was alles zwischen einer Straftat und dem Einzug ins Kittchen liegt, welche Vollzugsformen der Freiheitsstrafe es in der Schweiz gibt und wie eine mögliche Verhandlung vor Gericht genau abläuft, erklärt das Lamm im Folgenden am fiktiven Beispiel von Günther Häusler. Die genannten Phasen und Vorgänge sind in der dargestellten Form für die Schweiz gültig, aber nicht national generalisierbar.
Phase 1: Vorverfahren
Das Strafverfahren ist ein Prozess, welcher in drei Teile gegliedert ist und in dem die Strafverfolgungsbehörden zunächst abklären, in welcher Form strafrechtlich relevantes Fehlverhalten vorliegt – oder eben auch nicht. Das oberste Ziel der Strafverfolgungsbehörden ist dabei die Ermittlung der materiellen Wahrheit. Das heisst, sie versuchen, den tatsächlichen Sachverhalt zu ermitteln, also was gegen und was für Günthers Unschuld sprechen könnte.
Während im rechtlichen Kontext die formelle Wahrheit den Sachverhalt bezeichnet, der aufgrund bestimmter prozessrechtlicher Regeln und Kriterien festgestellt wird, versucht die materielle Wahrheit den Sachverhalt so zu verstehen, wie er sich tatsächlich zugetragen hat. Die materielle Wahrheit zu ermitteln, ist die Aufgabe der Strafverfolgung. Demgegenüber steht die beschuldigte Person, die gewisse Verfahrensrechte hat und eine Verteidigung beziehen kann.
Kurz nach dem Überfall betreten zwei Polizist:innen die Tankstelle. Sie reden zuerst mit der Filialleiterin und wenden sich dann der Angestellten zu, welche während des Überfalls in der Tankstelle arbeitete. Sie fragen, wie der Mann ausgesehen habe und ob sie sich an Details erinnern könne, die dabei helfen könnten, ihn zu identifizieren. Auch sehen sich die Polizist:innen die Überwachungsaufnahmen an, auf denen ersichtlich wird, dass der Mann mithilfe eines Motorrads geflüchtet ist. Sie entziffern das Nummernschild und können dieses einem Günther Häusler zuordnen, wohnhaft in Küsnacht.
Ein Streifenwagen der Kantonspolizei kann einige Tage danach das Motorrad in Stäfa vor einer Wohnung erkennen, als Günther gerade damit losfährt. Er sieht den Streifenwagen und versucht zu fliehen, wird jedoch von der Polizei ausgebremst und verhaftet.
Durch die versuchte Flucht beantragt die Staatsanwaltschaft daraufhin eine Untersuchungshaft für Günther, eine Zwangsmassnahme, da sie von einer hohen Fluchtgefahr ausgeht und durch eine Haft seine Anwesenheit bei einer allfälligen Anklage garantieren will. Dieser Antrag wird vom Zwangsmassnahmengericht bewilligt und Günther wird in Untersuchungshaft genommen.
Zwangsmassnahmen sind Verfahrenshandlungen der Strafbehörden, welche in die Grundrechte der beschuldigten Person eingreifen und dazu dienen sollen, Beweise zu sichern, die Anwesenheit von Personen in einem Verfahren sicherzustellen und die Vollstreckung des Endentscheids zu gewährleisten. Die Untersuchungshaft ist eine solche Zwangsmassnahme. Geht die Staatsanwaltschaft beispielsweise von einer hohen Fluchtgefahr der beschuldigten Person aus, kann sie innert 48 Stunden nachdem die Person von der Polizei verhaftet wurde beim Zwangsmassnahmen-gericht eine U‑Haft beantragen.
Auf der Überwachungskamera der Tankstelle ist Günther mit einer Faustfeuerwaffe zu erkennen, mit der er die Angestellte bedroht. Die Polizei konnte mithilfe eines Durchsuchungsbefehls in der Wohnung von Günther die Pistole sowie einige Tausend Franken Bargeld in einem Rucksack als Beweismittel sichern. Die Staatsanwaltschaft schliesst daraufhin die Vorverfahrensphase ab. Da Günther für Raub mit einer Schusswaffe angeklagt wird und die Strafandrohung dafür eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ist, wird Günthers Odyssee also in Form einer Anklage vor Gericht weitergehen.
Durch die Strafandrohung erhält Günther auch eine sogenannte notwendige Verteidigung. Ursula Girsberger wird in diesem Szenario Günthers Pflichtverteidigerin. Sie unterstützt ihn und stellt sicher, dass alle seine Rechte gewahrt werden. Frau Girsberger berät sich mit Günther und zusammen entwickeln sie eine Verteidigungsstrategie. Sie klärt Günther über die begrenzten Möglichkeiten und triste Zukunftsperspektive auf. Die Staatsanwaltschaft kann beweisen, dass er zur Tatzeit in der Tankstelle war, er hatte eine nicht registrierte Pistole in seiner Wohnung und Bargeld in der Höhe des Betrags, der aus der Tankstelle entnommen wurde, wurde ebenfalls gefunden. Frau Girsberger rät ihm, ein Geständnis zu machen und auf mildernde Umstände zu plädieren, da Günther ihr erzählt hat, dass er den Überfall aufgrund von Schulden verübte, die er nicht bezahlen konnte und aufgrund derer er unter hohem psychischen Stress stand.
Phase 2: Hauptverfahren
Resultiert die Untersuchung in einer Anklage (oder wird Einsprache gegen den Strafbefehl erhoben), kommt es zum erstinstanzlichen Hauptverfahren, was im Kanton Zürich eine Verhandlung vor dem Bezirksgericht ist. Hier wird die Anklage bearbeitet, je nach Strafmass vor einem Einzel- oder Kollegialgericht.
Eine Verhandlung vor Gericht enthält insbesondere folgende Elemente:
- Die beschuldigte Person wird zu Beginn des Beweisverfahrens befragt.
- Es gibt unter Umständen weitere Beweisabnahmen, beispielsweise die Einvernahme eine:r Zeug:in oder einer Auskunftsperson.
- Die Parteien stellen und begründen ihre Anträge. Die Parteien sind die Staatsanwaltschaft, eine allfällige Privatkläger:innenschaft und die beschuldigte Person sowie ihre Verteidigung.
- Die beschuldigte Person erhält die Möglichkeit, ein Schlusswort zu halten.
Im Bezirksgericht in Zürich erheben sich alle im Raum, als die drei Richter:innen den Saal betreten. Der Prozess wird aufgenommen und Günther zunächst zu allen relevanten Punkten befragt. Er schildert seine Motivation hinter dem Überfall, erklärt seine prekäre Situation aufgrund der Schulden. Er entschuldigt sich bei der Angestellten, die grosse Angst vor ihm hatte, und er erläutert die Umstände seines Fluchtversuchs, welcher aus Panik entstanden und keineswegs geplant gewesen sei. Günthers Verteidigerin Frau Girsberger lässt einen weiteren Beweis abnehmen, die Bestätigung von Günthers Schuldensituation.
Die Staatsanwaltschaft begründet ihren Antrag, dass Günther sich des qualifizierten Raubs schuldig gemacht habe, aufgrund der vorgelegten Beweise und die Verteidigerin weist auf die mildernden Umstände hin, die Günther in seinem Schlussplädoyer noch einmal betont.
Das Gericht zieht sich zu einer geheimen Beratung zurück und beschliesst das Urteil. Günther wird für schuldig befunden, zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten unbedingt, zwölf Monaten bedingt und einer Probezeit von vier Jahren verurteilt, wobei der unbedingte Teil in einer Justizvollzugsanstalt vollzogen wird.
Theoretisch könnte ein solches Urteil angefochten werden, indem Berufung eingereicht wird. Dann würde der Prozess in die nächste Phase übergehen, das Rechtsmittelverfahren.
Die Verteidigung der beschuldigten Person wirkt nicht an der materiellen Wahrheitsfindung mit, sie ist allein den Interessen der beschuldigten Person verpflichtet. Ein:e Verteidiger:in berät die beschuldigte Person, beispielsweise entwickelt sie eine Verteidigungsstrategie. Sie trägt aktiv zum Verfahren bei, indem sie etwa entlastende Umstände einbringt, und hat zudem eine Kontrollfunktion, sie überwacht die Justizförmigkeit des Verfahrens und macht allfällige Mängel geltend. Kurzum: Eine Verteidigung ermöglicht in einem Verfahren eine Waffengleichheit, unterstützt die beschuldigte Person und sorgt dafür, dass der Status der beschuldigten Person als Rechtssubjekt gewahrt wird.
Der Strafbefehl kommt dann zum Einsatz, wenn die Staatsanwaltschaft im Verlauf der Untersuchung eine oder mehrere Straftaten feststellt, die als Konsequenz eine Freiheitsstrafe bis maximal sechs Monate, eine Geldstrafe oder eine Busse – im juristischen Kontext gesehen also eher milde Strafen – nach sich ziehen. Der Strafbefehl kann von der beschuldigten Person angenommen werden, dann ist er rechtskräftig und wird umgesetzt. Erhebt die beschuldigte Person innert zehn Tagen Einsprache, erhält der Strafbefehl die Bedeutung einer Anklage und wird vor Gericht, also in der zweiten Phase, weiter bearbeitet.
In einem Strafprozess haben alle Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, einen nachteiligen Entscheid überprüfen, unter gewissen Umständen gar aufheben oder ändern zu lassen. Auch für während des ganzen Strafverfahrens angeordnete Verfügungen kann eine Überprüfung veranlasst werden. Berufung oder Beschwerde einzureichen ist also ein Rechtsmittel. Eine Berufung kann gegen ein erstinstanzliches Urteil eingereicht werden, kann also beispielsweise die inkorrekte Feststellung eines Sachverhalts innerhalb des Urteils rügen. Eine Beschwerde ist nur dann zulässig, wenn keine Berufung eingereicht werden kann. Sie betrifft Elemente wie Verfügungen, also vor allem Aspekte, die verfahrensspezifische Punkte vor Erlass des Urteils und nicht das Urteil an sich betreffen.
Phase 3: Rechtsmittelverfahren
Wird Berufung oder Beschwerde eingereicht, wird der Prozess an weitere Instanzen gezogen, zunächst an das Obergericht und später, wenn dort keine Einigung getroffen werden kann, ans Bundesgericht. Beim Obergericht gilt derselbe Ablauf wie vor dem Bezirksgericht, vor dem Bundesgericht hingegen gilt ein anderer Verfahrensablauf, bei dem es nicht mehr möglich ist, alles rügen und überprüfen zu lassen. Im Anschluss an die Verhandlung(en) wird die Strafe oder die Massnahme verkündet, das Urteil aufgehoben oder an frühere Instanzen zurückgewiesen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Günther im Falle einer Verurteilung direkt aus dem Gerichtssaal ins Gefängnis müsste. Wenn etwa keine Fluchtgefahr besteht, könnte er die Strafe auch erst nach einer gewissen Zeit antreten.
Bedingte und teilbedingte Freiheitsstrafen werden unter Gewährung einer Probezeit nicht oder nur zum Teil vollstreckt. Der Vollzug der gesamten Strafe oder eines Teils davon wird also aufgeschoben. Wird Günther während dieser Zeit nicht rückfällig und hält sich an seine Bewährungsauflagen, würde die (restliche) Strafe nicht vollzogen werden.
Unbedingte Freiheitsstrafen müssen in jedem Fall verbüsst werden. Dafür gibt es verschiedene Formen, etwa den geschlossenen Vollzug oder die Halbgefangenschaft.
Eine Ersatzfreiheitsstrafe kommt dann zum Zug, wenn eine Busse oder Geldstrafe nicht bezahlt und die Behörden dies mithilfe von Betreibungen nicht erzwingen können. Die Dauer der Freiheitsstrafe hängt vom Urteil ab.
Auch der Freiheitsentzug bei Jugendlichen ist möglich. 15-Jährige können mit bis zu einem Jahr, 16-jährige Jugendliche mit bis zu vier Jahren Freiheitsentzug bestraft werden.
Günther wird von zwei Angestellten der JVA Lenzburg in seine Zelle geführt, die für die nächsten Monate sein Zuhause sein wird. Wie ein typischer Tagesablauf im Gefängnis in der Schweiz aussieht, wie ein Mensch nach einer solchen Freiheitsstrafe zurück in die Gesellschaft finden soll und was Marcel Ruf, Gefängnisdirektor der JVA Lenzburg, über eine gefängnisfreie Schweiz denkt, kannst du bald an dieser Stelle nachlesen.
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