Die EU ist Müll – die Schweiz ist Dreck 

Linke in der Schweiz haben keine Haltung mehr zur Euro­päi­schen Union. Das sollte sich ändern. Ein Kommentar. 
Ist die EU noch im Aufwind? (Foto: Markus Spiske / Unsplash)

Euro­krise, Finanz­diktat, brutaler Grenz­schutz: Es ist mitt­ler­weile offen­sicht­lich, dass der EU der freie Waren­ver­kehr wich­tiger ist als inter­na­tio­nale Soli­da­rität. Hinzu kommt die Enttäu­schung über das, was oft als „Demo­kra­tie­de­fizit“ bezeichnet wird: träge und kompli­zierte poli­ti­sche Prozesse, eine weit entfernte und undurch­sich­tige Verwal­tung in Brüssel, ein macht­loses Parlament.

Die linke Hoff­nung auf die EU ist also längst verflogen.

Zurück bleibt Ratlo­sig­keit. Denn: Die SVP hat eine uner­schüt­ter­liche Meinung zur EU (bloss nicht!), die FDP und Grün­li­be­rale sind hingegen an allem inter­es­siert, was den Markt­zu­gang für Schweizer Unter­nehmen erleichtert.

Nur Linke sind hier­zu­lande verwirrt, was sie von der Chose noch halten sollen. Das Rahmen­ab­kommen führt die Verwir­rung einmal mehr vor Augen. Es zeigt, dass der Schweizer Öffent­lich­keit eine linke Haltung zur EU fehlt. Cédric Wermuth verkün­dete zwar in einer Rede an der SP-Dele­gier­ten­ver­samm­lung: „Wir wollen mehr Europa, aber auch: entschieden anders.“ Solche Aussagen von den Sozialdemokrat:innen sind aber eine Selten­heit. Die WOZ bekräf­tigt in ihrer Bericht­erstat­tung derweil konse­quent die ableh­nende Posi­tion der Gewerk­schaften. Und diese sind wiederum entschieden gegen das Rahmenabkommen.

Der Graben entstand vor allem entlang dem Thema Lohn­schutz. Eigent­lich streitet niemand ab, dass eine stär­kere Anbin­dung an die EU ohne diesen Schutz unso­zial wäre. Dass jede Markt­öff­nung mit gleich­zei­tigen sozialen Absi­che­rungen einher­gehen muss.

Unei­nig­keit besteht daher nur über juri­sti­sche Einzel­heiten. Die einen sagen, das Abkommen in dieser Form würde den Lohn­schutz begraben. Dafür spre­chen einige Urteile des Euro­päi­schen Gerichts­hofs, der in der Vergan­gen­heit mehr­mals ähnliche Lohn­schutz­mass­nahmen als ille­gitim verurteilte. 

Andere sagen: Das ist Speku­la­tion. Niemand weiss momentan, wie der EuGH im Einzel­fall entscheiden würde. Zudem gebe es bereits Ansätze, die nega­tive Folgen des Rahmen­ab­kom­mens auf den Lohn­schutz ausglei­chen könnten: Der Thinktank Foraus etwa schlägt vor, die Behörden digital besser aufzu­stellen, sodass auch eine Melde­pflicht von vier Tagen für die Über­prü­fung auslän­di­scher Unter­nehmen reichen würde.

Ange­sichts der diffusen Lage lohnt sich ein Blick weg vom juri­sti­schen Klein-Klein auf grös­sere Zusam­men­hänge. Denn Linke in der Schweiz müssen sich wieder mit der EU befassen und eine konsi­stente und diffe­ren­zierte Haltung zu ihr entwickeln. Und zwar unab­hängig vom Rahmen­ab­kommen. Drei Themen sind dabei beson­ders wichtig.

Erstens: Der volks­wirt­schaft­liche Hinter­grund ist entschei­dend. Dass wir über den Lohn­schutz über­haupt spre­chen, hängt damit zusammen, dass die Schweiz ein sehr viel höheres Lohn- und Preis­ni­veau hat als die umlie­genden EU-Länder.

Warum das so ist, ist unklar, es gibt keine verläss­li­chen Studien. Klar ist: In den vergan­genen fünfzig Jahren haben sich Preise und Löhne immer weiter denen im rest­li­chen Europa ange­passt. Dieser Vorgang wird auch in Zukunft nicht aufzu­halten sein. Es ist daher wichtig, diesen Anglei­chungs­pro­zess so abzu­fe­dern, dass Arbeiter:innen nicht darunter leiden. Dass der aktu­elle Lohn­schutz das auf die lange Sicht kann, ist unwahr­schein­lich. Statt­dessen bräuchte es mehr inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit zwischen den Gewerk­schaften und länder­über­grei­fende poli­ti­sche Lösungen für die Übergangszeit.

Zwei­tens: Schluss mit der Heuchelei. Die Schweiz ist – entgegen dem Eindruck, den man während der aktu­ellen Diskus­sion manchmal bekommen kann – wahr­lich kein Para­dies des sozialen Arbeitnehmerrechts.

Nirgends in Europa schuften Arbeiter:innen so viel wie hier: Bis zu 50 Stunden pro Woche sind erlaubt. In Deutsch­land nur etwa 40, in Öster­reich ebenso. Nirgends sind sie von einer Kündi­gung so schlecht geschützt. Und nirgends sonst herrscht ein Streikverbot.

Gleich­zeitig finden Arbeits­kämpfe und Fort­schritt auch auf EU-Ebene statt. So wurde vor Kurzem eine neue EU-Richt­linie vorge­schlagen, die Unter­nehmen dazu verpflichten könnte, ihren Ange­stellten alle Löhne trans­pa­rent zu machen. Eine solche Rege­lung wäre in der Schweiz zurzeit undenkbar.

Alle diese Themen muss eine konse­quent linke Politik in der Schweiz angehen. Aber sie muss nicht nur hier, sondern überall bessere Bedin­gungen für Arbeiter:innen erkämpfen. Zu einem solchen inter­na­tio­nalen Kampf für Arbeits­rechte gehört auch, dass Menschen, die woan­ders wohnen, aber in der Schweiz arbeiten, Anrecht auf Sozi­al­hilfe und Arbeits­lo­sen­geld in der Schweiz haben – so wie es das Rahmen­ab­kommen vorsieht.

Drit­tens: Keine falsche Hoff­nung. Zurzeit begnügen sich Linke hier­zu­lande damit, mit erho­benem Zeige­finger auf ein paar Urteile des Euro­päi­schen Gerichts­hofs zu zeigen und der EU vorzu­werfen, sie würde sich nicht um den Schutz der Löhne scheren. Das ist eine Binsen­wahr­heit: Die EU schützt, wie jeder Natio­nal­staat auch, in erster Linie das Privat­ei­gentum. Da gibt es nichts zu beschö­nigen: Sie ist ein natio­na­li­sti­sches Gebilde auf höherer Stufe, das Menschen ohne euro­päi­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit im Mittel­meer ertrinken lässt, um ihren eigenen Wohl­stand zu sichern.

Glei­ches gilt für die Asyl­po­litik. Natür­lich müssen Abschot­tung und tödli­cher Grenz­schutz der EU aufs Schärfste verur­teilt werden. Die Schweiz macht mit ihrer Asyl­po­litik aber eine minde­stens genauso schlechte Figur – und ist zudem an der EU-Grenz­schutz­agentur Frontex sowie dem Grenz­ab­kommen mit Libyen beteiligt.

Die Kritik an der EU recht­fer­tigt nicht das Fehlen einer Ausein­an­der­set­zung mit ihr. Niemals kann die Kritik an einem Natio­na­lismus sich mit dem Rückzug auf einen anderen begnügen. Linke dürfen weder eine libe­rale und asoziale Markt­öff­nung anstreben noch einen Provinzsozialismus. 

Kurz: Die EU muss sterben, damit wir leben können – aber die Schweiz muss es auch.

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