Die geret­tete Ehre des Joel Thüring

Das Online­ma­gazin Bajour findet in Joel Thüring einen gemäs­sigten Poli­tiker inmitten einer sich radi­ka­li­sie­renden SVP. Doch das ist mehr Wunsch­denken als Realität. Eine Medienkritik. 
Mit vermeintlich gemässigten SVP-Politiker:innen verhält es sich ein wenig wie mit Yetis (Foto: Wikicommons).

Mit gemäs­sigten SVP-Politiker:innen verhält es sich ähnlich wie mit Yetis: Viele meinen, die sagen­um­wo­bene Gestalt gesehen zu haben, doch meist entpuppt sie sich schluss­end­lich doch nur als Projek­tion eigener Wünsche.

Erst kürz­lich wieder­holte sich dieses Phänomen in einem Artikel des Basler Online­ma­ga­zins Bajour. Unter dem Titel „Thüring gegen die rechte Welt“ wird der SVP-Grossrat Joel Thüring als Stimme der Vernunft in einer sich radi­ka­li­sie­renden Volks­partei darge­stellt. Er sei ein Exot, viele seiner Freund:innen seien links, er sei für die Impfung (OHA!) und er stelle sich – wie der Titel sugge­riert – mutig gegen Rechts. Dafür sei er auf den sozialen Medien auch bereits als „Faschist“ belei­digt worden.

Zwar klingt auch leise Kritik im Artikel an: Thüring sei ein Hard­liner, teile scharf aus, betreibe Hetze gegen rumä­ni­sche Bettler:innen. Aber diese Kritik wird gleich im näch­sten Satz unter­graben, wenn sich Thüring von den „wissen­schafts­feind­li­chen Zerti­fi­kats- oder Impfgegner:innen“ abgrenzt und so als gemäs­sigt posi­tio­nieren kann.

Nun wirkt es viel­leicht anmas­send, einer Lokal­re­dak­tion in die Einschät­zung eines Lokal­po­li­ti­kers drein­zu­reden. Aber: Die Anti-Coro­nabe­we­gung sprengt Kantons­grenzen – und Thüring ist viel tiefer darin verstrickt, als uns der Artikel von Bajour glauben lässt.

Werbung mit den Freiheitstrychlern

Thüring ist Kolum­nist bei der rechts­na­tio­nalen Schweiz­erzeit. Seine letzte Kolumne „R(h)einschrift“ veröf­fent­lichte er vor einem Monat zum Thema Krimi­na­lität in Städten. So weit, so erwartbar. In der glei­chen Ausgabe verharm­lost Heraus­geber Ulrich Schlüer die gewalt­tä­tigen Ausschrei­tungen von zum Teil rechts­ra­di­kalen Massnahmengegner:innen auf dem Bundes­platz und verbreitet die Trump-Lüge, dass die „Antifa“ (sic!) die Demon­stra­tion eska­liert habe. Und nur zwei Seiten weiter schwur­belt der Thur­gauer SVP-Kantonsrat Hermann Lei von einer „angeb­lich tödli­chen Seuche“ und einem „angeb­li­chen Impf­schutz“. Verglei­chen wir das mit Joel Thüring im O‑Ton bei Bajour: „Leute, die nicht an die Pandemie glauben, kann ich nicht ernst nehmen.“ 

Nun muss ein Kolum­nist nicht jede Meinung mittragen, die im selben Medium veröf­fent­licht wird. Und viel­leicht liest er die Zeitung, für die er schreibt, nicht einmal. Aber wer im Impressum einer Zeitung als regel­mäs­siger Autor aufge­führt ist, trägt die Linie eines Mediums mit. Und im Fall der Schweiz­erzeit bedeutet das, sich hinter eine Publi­ka­tion zu stellen, die keine Berüh­rungs­ängste zur rechts­extremen Szene und zu Verschwörungstheoretiker:innen hat.

Bereits 2014 machte der Online­blog schlemihl.org bekannt, dass die Schweiz­erzeit in ihrem Online­shop rechts­extreme, anti­se­mi­ti­sche und isla­mo­phobe Bücher verkaufte. Den Online­shop gibt es inzwi­schen nicht mehr. Dafür schaltet die Zeitung seit Jahren ein Werbe­banner auf der Platt­form patriot.ch, die als Knoten­punkte der Anti-Mass­nah­men­be­we­gung funktioniert.

Seit Jahren schaltet die Schweiz­erzeit ein Banner auf der
rechts­aussen Platt­form patriot.ch (Foto: Screenshot).

Wer schaltet dort sonst noch Werbe­banner? Genau, die „Frei­heits­trychler“, mit denen Thüring so wenig gemeinsam haben will. Und habe ich bereits erwähnt, dass Schweiz­erzeit-Verleger Ulrich Schlüer in den 80er- und 90er-Jahren Schriften veröf­fent­lichte, die zugun­sten der Apart­heid­re­gie­rung in Südafrika ausfielen? Dass das dem Stadt­basler SVPler, mit seinem Velo und seinen linken Freund:innen, alles unbe­kannt ist, wirkt undenkbar.

Halb­her­zige Distanzierung

Das Problem mit der Suche nach gemäs­sigten SVP-Politiker:innen ist nicht nur, dass sie meistens erfolglos ist. Natür­lich gibt es jene Lokalpolitiker:innen, mit denen sich auch Linke auf die Finan­zie­rung des neuen Schul­hauses oder die Sanie­rung der Kantons­strasse einigen können. Und manchmal trifft man sich sogar auf ein Bier. Wenn die glei­chen Exponent:innen aber am Wochen­ende Unter­schriften für rassi­sti­sche Initia­tiven sammeln und am Parteitag Leute in die Partei­lei­tung wählen, die den Bundesrat einen Diktator nennen, ist die halb­her­zige Distan­zie­rung vom rechten Rand nichts wert. Schlimmer: Sie verschleiert die simple Wahr­heit, dass ein Poli­tiker, der in einer radikal rechten Partei Karriere macht und dort – wie Joel Thüring – eine Führungs­po­si­tion innehat, auch radikal rechts ist.

Das Bedürfnis, auch in der SVP noch vernünf­tige Exponent:innen zu finden, stammt wohl auch aus der unan­ge­nehmen Erkenntnis, dass in der Schweiz seit 1999 eine rechts­po­pu­li­sti­sche Partei das poli­ti­sche Geschehen domi­niert. Aber es ist wie mit den Yetis: Man kann sich ihre Existenz wünschen. Die Realität hingegen kann man nur beschreiben und analysieren.


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