„Wir verankern Grundrechte für Tiere. Sie sollen Rechtspersönlichkeiten werden und ein einklagbares Recht auf Würde, Leben sowie körperliche und geistige Unversehrtheit haben.“
So steht es im neuen Wahlprogramm, der „Agenda 2023–2027″, der Grünen Schweiz. Sie entstand aus einem Vorschlag der Partei-Geschäftsleitung und dem Feedback von Parteimitgliedern und wurde an der Delegiertenversammlung vom 28. Januar verabschiedet.
Grundrechte für Tiere einführen, das ist ja mal eine Ansage! Vor allem, wenn das als Ziel für die kommende Legislatur formuliert ist. Das sind gerade mal vier Jahre. Die meisten Tierrechtler*innen, ich selbst eingeschlossen, rechnen eher in Jahrzehnten oder halben Jahrhunderten.
Schaut einmal zum Fenster raus, wahrscheinlich seht ihr bald ein Tier. Sie sind die Mehrheit der Bevölkerung. Doch in der Schweizer Medienlandschaft werden sie meist ignoriert. Animal Politique gibt Gegensteuer. Nico Müller schreibt über Machtsysteme, Medien, Forschung und Lobbyismus. Und denkt nicht, es gehe immer „nur“ um Tiere. Ihre Unterdrückung hängt oft mit der Unterdrückung von Menschen zusammen. Animal Politique macht das sichtbar.
Nico Müller hat den Doktor in Tierethik gemacht und arbeitet an der Uni Basel. Daneben setzt er sich politisch für Tierschutz und ‑rechte ein, besonders mit dem Verein Animal Rights Switzerland.
Um das in Kontext zu setzen: Heute werden in der Schweiz über 80 Millionen Tiere pro Jahr für Fleisch getötet, über 500’000 für Tierversuche eingesetzt, über 100’000 in freier Wildbahn erschossen. Das wird durch das geltende Tierschutzrecht reguliert, es wird aber nicht verhindert oder vermindert. Es geht eher um das „Wie“ – wie man Tiere einsperren, verletzen, verstümmeln, voneinander trennen, transportieren und töten darf.
Tierleid muss laut Gesetz nur vermieden werden „soweit es der Verwendungszweck zulässt“. Manche Jurist*innen sprechen darum sarkastisch vom „Tier-nutz-recht“ statt vom „Tier-schutz-recht“. Und der Bund sieht die Ausbeutung und Tötung von Abermillionen Tieren jährlich grundsätzlich nicht als Problem, das man strategisch lösen muss.
Kurzum: Tiere haben heute keine Rechte und man merkt’s. Es wird massive und fundamentale Veränderungen in unserer Gesellschaft brauchen, damit Tierrechte umsetzbar werden. Die Grünen stecken sich ein gutes Ziel, aber es zu erreichen, dauert garantiert länger als vier Jahre.
Ist das den Grünen bewusst?
Von hundert auf null
Ja, es ist ihnen bewusst. Auf Anfrage teilt mir das Parteisekretariat mit, die Forderung nach Tierrechten sei eher als langfristige Richtungsangabe gemeint, nicht als Realpolitik. Dafür habe man auch andere Forderungen zum Tierschutz im Programm und die seien umsetzbarer.
Einmal gehe es um Tierversuche: „Wir verbessern den Tierschutz in der wissenschaftlichen Forschung: Tierversuche sollen so weit wie möglich ersetzt (replace), verringert (reduce) und verbessert (refine) werden. Belastende Tierversuche an Primaten werden weitgehend abgeschafft.“
Aber dieses 3R-Prinzip – „replace, reduce, refine“ – ist bereits fixer Bestandteil des Bewilligungsprozesses für Tierversuche. Der Bund betreibt zudem ein 3R-Kompetenzzentrum und ein grosses 3R-Forschungsprojekt, um Tierversuche zu ersetzen. Was die Grünen hier fordern, ist nicht Realpolitik, sondern Stillstandspolitik.
Übrigens: „Reduce“ bedeutet nicht, wie es die Grünen suggerieren, dass die Gesamtzahl der Tierversuche reduziert wird. Es bedeutet, dass man pro Versuch so wenige Tiere einsetzt wie möglich. Die Gesamtzahlen können trotzdem steigen, wenn mehr Versuche stattfinden, und genau so war es in der letzten Statistik auch. Die Forderung der Grünen ist also nicht nur bereits erfüllt, sondern führt auch nicht zum Ziel.
Wie sieht es mit belastenden Primatenversuchen aus? Nun ja, es gibt sie durchaus in der Schweiz und sie werden kontrovers diskutiert. Aber aufs grosse Ganze gesehen sind sie eine seltene Ausnahme. Unter 574’673 Versuchstieren in der letzten Statistik waren weniger als 25 Primaten in belastenden Versuchen, und unter diesen wurde niemand schwerster Belastung („Schweregrad 3″) ausgesetzt.
Man kann argumentieren, jeder belastende Primatenversuch sei einer zu viel. Aber wer diese Versuche nicht „ganz“, sondern nur „weitgehend“ abschaffen will, so wie die Grünen, sollte schon zufrieden sein. Auch in diesem Punkt stellen die Grünen also eine Nullforderung.
Irgendwas mit Massentierhaltung
Einen letzten Punkt zum Tierschutz gibt es noch in der Agenda:
„Wir beenden die Massentierhaltung und setzen würdige Tierhaltungsstandards auf den Höfen in der Schweiz durch. Auch bei Importen ist das Tierwohl zu respektieren.“
Das ist sehr nah am Text der Massentierhaltungsinitiative, um deren 37 Prozent Ja-Stimmenden die Grünen hier vermutlich werben. Aber im Gegensatz zur Initiative definieren die Grünen nicht, was unter „Massentierhaltung“ und „würdigen Tierhaltungsstandards“ zu verstehen ist.
Und auch wie die Durchsetzung dieser Haltungsbedingungen funktionieren soll – freiwillige Programme? Bedingungen für Direktzahlungen? Verbot mit Strafandrohung? – ist unklar. So können sich alle ein bisschen selbst vorstellen, was die Grünen da eigentlich fordern.
Und das wär’s dann zum Thema Tiere. Honorable mention: Die Grünen wollen – aus Klimagründen – die Steuermillionen für staatliche Fleischwerbung streichen und den Fleischkonsum durch bessere öffentliche Information senken. Das ist gut.
Aber was ist mit anderen Krisen, etwa dem mangelhaften Vollzug im Tierschutzrecht, der grotesken Überzüchtung von Hennen und anderen Nutztieren, dem Fehlen einer nationalen Tierversuchsstrategie, dem illegalen Welpenhandel oder den Jahr für Jahr weiter explodierenden Schlachtzahlen? Offenbar keiner Erwähnung wert.
Online hatte ein Mitglied darauf hingewiesen, dass Tiere mehr Platz im Wahlprogramm verdienen. Der dazugehörige Vorschlag für ein paar zusätzliche Zeilen schaffte es jedoch nicht ins Endprodukt.
Fazit: Die Grünen haben ein Herz für Tiere, aber können sich nicht so recht für sie interessieren. Was sie tierfreundlichen Wähler*innen anbieten – irgendwas mit Tierrechten, irgendwas mit Tierversuchen, irgendwas mit Massentierhaltung – ist gut gemeint. Aber es hat weder Hand noch Fuss.
Tierschutzpolitik braucht Strukturen
Man kann von der Geschäftsleitung der Grünen nicht erwarten, dass sie pfannenfertige Lösungen für alle Tierschutz-Dauerkrisen hat. Dafür ist das Thema viel zu gross und komplex.
Aber man könnte sich ja Hilfe holen, zum Beispiel von einer Arbeits- oder Fachgruppe für Tierschutz. Doch so eine Fachgruppe gibt es bei den Grünen nicht, teilt mir das Sekretariat mit. Wie kommen sie dann auf ihre Forderungen in Sachen Tierschutz?
„Wir sind agil und setzen auf Netzwerke, um Wissen und Kampagnen zu erarbeiten. Das ermöglicht uns, gezielt auf jene zuzugehen, die die nötigen Kompetenzen haben.“
Cool, cool, cool. Aber ich habe rumgefragt und offenbar wusste niemand etwas von der Tierrechtsforderung im Wahlprogramm. Weder Charlotte Blattner und Saskia Stucki, die einschlägigen Schweizer Expert*innen für Tiergrundrechte („Grundrechte für Tiere“, lesenswert!), noch die Tierrechtsvereine Animal Rights Switzerland, Tier im Fokus und Sentience noch das Team der Initiative für Primatengrundrechte in Basel.
Ich wage zu spekulieren: Hätte man diese Leute vor dem ersten Entwurf der Agenda kontaktiert, hätte man einen besseren Überblick über Tierschutzprobleme und Lösungsansätze gehabt. Das hätte richtig, richtig spannend werden können. Und das falsche Fachwort „Rechtspersönlichkeiten“ – es müsste „Rechtspersonen“ heissen – hätte man auch vermieden.
Gut, das kann ja alles noch werden. Doch der Handlungsbedarf ist klar: Die Grünen müssen Strukturen aufbauen, um sich ernsthaft mit Tierschutzthemen beschäftigen zu können. Eine Fachgruppe wäre ein guter Anfang – eine, die tatsächlich mit Expert*innen spricht. Man könnte zum Beispiel Positionspapiere zu den grössten Tierschutzkrisen erarbeiten. Oder für den Anfang wenigstens einen Themenbereich für die eigene Webseite.
Um tierfreundliche Wähler*innen abzuholen – nein, um etwas für die Tiere zu erreichen! –, müssen die Grünen bis 2027 jedenfalls etwas Handfesteres vorlegen können.
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