„Die Hexen­ver­fol­gungen waren kein syste­ma­ti­scher Krieg gegen die Frauen“

Unter Feminist*innen werden Silvia Fede­ricis Werke über die Hexen­ver­fol­gung und die Entste­hung des Kapi­ta­lismus gerne gelesen. Doch hängen die beiden Phäno­mene über­haupt zusammen? Histo­ri­kerin Claudia Opitz Belakhal zwei­felt daran. 
Darstellung einer Hexenverbrennung in Derenburg um 1555. (Foto: WikimediaCommons)

Die Bücher der femi­ni­sti­schen Theo­re­ti­kerin Silvia Fede­rici werden mitt­ler­weile fleissig gelesen – vor allem von Feminist*innen, Philosoph*innen und kriti­schen Sozialwissenschaftler*innen. Historiker*innen hingegen haben ihre Werke gröss­ten­teils ignoriert.

Das verwun­dert, weil sich Fede­rici in ihrem mitt­ler­weile fast zwanzig Jahre alten Buch „Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüng­liche Akku­mu­la­tion“ intensiv mit dem Spät­mit­tel­alter und der Frühen Neuzeit befasste. Sie erzählt darin die Geschichte des Kapi­ta­lismus aus Sicht der Frauen, der Versklavten und der Arbeitenden.

Eine von Fede­ricis Haupt­thesen lautet, dass der Kapi­ta­lismus nicht nur Lohn­ar­bei­tende produ­zierte, indem er die Menschen vom Land vertrieb. Die klas­si­sche Erzäh­lung dessen, was Marx die „ursprüng­liche Akku­mu­la­tion“ nannte, wird von ihr femi­ni­stisch erwei­tert. Denn gleich­zeitig, so Fede­rici, seien auch Frauen diszi­pli­niert, ihre Körper zu Gebär­ma­schinen degra­diert und aus vielen gesell­schaft­li­chen Berei­chen ausge­schlossen worden. Die Hexen­ver­fol­gungen vom 15. bis zum 17. Jahr­hun­dert sind für sie die besten Beispiele für diese Prozesse.

Fede­ricis Geschichte ist jedoch auch eine gegen­warts­be­zo­gene. Denn für sie dauern diese Prozesse der ursprüng­li­chen Akku­mu­la­tion bis in die Gegen­wart. So entwickelt sie eine Perspek­tive, mit der auch gegen­wär­tige Krisen­phä­no­mene und Wider­stands­formen in den Blick geraten: Von den Angriffen gegen Abtrei­bungs­rechte und gegen die Selbst­be­stim­mung von queeren Menschen über die Enteig­nung von indi­genen Gemein­schaften bis hin zu den Kämpfen von Migrantinnen.

Im Inter­view spricht Claudia Opitz Belakhal über „Caliban und die Hexe“ und dessen histo­ri­sche Rele­vanz. Sie ist emeri­tierte Profes­sorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Univer­sität Basel. Ihr Forschungs­schwer­punkt liegt bei der Frauen- und Geschlech­ter­ge­schichte vom Spät­mit­tel­alter bis zum 18. Jahrhundert.

Das Lamm: Claudia Opitz Belakhal, wie erklären Sie sich, dass Silvia Fede­ricis Buch „Caliban und die Hexe“ von Historiker*innen so wenig rezi­piert wird?

Claudia Opitz Belakhal: Mir ist immer noch nicht klar, warum das Buch in der histo­ri­schen Fach­welt totge­schwiegen wurde und wird. Selbst 2004, als das Buch in den USA erschien, gab es keine Rezen­sion in histo­ri­schen Fach­zeit­schriften. Das kann ich mir auch nicht ganz erklären. Ausser mit der Fest­stel­lung, dass vieles im Buch unglaub­lich altmo­disch klingt.

Das ist auch nicht über­ra­schend, weil Silvia Fede­rici sich erst­mals vor über vier Jahr­zehnten mit der Thematik befasste und dort ihre Kern­thesen entwickelte. Schon 1984 veröf­fent­lichte sie mit der italie­ni­schen Femi­ni­stin Leopol­dina Fort­u­nati das Buch „Il grande Cali­bano“. Die dort vertre­tenen Kern­thesen und Grund­ideen werden in “Caliban und die Hexe” noch­mals wieder­holt und modernisiert.

Fede­rici ist sehr durch die italie­ni­sche Frau­en­be­we­gung der 1970er Jahre geprägt, die damals eine inter­es­sante, auch für mich prägende Posi­tion zur Frau­en­be­we­gung entwickelte. Aus diesem Kontext kommt vor allem die Forde­rung “Lohn für Haus­ar­beit”, die Fede­rici mitentwickelte.

Hier liegen, so scheint mir, die Brücken zur aktu­ellen Rezep­tion in zeit­ge­nös­si­schen femi­ni­sti­schen Bewe­gungen – selbst wenn es heute nicht mehr um Lohn für Haus­ar­beit geht, sondern eher um Sorge­ar­beit als ökono­mi­sches und gesell­schaft­li­ches Problem. Es steckt also sehr viel in diesem Buch und es spricht auch viel für die Autorin, die sehr authen­tisch für viele dieser Diskus­sionen steht und femi­ni­sti­sche Posi­tionen entschei­dend mitge­prägt hat.

Das Buch hat also eine lange Entste­hungs­ge­schichte. Können Sie ausführen, wo der Ton der 1980er Jahre beson­ders gut durchdringt?

Man findet das schon im ersten Kapitel, in dem es um soziale Bewe­gungen und die Krisen im Spät­mit­tel­alter geht. Beides waren Themen meiner eigenen wissen­schaft­li­chen Sozia­li­sa­tion, als ich 1978 zu studieren begann. Aber seither hat sich die Forschung stark weiter­ent­wickelt. Die marxi­sti­sche Geschichts­theorie wurde als teleo­lo­gisch und empi­risch nicht gut begründet kriti­siert. Über­haupt wurde die Komple­xität von Macht­pro­zessen, Herr­schafts­aus­übung und ökono­mi­schem Wandel hervor­ge­hoben gegen­über mono­kau­salen Erklärungen.

Fede­rici aber bleibt bei diesen Theorie- und Erklä­rungs­an­sätzen aus den 1970er und 1980er Jahren, letzt­lich auch, weil sie eine einge­fleischte Marxi­stin ist, selbst wenn sie marxi­sti­sche Konzepte wie die ursprüng­liche Akku­mu­la­tion einer femi­ni­sti­schen Revi­sion unter­zieht. Ihre Heran­ge­hens­weise an die Geschichte ist eher theo­re­tisch und makro­hi­sto­risch geprägt. Der Versuch, die ursprüng­liche Akku­mu­la­tion zu verstehen, prägt ihren Blick auf alle Phäno­mene, die ihr über den Weg laufen.

„Die bis dahin prak­tisch ausschliess­lich von Männern betrie­bene akade­mi­sche Hexen­for­schung igno­rierte die Tatsache, dass bis zu 90 Prozent der Opfer der Hexen­ver­fol­gungen in Europa weib­lich waren.“

Claudia Opitz Belakhal

Prägend für “Caliban und die Hexe” waren laut Fede­rici ihre Erfah­rungen in Nigeria, wo sie Mitte der 1980er Jahre die sozialen Folgen der neoli­be­ralen Struk­tur­an­pas­sungen durch den Inter­na­tio­nalen Währungs­fonds (IWF) beob­ach­tete: Enteig­nung der Bäuer*innen, geschlech­ter­spe­zi­fi­sche Gewalt, Diszi­pli­nie­rung der Arbeiter*innen. Das Buch schlägt damit einen grossen theo­re­ti­schen Bogen von den Hexen­ver­fol­gungen der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart.

Dieser Vergleich zwischen dem Heute und dem Damals prägt das Buch tatsäch­lich sehr stark. Nun ist es aber so, dass es einen solchen Währungs­fonds oder auch andere den Kapi­ta­lismus stüt­zende Insti­tu­tionen weder im Mittel­alter noch in der Frühen Neuzeit gab. Das ist meiner Meinung nach einer der grössten Webfehler des Buchs. So fällt die Anders­ar­tig­keit der vormo­dernen Welt komplett unter den Tisch gegen­über dem Nach­zeichnen von Schä­di­gungen, die der frühe Kapi­ta­lismus in der Welt, an den Unter­schichten, an den Sklav*innen und an den Frauen und ihren Körpern verübte.

Zu diesen Gewalt­phä­no­menen gegen­über Frauen zählt Fede­rici ganz entschei­dend die Hexen­ver­fol­gung, die ihr zufolge eng mit der Entste­hung des Kapi­ta­lismus und der Kolo­nia­li­sie­rung zusam­men­hing. Sie spricht in diesem Zusam­men­hang auch von einem “Krieg gegen die Frauen” oder einer “Frau­en­ver­fol­gung” – eben­falls Begriffe, die in den 1980er Jahren auftauchen.

Mit diesen Begriffen fing Mitte der 1970er Jahre das revival der Hexen­for­schung an. Die bis dahin prak­tisch ausschliess­lich von Männern betrie­bene akade­mi­sche Hexen­for­schung igno­rierte die Tatsache, dass bis zu 90 Prozent der Opfer der Hexen­ver­fol­gungen in Europa weib­lich waren. Das revival setzte dann ausser­halb der Univer­si­täten ein, etwa in der anglo­ame­ri­ka­ni­schen Frau­en­ge­sund­heits­be­we­gung. Mit dem Slogan “our bodies – ourselves” versuchten die Frauen, sich von der Macht der männ­lich domi­nierten Gynä­ko­logie zu befreien, sich Wissen über den eigenen Körper und Verhü­tungs­mittel anzueignen.

In dieser Bewe­gung wurde dann bald ein Zusam­men­hang zur Hexen­ver­fol­gung herge­stellt. Das geschah über die Figur der Hebamme und der „weisen Frau“. Ihr Verhü­tungs­wissen sei durch die Hexen­ver­fol­gung syste­ma­tisch ausge­rottet worden, um die übrigen Frauen zu Gebär­ma­schinen umzu­funk­tio­nieren, so die Über­zeu­gung. Es entstand die irrige Vorstel­lung, dass es schon eine jahr­hun­der­te­alte staat­liche Unter­drückung von weib­li­chem Verhü­tungs­wissen und Gebur­ten­kon­trolle gegeben habe. So stand die Erfor­schung der Hexen­ver­fol­gung – man könnte sogar von einem Ausschlachten spre­chen – sehr im Zentrum der Frau­en­be­we­gung ab den 1970er Jahren.

Weshalb handelt es sich bei der These einer syste­ma­ti­schen Verfol­gung von Hebammen und soge­nannt „weisen Frauen“ um eine irrige Annahme?

Zum einen wurde diese These nicht gut mit histo­ri­schen Quellen unter­füt­tert. Das gilt, wenn auch in einem gerin­geren Ausmass, auch für “Caliban und die Hexe”. Die frühen Thesen basieren haupt­säch­lich auf einer etwa drei Seiten umfas­senden Polemik gegen die Hebammen in Hexen­hammer“ – ein 1486 erschie­nenes Buch, in dem der domi­ni­ka­ni­sche Inqui­sitor Hein­rich Kramer Hexen­prak­tiken umfang­reich beschrieb und zur Verfol­gung von Hexen aufrief. Das ist als Quel­len­basis sehr dünn.

Die These, dass Hebammen beson­ders gefährdet waren, lässt sich mit Hilfe der Quellen nicht erhärten und wurde in der Forschung dann auch fast flächen­deckend verneint. Aller­dings waren nicht nur Hebammen als Geburts­hel­fe­rinnen tätig. Zum einen gab es die verei­digten Hebammen in den Städten: Sie waren von der Hexen­ver­fol­gung tatsäch­lich über­haupt nicht betroffen, da sie eine hohe Sicher­heit und Auto­rität durch den Amtseid hatten.

Zum anderen aber gab es die weniger gere­gelte Geburts­hilfe auf dem Land, getä­tigt von Frauen, die nicht verei­digt waren. Von denen wurden tatsäch­lich nicht wenige als Hexen vor Gericht gezerrt. Aller­dings weniger als Hebammen oder Geburts­hel­fe­rinnen, sondern schlicht als Nachbarinnen. 

Was die Zeug*innenschaft betrifft, so gibt es prak­tisch keinen Unter­schied zwischen Männern und Frauen – beide denun­zierten Frauen und verdäch­tigten sie als Hexen. Aller­dings gibt es einen riesigen Unter­schied bei den Verdäch­tigten, die viel öfter weib­lich waren. Und dieses Phänomen ist tatsäch­lich erklärungsbedürftig.

„Es war eine von Frau­en­feind­lich­keit extrem durch­tränkte und aufge­la­dene Mobbing-Situa­tion, die sich in Gerichts­ver­fahren äussern konnte und durfte.“

Claudia Opitz Belakhal

Wenn “Krieg gegen die Frauen” keine passende Bezeich­nung ist: Wie könnte man diese Vorgänge statt­dessen bezeichnen?

Hexen­ver­fol­gungen waren zwar kein syste­ma­ti­scher „Krieg gegen die Frauen“, aber es war eine von Frau­en­feind­lich­keit extrem durch­tränkte und aufge­la­dene Mobbing-Situa­tion, die sich in Gerichts­ver­fahren äussern konnte und durfte. Aber: Die Hexen­ver­fol­gungen folgten keinem geord­neten Plan. Schon gar nicht spielten sie „dem Kapi­ta­lismus“ in die Hände. Dafür waren die Opfer zu zufällig und die wirt­schaft­li­chen Bela­stungen durch die Verfol­gung beträcht­lich. Bisweilen wurde bis zu einem Drittel aller Frauen einer Dorf­ge­mein­schaft hingerichtet.

Ist es diese fehlende über­ge­ord­nete Stra­tegie, die Sie dazu bringt, die Hexen­ver­fol­gung nicht als Krieg gegen die Frauen zu sehen?

Ja, das ist entschei­dend. Der Terminus „Krieg gegen die Frauen“ steht bei Fede­rici nicht alleine in der Land­schaft. Er ist verbunden mit dem Begriff der ursprüng­li­chen Akku­mu­la­tion. Er impli­ziert einen Hand­lungs­wille oder jeden­falls eine prägende und planende Kraft. Aber für diese gibt es keinen Beleg.

Man kann zum Beispiel zeigen, dass die Medien eine zentrale Rolle bei der Verbrei­tung der Hexen­angst gespielt haben. Man spricht auch regel­recht von einer “Ansteckung” der Hexen­panik, die sich von einer Region zu anderen verbrei­tete, ohne dass jemand das gezielt geför­dert hätte. Sogar das Gegen­teil war der Fall: Bisweilen versuchten die Obrig­keits­ver­treter mit allen Mitteln, eine „Hexen­panik“ zu unter­drücken und zu beenden.

„Die Hexen­ver­fol­gung in Europa war viel zu hete­rogen und dauerte zu lang an, um als gerich­tete, gezielte Verfol­gung bezie­hungs­weise als ‚Krieg‘ bezeichnet zu werden.“

Claudia Opitz Belakhal

Das lief also viel unge­ord­neter und zufäl­liger ab, als Fede­ricis Buch den Eindruck vermittelt?

Ja, es war mitnichten ein Prozess, der mit einer klaren Inten­tion nur von oben nach unten verlief. Zwar führten immer die Obrig­keiten die Prozesse. Das war nun einmal der Charakter der früh­neu­zeit­li­chen Gerichts­ver­fahren. Aber die Verfol­gungen waren in der Regel nicht geplant und eher zufällig, selbst wenn es Fürsten oder kirch­liche Obrig­keiten gab, die durch gezielte Verfol­gungen die Ordnung wieder­her­stellen oder eine neue Ordnung imple­men­tieren wollten.

Das zweite Problem ist, dass die Hexen­ver­fol­gung in Europa viel zu hete­rogen war und zu lang andau­erte, um als gerich­tete, gezielte Verfol­gung bezie­hungs­weise als „Krieg“ bezeichnet zu werden. In manchen Regionen, wie etwa in der heutigen Schweiz, begannen die Verfol­gungen schon im Spät­mit­tel­alter und endeten eher früher. In anderen Regionen, etwa in Ostmit­tel­eu­ropa, begannen sie erst viel später und dauerten dort aber dann auch länger. Und in manchen Städten und Regionen gab es prak­tisch gar keine Hexen­pro­zesse. Es wäre deshalb eigent­lich besser, von „Hexen­ver­fol­gungen“ im Plural zu sprechen.

Wie unter­scheiden sich diese verschie­denen Hexenverfolgungen?

Fede­rici stützt sich vor allem auf angel­säch­si­sche Autorinnen, die sich mit den Hexen­ver­fol­gungen in England befassen. Das ist aber nicht die typi­sche Form der Verfol­gung, wie sie in Konti­nen­tal­eu­ropa statt­ge­funden hat.

In England wie auch in Neueng­land gab es verhält­nis­mässig wenige Verfol­gungen, die meist „von unten“ ausgingen und wo der klas­si­sche Nach­bar­schafts­kon­flikt im Vorder­grund stand. Hier wurden häufig arme, alte Frauen Opfer der Verfol­gung. Der engli­sche Fall steht bei Fede­rici im Vorder­grund und passt gut in ihr Narrativ. Denn in England gab es tatsäch­lich sehr früh die Enteig­nung von gemein­schaft­lich genutzten Allmenden – die soge­nannten “enclo­sures” –, den frühen Kapi­ta­lismus und den frühen Kolo­nia­lismus. Das alles parallel zu einer Hexen­ver­fol­gung, die vor allem gegen Frauen gerichtet war. So bekommt man den Eindruck, das alles gehöre zusammen und bedinge sich gegenseitig.

Und in Kontinentaleuropa?

Dort kommen diese Phäno­mene nicht zusammen. Die grössten Skla­ven­trei­bende und Kolonist*innen zu jener Zeit sind die Spanier*innen. Doch in Spanien und Neu-Spanien gibt es prak­tisch keine Hexenverfolgung.

Ausserdem lautet eine von Fede­ricis Thesen, dass die Hexen­ver­fol­gung eine Antwort auf die Bevöl­ke­rungs­krise gewesen sei: Die Herr­schenden hätten den Frauen die Kontrolle über die Repro­duk­tion entrissen, um die Bevöl­ke­rung nach den Krisen des Spät­mit­tel­al­ters wieder wachsen zu lassen. Nun ist es aber so, dass gerade Frank­reich, wo ein relativ früh zentra­li­sierter Staat von einer bevöl­ke­rungs­po­li­ti­schen Sorge ange­trieben war, im 17. Jahr­hun­dert am aller­we­nig­sten Hexen­ver­fol­gungen kannte.

Die von Fede­rici behaup­teten Zusam­men­hänge sind also eher zufällig und nicht für alle Länder gültig?

Ja, da werden Zusam­men­hänge behauptet, die man nicht beweisen kann. Phäno­mene, die zeit­gleich passieren, müssen eben nicht dieselbe Ursache haben. Das ist eine der Haupt­schwä­chen von Fede­ricis Buch: Es wird alles passend gemacht.

Hingegen ist die Darstel­lung der Hexen­ver­fol­gung im Einzelnen bei Fede­rici gar nicht so falsch, abge­sehen von dieser Benen­nung als „Krieg gegen die Frauen“. Sie stützt sich dabei auch auf relativ aktu­elle Lite­ratur. Das Hexen­ka­pitel an sich stört mich somit weniger. Viel mehr stört mich die Verbin­dung mit dieser grossen These eines Zusam­men­hangs zwischen der ursprüng­li­chen Akku­mu­la­tion und der Hexenverfolgung.

„Je diffe­ren­zierter die histo­ri­sche Geschlech­ter­for­schung geworden ist, desto schwerer fällt es, allge­meine Aussagen zu treffen.“

Claudia Opitz Belakhal

Sie haben viele Beispiele genannt, die diese grosse Erzäh­lung von Fede­rici diffe­ren­zieren oder gar wider­legen. Aber könnte denn die Geschichts­wis­sen­schaft nicht über die komplexen und diffe­ren­zie­renden Fall­bei­spiele hinaus­gehen?

Dieses Bedürfnis sehe ich auch. Und es ist auch mein Ausgangs­punkt für weitere Über­le­gungen: Wie kann eine femi­ni­sti­sche Geschichts­per­spek­tive aussehen, wenn nicht so? Wie könnte eine grosse Erzäh­lung aussehen? Dazu gab es eine Zeit­lang viele Debatten, aber bisher noch keinen „grossen Wurf“.

Es ist tatsäch­lich so: Je diffe­ren­zierter die histo­ri­sche Geschlech­ter­for­schung geworden ist, desto schwerer fällt es, allge­meine Aussagen zu treffen. Im Grunde ist die Geschichts­wis­sen­schaft eine dekon­stru­ie­rende Wissen­schaft. Die grossen Erzäh­lungen haben wir häufig von aussen, von Sozialwissenschaftler*innen oder Philosoph*innen impor­tiert, um sie dann sorg­fältig ausein­an­der­zu­nehmen und zu widerlegen.

Wir suchen neue Beiträge für Geschichte Heute

In dieser monat­lich erschei­nenden Arti­kel­serie beleuchten Expert*innen vergan­gene Ereig­nisse und wie sie unsere Gesell­schaft bis heute prägen. 

Befasst auch du dich intensiv mit einem geschicht­li­chen Thema, das für das Lamm inter­es­sant sein könnte? Und möch­test du dieses einem breiten Publikum zugäng­lich machen und damit zu einem besseren Verständnis des aktu­ellen Zeit­ge­sche­hens beitragen? 

Dann melde dich mit einem Arti­kel­vor­schlag bei: geschichte.heute@daslamm.ch.

Nach Ihren Aussagen könnte man dieses Buch viel­leicht weniger als Geschichts­buch und mehr als ein femi­ni­stisch-marxi­sti­sches Theo­rie­buch bezeichnen. Was würden Sie einer Studentin raten, wie sie dieses Buch lesen sollte?

Das ist relativ schwierig. Denn es gibt kaum kriti­sche Lektüren des Buchs. Norma­ler­weise könnte man ja sagen: “Lies es und schau dir dann an, wie es bei der Fach­welt ankam.”  So mache ich es auch bei anderen Büchern, die relativ schräge Thesen vertreten. Nur zu sagen, “das ist alles veraltet”, finde ich auch nicht wirk­lich befrie­di­gend. Denn es gibt ja viele alte Bücher, die wirk­lich schlau sind.

Ich würde sicher raten, das Vorwort genau durch­zu­lesen und damit auch der Inten­tion und dem theo­re­ti­schen Stand­punkt der Autorin genauer auf den Grund zu gehen. Und dann würde ich darauf hinweisen, dass bei genauerem Hinsehen vieles nur behauptet und nicht belegt wird. Zwar hat Fede­ricis Buch zum Teil sehr lange Fuss­noten, aber sie kommt aus ihrem gedank­li­chen Gerüst, demzu­folge alles zusam­men­hängen und auf den heutigen Zustand der Welt und des Kapi­ta­lismus heraus­laufen muss, nicht heraus. Und das ist ohne jeden Zweifel aus geschichts­wis­sen­schaft­li­cher Perspek­tive ein Problem. Weil wir als Historiker*innen ja davon ausgehen, dass Geschichte immer offen ist, dass es immer Alter­na­tiven und Wider­sprüche im gesell­schaft­li­chen System oder im Handeln der Menschen gab.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 54 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 3068 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Mach Platz, Escher!

Die Schweizer Industrialisierung und Eschers Aufstieg wären ohne Sklaverei und die Arbeit von Migrant*innen nicht möglich gewesen. Doch eine ernsthafte Debatte um seine Statue blieb bislang aus. Künstlerische Interventionen könnten dies ändern.