In Kasachstan ist es in den letzten zwei Wochen zu heftigen Ausschreitungen gekommen, die zur Verhaftung von rund 12’000 Menschen geführt haben. Am vergangenen Freitag, nachdem Demonstrant:innen das Rathaus und weitere Regierungsgebäude gestürmt hatten, gab der amtierende Präsident Kassim-Schomart Tokajew dem Militär den Schiessbefehl. Der Ausfall des Internets im ganzen Land hat dazu geführt, dass nur noch wenige Informationen durchsickern. Das Staatsfernsehen Khabar 24 berichtet bisher von mindestens 164 Toten, darunter sollen sich auch Sicherheitskräfte befinden.
Der Auslöser der Proteste war eine Erhöhung des Preises für Flüssiggas, das Kasach:innen vorwiegend für ihre Autos verwenden. Obwohl die Region im Westen Kasachstans reich an Öl und Gas ist, haben sich die Preise Anfang Jahr verdoppelt. Subventionen wurden eingestellt. Doch die Wut geht längst über die Gaspreise hinaus. Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew, nach dem die kasachische Hauptstadt Nur-Sultan benannt ist, hat fast 30 Jahre über Kasachstan regiert. Niedergerissene Statuen deuten darauf hin, dass sich die Menschen in Kasachstan von ihm befreien wollen. Denn trotz seines Nachfolgers schwebt er wie ein Geist über der aktuellen Politik. Sozialgeograph und Zentralasienexperte Dr. Henryk Alff hat jahrelang in Kasachstan gelebt, studiert und gearbeitet – zuletzt im Herbst 2021. Das Lamm hat mit ihm über die Lage in Kasachstan gesprochen.
Nachdem die Sowjetunion 1991 zerfiel, erlangte das zentralasiatische Land die Unabhängigkeit. Die Bevölkerung von rund 20 Millionen Menschen setzt sich aus zahlreichen Ethnien zusammen. Kasach:innen und Russ:innen machen den grossen Teil aus. Usbek:innen und Ukrainer:innen, Uigur:innen, Tatar:innen und Deutsche bilden den kleineren Teil der Bevölkerung.
Der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew, nach dem die kasachstanische Hauptstadt Nur-Sultan benannt ist, regierte das Land rund 30 Jahre, bis er 2019 von Kassym-Schomart Tokajew als Präsident mit Unterstützung des Premierministers Askar Mamin abgelöst wurde.
Die Partei Nasarbajews hält bis heute die absolute Mehrheit im Parlament. Zeitweise gab es keinen einzigen Vertreter der Opposition. Kasachstan ist eines der rohstoffreichsten Länder der Erde. Es verfügt über umfassende Erdöl- und Erdgasvorkommen sowie viele andere Bodenschätze wie Zinn, Uran, Gold und Kupfer.
Das Lamm: Herr Alff, die aktuellen Aufstände in Kasachstan scheinen vorerst beendet. Was waren die Hauptforderungen der Demonstrant:innen?
Henryk Alff: Das lässt sich nicht so einfach herunterbrechen und variiert nach Region. Leider ist das Internet im ganzen Land seit Tagen mit wenigen Ausnahmen offline und somit auch der freie Fluss an Information aus erster Hand unterbrochen. Soweit wir wissen, gehen die Forderungen weit über die Rücknahme der Gaspreiserhöhungen und den Rücktritt der Regierung hinaus. Bei der Bevölkerung hat sich über Jahre hinweg Frustration angestaut über die herrschenden Eliten; vor allem über das Umfeld Nasarbajews, dem nachgesagt wird, sich schamlos an den reichen Ressourcen und Möglichkeiten des Landes bereichert zu haben. Aus Gesprächen mit ansässigen Kolleg:innen hörte ich im Vorfeld der Proteste oft, dass die jetzigen Eliten weg beziehungsweise durch eine verjüngte Politikergeneration mit echtem Reformwillen ersetzt werden müssten.
Dr. Henryk Alff forscht seit rund 20 Jahren vor allem zu postsowjetischen Migrationsprozessen in der Region sowie zu Dynamiken der Handelsentwicklung im Grenzgebiet von Kasachstan und China. Derzeit betreut Henryk Alff an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE), 30 Kilometer nördlich von Berlin, ein fünfjähriges Forschungsprojekt zu landwirtschaftlichen Transformationsprozessen und Bioökonomie-Entwicklungen in Kasachstan.
Die Pressebilder erweckten den Anschein, dass es sich um eine homogene Protestbewegung handelt. Stimmt das?
Nein, eine landesweit einheitliche Bewegung gibt es nicht. Das hängt auch damit zusammen, dass seit Jahren jede Form der Opposition – ja, sogar öffentlichen kritischen Verhaltens – im Keim erstickt wird. Nationale Führungspersönlichkeiten, die dem Protest eine einheitliche Stimme verleihen könnten, gibt es nicht. Nach den letzten Tagen weist zudem vieles darauf hin, dass die Situation ausser Kontrolle geraten ist. Vor dem Hintergrund der koordinierten Angriffe auf Sicherheits- und Regierungsinstitutionen wird von einem organisierten Staatsstreich durch Personen aus dem Umfeld von Ex-Präsident Nasarbajew beziehungsweise genereller von Machtkämpfen zwischen den Eliten gesprochen.
Was ist an diesem „Putschversuch“ dran?
Die Theorie des Staatsstreichs hat sich inzwischen zum Narrativ der Regierung entwickelt. Sie wird auch durch die Festnahme des ehemaligen Geheimdienstchefs Karim Massimow wegen Hochverrats gestützt. Massimow, ein Mann aus Nasarbajews Reihen, war seit rund zwei Jahrzehnten einer der einflussreichsten Politiker Kasachstans. Er hatte hervorragende Verbindungen nach Hongkong, wohin viele Milliarden aus dem Rohstoffgeschäft geflossen sein sollen. In Kasachstan kursieren Gerüchte, wonach Massimow im Auftrag von Mitgliedern der Nasarbajew-Familie versucht haben soll, unter dem Vorwand der Proteste Tokajew zu stürzen. Dieses Narrativ diskreditiert die Proteste insgesamt als das Werk von „Terroristen“. Das erfordert jedoch eine genauere Überprüfung, die derzeit aufgrund schlechter Informationslage kaum möglich ist.
Grundsätzlich wird diese Rhetorik meistens dann von Autokraten angewendet, wenn diese staatliche Repression rechtfertigen wollen. Immerhin ist aktuell die Rede von fast 200 Toten binnen einer knappen Woche!
Es stimmt, dass solche Kampfbegriffe gern angewandt werden, um politische Gegner:innen zu diffamieren. An den Unruhen scheinen regional sehr unterschiedliche Gruppen beteiligt gewesen zu sein. Sowohl friedliche Demonstrierende als auch bewaffnete Angreifer, die relativ koordiniert zahlreiche Regierungsgebäude und den Flughafen von Almaty gestürmt haben. Tokajew bezeichnet Letztere als Terroristen, so wie ich ihn bei seiner Rede an die Nation verstanden habe. Davon abgesehen sind seine Aussagen zu NGOs und unabhängigen Medien hochproblematisch. Er hat vergangenen Freitag die Rolle von einzelnen zivilgesellschaftlichen Aktivist:innen, Blogger:innen und webbasierten Medien in den Protesten als unverantwortlich und antidemokratisch gerügt. Dies weist auf ein mangelndes Verständnis hin, welch entscheidende Bedeutung unabhängige Berichterstattung in einer Gesellschaft ohne freie Presse haben kann und sollte.
In dieser Rede hat er aber auch mehrere Zugeständnisse gemacht. Wie schätzen Sie diese ein?
Er kündigte eine Reform der Sicherheitsorgane, relativ weitreichende Schritte im Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit und die Korruption an. Das ist immerhin ein Ansatzpunkt. Da es aber noch nie freie Wahlen gegeben hat und Tokajew, falls er es ernst meint, mit vielen alten Führungskräften wird zusammenarbeiten müssen, bin ich skeptisch.
Es ist das erste Mal, dass es in der neueren Geschichte Kasachstans zu so grossen Protesten kam. Weshalb jetzt?
Vor acht Jahren kam es zu landesweiten gewalttätigen Protesten gegen die befürchtete Verpachtung von Land an ausländische Konzerne. Auch 2018 und 2019 gab es gelegentliche Proteste. Doch der jetzige Aufstand stellt in der Tat einen Präzedenzfall in der Geschichte des Landes dar, sowohl in seinem Ausmass als auch in seiner Wirkung. Er kommt nicht gänzlich unerwartet, aber wird Kasachstan sehr nachhaltig verändern, nicht zuletzt auch wegen des Einsatzes der ausländischen „Friedenstruppen“.
Damit sprechen Sie die Truppen des OVKS-Vertrags über kollektive Sicherheit an, dem Militärbündnis zwischen Russland, Armenien, Weissrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan.
Von vielen Seiten wurde die schnelle Anforderung dieser Truppen als eilige Reaktion Tokajews auf den versuchten „Staatsstreich“ bewertet. Hierzu fehlen jedoch verifizierbare Informationen. Von der kasachischen Regierung und aus Russland selbst hört man beschwichtigende Töne: Die ausländischen Soldaten würden die kasachischen Sicherheitskräfte lediglich unterstützen und auf beschränkte Zeit im Land bleiben. Tokajew hat nun bereits den Abzug der Truppen angekündigt und die Mission als abgeschlossen erklärt. Die kommenden Wochen werden zeigen, wie es weitergeht.
Was sagt das über den Konflikt aus?
Kasachstan gilt seit drei Jahrzehnten als verlässlicher und stabiler Partner Russlands, was angesichts der mehr als 7’000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze geschätzt wurde. Die Proteste in Kasachstan kommen der russischen Führung insoweit nicht wirklich gelegen, auch vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts. Auch das „kasachische System“ der friedlichen Machtübergabe vom Langzeitherrscher Nasarbajew an seinen Nachfolger Tokajew, das als Vorbild für das System Putin diskutiert wurde, ist damit gescheitert.
Die russischen Truppen im Land, die den Grossteil der „Friedenstruppen“ stellen, dürften aber auch nicht umsonst gekommen sein: Politische Zugeständnisse Kasachstans an die russische Führung – etwa, dass Kasachstan im Gegenzug die russische Politik auf internationalem Parkett unterstützt – könnten beispielsweise daraus abgeleitet werden. Die kasachische Regierung hatte in der Vergangenheit trotz enger Beziehungen zu Russland die Annexion der Krim nie positiv bewertet. Vor allem aus der Befürchtung heraus, dass Russland auch Einfluss auf die russisch besiedelten Regionen in Nord- und Ostkasachstan ausüben könnte.
Einige der heftigsten Ausschreitungen haben in Almaty stattgefunden, die damalige Hauptstadt der kasachischen Sowjetrepublik – warum gerade dort?
Almaty ist mit Abstand die grösste Stadt des Landes und das wichtigste Wirtschaftszentrum. Seit der Unabhängigkeit ist die Stadt durch Zuwanderung von gut einer Million auf inzwischen rund drei Millionen Einwohner:innen angewachsen. Viele Zugewanderte und vor allem Kasach:innen wohnen jedoch unter prekären Verhältnissen, sind oft arbeitslos und leben unter der Armutsgrenze. Hinzu kommt die nicht überprüfbare Theorie mit dem Staatsstreich, der sich auf Almaty als ehemalige Hauptstadt konzentriert haben soll. Zusehends vervollständigen jedoch auch Nachrichten aus den Gebietshauptstädten das Gesamtbild der Lage im Land. Auch jenseits der grossen Zentren ist es zu heftigen Ausschreitungen und Gefechten gekommen.
Präsident Tokajew baut im Schatten des Aufstandes die Regierung um und beseitigt den Geist von Ex-Präsidenten Nasarbajew.
Der Geist Nasarbajews ist ja sehr real. Bis zu den Protesten stand der Ex-Präsident als lebenslanger Chef des Nationalen Sicherheitsrates hinter Tokajew. Das war allgemein bekannt. Nasarbajew hatte bei vielen Schlüsselentscheidungen ein erhebliches Mitspracherecht. Tokajew scheint sich davon jetzt befreien zu wollen. Ob Nasarbajew noch im Land ist oder nicht, darüber herrscht Rätselraten: Er wurde seit zwei Wochen nicht mehr in den Medien gesehen und kommuniziert spärlich über seinen Pressesekretär.
Was ist Tokajews Taktik?
Das Problem ist, dass die Proteste durch sein taktisches Verhalten ausgelöst wurden. Die kasachischen Eliten wurden von den Protesten letzte Woche kalt erwischt. Hastig wurden kleinere Zugeständnisse gemacht, die aber wohl kaum jemanden in Kasachstan zufriedengestellt haben. Der schnelle Wechsel hin zu Gewalt und zur generalisierenden Terrorismusrhetorik befeuert die Staatsstreichtheorie. Davon abgesehen bleibt abzuwarten, wie Präsident Tokajew mittelfristig auf die Unzufriedenheiten in der Bevölkerung reagieren wird. Hinsichtlich nachhaltiger Reformen in Kasachstan ist und bleibt Skepsis angebracht.
Hat eine Demokratisierung in Kasachstan eine reelle Chance?
Im Land gibt es keine Oppositionsparteien, wie wir sie kennen. Muchtar Abljasow, Ex-Bankier und Chef der in Kasachstan selbst verbotenen Partei Demokratische Wahl Kasachstans, stilisierte sich erst kürzlich wieder selbst als Oppositionsführer. Er lebt in Frankreich im Exil. Seine Verbindung zu den Protesten scheint mir allerdings zweifelhaft und seine baldige Rückkehr angesichts seiner Verurteilung durch kasachische Gerichte zu hohen Gefängnisstrafen eher unwahrscheinlich. Wie es mit den Protesten und insgesamt mit der Frustration der Bevölkerung weitergeht, ist völlig offen. Für tiefgreifende Reformen bräuchte es neues politisches Personal auf allen Verwaltungsebenen und freie Wahlen – die es allerdings in der Geschichte Kasachstans noch nie gegeben hat.
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