Die Krise als Chance? Bei der NZZ schnup­pern die Neoli­be­ralen Morgenluft

Während man sich vieler­orts noch um die Gesund­heit sorgt und die bishe­rigen Spar­übungen der vergan­genen Jahre im Gesund­heits­be­reich kriti­siert, träumt man andern­orts bereits von einer Reor­ga­ni­sie­rung der Gesell­schaft nach der Krise. Eine Abrech­nung mit der (neo)liberalen Meinungs­sparte in Zeiten von COVID-19. 

„Nur eine Krise – sei es eine echte oder ledig­lich eine empfun­dene – erzeugt wirk­liche Verän­de­rung“, so lautet eine der Weis­heiten des neoli­be­ralen Vorden­kers Milton Friedman. Der Befür­worter des entfes­selten Marktes lehnte staat­liche Eingriffe strikt ab. Statt­dessen sollte sich der Markt selbst regulieren.

In dieser Vorstel­lung haben Krisen das Poten­zial zur Erneue­rung. Tatsäch­lich führten kriti­sche Situa­tionen in der Geschichte des Kapi­ta­lismus immer wieder zu gesell­schaft­li­chen Umwäl­zungen. Das jüngste Beispiel hierfür ist die Finanz­krise 2008, welche, so das Narrativ der Libe­ralen, die Einfüh­rung neuer Arbeits­formen erleich­terte. Aus linker Perspek­tive mussten Menschen aufgrund von Entlas­sungs­wellen und neuen Über­le­bens­stra­te­gien vermehrt flexi­bi­li­sierte Jobs annehmen. Von der wirt­schaft­li­chen Seite aus betrachtet, förderte die Krise hingegen ein neues Angebot. Es entstanden beispiels­weise Platt­formen für Mikro­job­be­rInnen und andere digi­ta­li­sierte Arbeitsvermittlungen.

Der Virus als Neuanfang

Beim Mutter­blatt des Libe­ra­lismus, der NZZ, scheint man zu hoffen, dass die COVID-19-Pandemie – ganz im Sinne von Friedman – eine neue Digi­ta­li­sie­rungs­welle auslösen wird. Milosz Matu­schek beispiels­weise versteht in seiner NZZ-Kolumne die gegen­wär­tige Krise als „Geburts­hel­ferin des Neuen“. Der stell­ver­tre­tende Chef­re­daktor des Schweizer Monats und regel­mäs­sige Kolum­nen­schreiber der NZZ aner­kennt die schwie­rige Lage durchaus. So hätten die aller­mei­sten Menschen gegen­wärtig mit Einschrän­kungen und einer oftmals schmerz­haften Entschleu­ni­gung ihres Lebens zu kämpfen. Doch jede Krise sei zugleich ein „Kata­ly­sator des Fortschritts“.

Fort­schritt bedeutet in Matu­scheks Fall aller­dings nicht, dass wir uns in Zukunft besser gegen Krisen wappnen oder unser zur Ware gewor­denes Gesund­heits­sy­stem ausbauen sollten, sondern dass wir die Situa­tion als Chance sehen, „zahl­reiche Entwick­lungen weit­flä­chig anzu­stossen“. So entstehen „ganz neue Formen der Orga­ni­sa­tion des Alltags“, beispiels­weise „online-Kurse für Schüler, Betreu­ungs-Apps, online vermit­telte Nach­bar­schafts­hilfe, Home-Office“. Die Aufzäh­lung illu­striert, worum es Matu­schek im Kern geht: Endlich besteht die Chance einer umfas­senden Digi­ta­li­sie­rung samt dem Ausbau stän­diger Erreich­bar­keit, Arbeits­auf­wand und neuem Druck in verschie­denen Lebensbereichen.

Über­steht die Welt die Pandemie, dann wird die kommende Gesell­schaft im besten Fall „resi­li­enter und robu­ster“ als die unsrige es bisher war, so die Vorher­sage des Juri­sten und NZZ-Gast­kom­men­ta­tors Daniel Dett­ling. Das klingt doch ganz gut, wer wünscht sich gegen­wärtig kein wider­stands­fä­hi­geres Gesund­heits­wesen und eine soli­da­ri­schere Gesell­schaft? Doch das ist damit natür­lich nicht gemeint. Dett­ling will eine „Dezen­tra­li­sie­rung von Märkten und Wert­schöp­fungs­ketten bei gleich­zei­tiger Inten­si­vie­rung koope­ra­tiver Systeme“. Wider­stands­fähig soll nicht die Mensch­heit werden, sondern das Wirtschaftssystem.

Die Voraus­set­zungen hierfür seien gemäss Dett­ling längst gegeben: „Versamm­lungen und Sitzungen im Internet, Home-Office, Tele­me­dizin, neue Formen der Mobi­lität.“ Ein Beispiel gefällig? „Frank­reich hat damit begonnen, Sprech­stunden von Ärzten per Whatsapp abzu­halten.“ Dies wünscht man sich auch in der Schweiz. Der Anbieter Medgate beispiels­weise, der auch die Corona-Hotline des Bundes betreut, treibt die Digi­ta­li­sie­rung des Gesund­heits­we­sens seit Jahren aggressiv voran. Es ist jedoch frag­lich, ob die digi­ta­li­sierten Sprech­stunden tatsäch­lich zu der Heraus­bil­dung einer robu­steren Zukunft beitragen. Zumin­dest gibt es gute Gründe, wieso sich diese Vision (noch) nicht flächen­deckend durch­ge­setzt haben.

Es ist nicht so, wie von Neoli­be­ralen ange­führt, dass sich Menschen einfach der Digi­ta­li­sie­rung verwei­gern. Doch vieler­orts ist man über­zeugt davon, dass der soziale Kontakt auch in der Pflege und der Gesund­heit wichtig ist. Zudem haben sich soge­nannte neue Arbeits­formen in den letzten Jahren immer wieder als versteckte Spar­mass­nahmen heraus­ge­stellt. Wer etwa seine Pati­en­tInnen per Whatsapp abfer­tigen kann, ist nicht nur flexi­bler verfügbar, er oder sie kann auch mehr Pati­en­tInnen in immer kürzerer Zeit betreuen. Doch die aktu­elle Krise zeigt, dass es im Gesund­heits­wesen nicht mehr Massen­ab­fer­ti­gung braucht – auch nicht in digi­ta­li­sierter Form.

Abwäl­zung nach unten

Bei der NZZ weiss man durchaus, was mit der herbei­ge­sehnten Umwäl­zung auf uns zukommt und auf welchen Schul­tern die Last ausge­tragen werden soll. „Ein Lohn­opfer für Mitar­beiter der öffent­li­chen Hand wäre ein Akt der Soli­da­rität mit der gebeu­telten Wirt­schaft“, meint beispiels­weise Daniel Gerny von der Bundes­haus­re­dak­tion der NZZ in seinem Kommentar zur aktu­ellen Lage. Will heissen: Bezahlen sollen wir die Krise gefäl­ligst selbst. Deshalb, schreibt der deut­sche Japa­no­loge Florian Coulmas in seinem Gast­kom­mentar zur Coro­na­krise, brau­chen wir den Blick ins Ausland. Insbe­son­dere von Japan lernen wir, dass es neben der „Rück­sicht­nahme“ vor allem eins braucht: „Diszi­plin“.

Diese aller­dings gilt nur für all jene, die zukünftig einen Gang zurück­schalten und Verzicht üben sollen. In ekla­tanter Doppel­moral dazu fordert man hingegen für Unter­nehmen bereits jetzt präventiv Frei­heiten. Sie sollen die Krise möglichst unbe­schadet über­stehen. Dafür dürfen gemäss Chri­stoph Eisen­ring auch mal Fehler passieren. So legi­ti­miert der NZZ Wirt­schafts­re­daktor in seinem Kommentar schon jetzt kommende Fehl­ent­wick­lungen: „Bei unbü­ro­kra­ti­scher Hilfe ist dabei nicht zu vermeiden, dass man auch Unter­nehmen unter­stützt, die es nicht unbe­dingt nötig haben.“ Will heissen, lieber supportet man ein Unter­nehmen einmal zu viel, als den Profit der Privat­wirt­schaft zu gefährden.

Diszi­plin und Unter­wer­fung für den Einzelnen, Frei­heiten für Unter­nehmen und den Markt, das ist die Leit­linie, die einem an der Falken­strasse vorschwebt. Man kann diese Prämisse aller­dings auch von anderer Seite betrachten. Dann heisst es: Gewinne werden priva­ti­siert, Verluste werden sozia­li­siert. Oder auch: Menschen sollen diszi­pli­niert rackern, während Unter­nehmen von rascher Unter­stüt­zung profi­tieren können, ganz so wie wir es auch von der letzten Finanz­krise kennen. Während zahl­reiche Menschen Lohn­kür­zungen oder Entlas­sungen hinnehmen mussten, erhielten Banken trotz ihrer eigenen Verfeh­lungen rasch Rettungspakete.

Ange­sichts der Grösse der (kommenden) Krise ist man sich bei der NZZ aber nicht ganz sicher, ob das 1x1 des kapi­ta­li­sti­schen Argu­men­ta­riums tatsäch­lich genü­gend Gehör finden wird. So fährt man aktuell auch mal das grosse rheto­ri­sche Geschütz auf. Der ehema­lige Vorsit­zende des libe­ralen Think-Tanks Avenir Suisse Gerhard Schwarz warnt in seiner Kolumne beispiels­weise mit Lenin vor zu viel staat­li­chen Eingriffen im Finanz­wesen: „Um die bürger­liche Gesell­schaft zu zerstören, muss man ihr Geld­wesen verwü­sten.“ Diesen Satz Lenins – übri­gens ein nach­weis­lich erfun­denes Zitat – sollen sich Noten­bank­chefs in Erin­ne­rung rufen, wenn sie wieder mal über Konjunk­tur­pa­kete nach­denken. Will heissen: Nicht inter­ve­nieren, denn in den meisten Fällen sei die Wirt­schaft „meist aus eigener Kraft auf dem Erho­lungs­pfad“. Ob dieser Pfad für alle in der glei­chen Geschwin­dig­keit betreten werden kann, oder ob Unter­nehmen plötz­lich rascher Hilfe erhalten, wird sich zeigen.

Umwäl­zung der Kultur

Während die gegen­wär­tige Krise die Digi­ta­li­sie­rung befeuern soll, steht dem Kultur­be­trieb nichts gerin­geres als die voll­stän­dige Kapi­tu­la­tion vor der Markt­logik bevor. In einem „Lob des Ausnah­me­zu­stands“ fordert der NZZ Redaktor Tobias Sedl­maier die von der Krise bedrohten Kultur­schaf­fenden auf, den Virus als Chance zu betrachten, um „über neue Formate der Kultur­be­wirt­schaf­tung nach­zu­denken“. Eine Prise von Ernst Jünger, dem zeit­weise der Kriegs­rhe­torik verfal­lene Schrift­steller, mischt sich mit Carl Schmitt, dem konser­va­tiven deut­schen Staats­rechtler: Mit viel „Herz­blut, Schweiss, Kraft und Kapital“ haben Orga­ni­sa­tionen ihre Existenz aufge­baut. Doch die „Maschine“ ruht. Nutzen wir die Chance für eine Zukunft: „Souverän ist nicht nur, mit Carl Schmitt gespro­chen, wer den Ausnah­me­zu­stand beherrscht. Noch souve­räner ist, wer die Zeit nach der Krise zu defi­nieren versteht.“

Dieser Neuan­fang sei gemäss Sedl­maier nötig, weil die Kultur irgend­wann „zum reinen Selbst­er­hal­tungs­ap­parat mutiert“ sei und in „dumpfer Betrieb­sam­keit“ verharre – ganz so, als ob Kultur­schaf­fende nicht auch ohne Corona finan­zi­elle Schwie­rig­keiten hätten. Erst wenn die Kultur wieder zum „echten Betrieb“ werde, sei sie tatsäch­lich zukunfts­fähig. Wie ein Unter­nehmen geführt wird sich die Kultur nicht länger um die „eigene Erfül­lung“ kümmern. Auch für die „Finan­zier­bar­keit“ inter­es­siere sie sich dann nicht mehr. Wie dieses Kunst­stück funk­tio­nieren soll? Sedl­maier schweigt und macht es doch in jeder Zeile deut­lich: Als Betrieb gedacht, wird es künftig der Markt regeln.

Soli­da­rität statt neoli­be­rale Ideologie

Ob in der Wirt­schafts­re­dak­tion oder beim Feuil­leton, für die NZZ ist die welt­weite Pandemie scheinbar vor allem eins: ein Mittel zum Zweck einer neoli­be­ralen Neuor­ga­ni­sie­rung verschie­den­ster Lebens­be­reiche. Manches davon wirkt ange­sichts der Realität surreal, mitunter schlichtweg doof. Doch man muss sich keine Illu­sionen machen. In den Redak­tionen der NZZ hat man erkannt, was noch nicht überall ange­kommen ist. Die gegen­wär­tige Krise ist nicht nur eine Gesund­heits­krise, sie wird sich zur Wirt­schafts­krise wandeln – und darin will man an der Falken­strasse von Beginn an die Deutungs­ho­heit haben. Ob dies gelingen wird, hängt mitunter davon ab, ob wir in den kommenden Monaten fähig sein werden, die (neo)liberalen Märchen zu enttarnen und eine andere Alter­na­tive sichtbar zu machen.

Gerade ange­sichts der aktu­ellen Gefahren zeigt sich, dass es keine weitere Libe­ra­li­sie­rung und neoli­be­rale Umwäl­zung braucht, schon gar nicht im bereits zusam­men­ge­sparten Gesund­heits­wesen. Dennoch gibt es tatsäch­lich Momente, die das Poten­zial der Krise offen­baren: Wie selten zuvor zeigte sich in den letzten Tagen, wie soli­da­risch weite Teile der Bevöl­ke­rung sind. Mit dieser Soli­da­rität liesse sich auch in Zeiten ohne akute Pandemie einiges verändern.


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