Der Hof Froh Ussicht in Samstagern liegt inmitten von malerischen Hügeln und grünen Feldern, mit Aussicht auf den Zürichsee, die Berge und die Vorstadt. In der Ferne gackern Hühner. Dass hier eine zeitgenössische Kunstausstellung stattfinden soll, scheint eher ungewöhnlich. Und wie passt das überhaupt zusammen – Kunst und Bio-Hof?
Der 32-jährige Marcel Hörler ist der Kurator der Ausstellung VEE, also „Viech“. Für ihn soll eine Kunstausstellung vor allem Fragen aufwerfen und zum Denken anregen.
„In der zeitgenössischen Kunst gibt es die Tendenz, Ausstellungen in einem White Cube zu veranstalten und so die soziokulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kontexte komplett auszublenden. Auf der einen Seite wird so ein Glanz, eine gewisse Magie um das Werk geschaffen, auf der anderen Seite besteht aber auch die Gefahr, dass so eine Mauer darum aufgebaut wird. Dadurch dass die Architektur des Hofs neben den künstlerischen Praxen eben auch Kontexte bildet, entsteht hier eine spannende Reibung zwischen den künstlerischen Interventionen und dem Landwirtschaftsbetrieb als solches“, sagt er.
Auch die Verstrickung zwischen den Generationen auf dem Familienhof und dessen Wandel interessieren ihn als Ausstellungsmacher. Der Bauer des Hofes Froh Ussicht, Martin Blum, sei ebenfalls Künstler und bringe damit auch eine gewisse Offenheit gegenüber dem Projekt und den Themen mit, die damit einhergehen, sagt Marcel Hörler. Der Aufbau der Ausstellung sei in enger Zusammenarbeit mit Martin Blum entstanden.
Das Viech in uns
Die Werke der Ausstellung befragen die Beziehung zwischen Menschen und Tieren und sinnieren darüber, wie eine mögliche Verwandlung dieser Beziehung in Zukunft aussehen könnte. „In unserer Beziehung zum Tier spielen auch Unterdrückungsmechanismen mit, wenn es beispielsweise um die Tierhaltung geht. Der Mensch baut Strukturen auf und das Tier muss sich dann anpassen“, sagt Hörler. „Wir möchten mit dieser Ausstellung Gespräche darüber anregen, wie wir diese Haltung verändern können – ob im Kleinen oder global gesehen.“
Doch nicht nur der Mensch-Tier-Beziehung und deren möglichen Wandel, sondern auch der Erforschung des eigenen inneren Tieres und den Konstrukten „Mensch“ und „Tier“ will die Ausstellung einen Raum geben.
So erschafft das Künstlerduo Badel/Sarbach ein Viech, welches man nicht sehen, aber erfühlen kann. Die Arbeit Hotties in the Neighborhood ist eine gewebte Installation aus Schläuchen, durch die heisses Wasser fliesst. Die Stellen, durch die das Wasser fliesst, formen die Silhouette eines Tieres. Das Viech besteht also nur in der Fantasie der Besucher*innen – ist sozusagen vom Menschen gemacht. Auch die Schläuche, die als Material auf einem Bauernhof alltäglich sind, erhalten so eine neue Funktion und fügen sich gleichzeitig in das Bild des Hofes ein. Die Arbeit erforscht die Grenze zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern. Das Duo Badel/Sarbach hat das erschaffene Viech mit einer Wärmebildkamera fotografiert – dieses Bild ist aber nicht Teil der Ausstellung, sondern wird in der Publikation erscheinen, welche an der Finissage Release feiert. Der Arbeit direkt gegenüber hängen zahlreiche Plaketten, auf denen die ehemaligen Zuchtkühe des Hofes abgebildet sind. Diese Gegenüberstellung vertieft die Fragen nach den Konstrukten „Mensch“ und „Tier“, die die Ausstellung aufwerfen will. Auch wird der Bauernhof als Ausstellungsort noch mal bewusster ins Zentrum gerückt – wie hat sich der Hof Froh Ussicht in der Vergangenheit gewandelt?
Innerhalb der Ausstellung finden ebenfalls „Hofgespräche“ statt – in einem Tandem treffen sich ein*e Expert*in und ein*e Künstler*in und diskutieren über ein im Vorfeld gewähltes Thema. So können Dialoge und auch mal Konflikte entstehen, die über das Ausstellungsthema hinausgehen, sagt Marcel Hörler.
Im Juli fand beispielsweise ein Gespräch zwischen dem Wein-Käse-Spezialisten Hans Preisig, einem langjährigen Kunden des Hofes und dem Künstler Daniel Hellmann aka „Soya the Cow“ statt. Dabei kam es zu einer hitzigen Diskussion über Fleischkonsum und Tierhaltung – der Künstler Hellmann war der Meinung, dass auch Metzgereien fleischlose Würste verkaufen könnten. Und Martin Blums Vater Alfred, der auf dem Hof Froh Ussicht früher die Viehzucht betrieb, sprach über die Beziehung zu seinen Kühen.
Wir sind nicht Mensch, ohne auch Tier zu sein
Ein Beispiel für die Auseinandersetzung der Mensch-Tier-Beziehung ist die Videoarbeit My Body Is Because of Dogs des Zürcher Künstlers Benjamin Egger. Diese befindet sich im Dachgeschoss jenes Gebäudes auf dem Hof, in dem sich auch das Atelier des Bauers Blum befindet. In seiner Arbeit lernen wir ein Rudel Strassenhunde in Neu-Delhi kennen. Das Video ist mit einem vom Künstler verfassten Text unterlegt. Darin sinniert er über den evolutionären Einfluss des Hundes auf den Menschen. „Wir leben seit über 20’000 Jahren mit Hunden zusammen. Deswegen hat mich die Frage interessiert: Wie hat das unser Selbstverständnis als Menschen geprägt?“
Eggers Arbeit fragt nach dem Einfluss des Hundes auf uns Menschen – nicht nur auf unser soziales Verhalten, sondern auch auf unsere biologische Entwicklung. Dabei geht er davon aus, dass der Mensch nicht eine abgeschlossene Entität ist, sondern immer auch von den Tieren, die ihn umgeben – in diesem Falle den Hunden – beeinflusst sei.
Zehn Tage und Nächte hat der 39-jährige Künstler die wilden Hunde mit seiner Kamera begleitet. „Die Strassenhunde sind frei lebende Tiere in einem vom Menschen besetzten Raum. In Indien werden Strassenhunde als Mitbewohner der Stadt akzeptiert und auch geschützt.“ Die Aufnahmen hat er vor allem nachts gemacht, denn tagsüber ist die Stadt von Menschen überfüllt. „Nachts ist die Stadt wie eine andere Welt – sie gehört den Hunden.“
Als Betrachter*in beobachten wir dieses ursprüngliche Leben der Strassenhunde in einem von Menschen erschaffenen Lebensraum. Dabei stellt sich ebenfalls die Frage: Wie viel Raum wollen wir einnehmen? Im Prozess seiner Arbeit wurde dem Künstler bewusst, dass es in der Co-Existenz von Mensch und Tier gewisser Zugeständnisse des Menschen bedarf. So habe in Neu-Delhi beispielsweise jedes Auto eine Delle auf dem Dach, da die Hunde auf die Autos springen. Die Menschen hätten gelernt, damit zu leben. Seine Arbeit sei für ihn eine Mischung aus Forschung und Kunstprojekt – dabei sei für ihn die Ästhetik des Videos und die Poetik in seinem Text ebenso wichtig gewesen wie der forschende Ansatz seiner Fragestellung. „Meine Arbeit soll Fragen stellen und nicht Antworten generieren“, sagt er abschliessend.
Kunst entdecken
Die Ausstellung VEE erstreckt sich über den ganzen Hof. So fügen sich manche Arbeiten in die weite Landschaft ein, andere sind in der Hoftoilette versteckt. Es entsteht eine direkte Gegenüberstellung der künstlerischen Positionen zum landwirtschaftlichen Betrieb. Damit konfrontiert die Ausstellung die Betrachter*innen konkret mit der Frage nach der ursprünglichen Rolle des Menschen in der Natur. Wie wollen wir uns in Zukunft in die Natur einfügen, mit ihr im Einklang leben? Reden wir darüber.
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