Auf dem Roten Meer kündigt sich ein Unglück an: Ein ehemaliger Supertanker namens FSO Safer, der zur Ölverladeplattform umfunktioniert wurde, droht zu zerbrechen oder zu explodieren. Und das inmitten einer der wichtigsten Schifffahrtsstrassen der Welt zwischen Suezkanal und Indischem Ozean.
Über eine Million Barrel Rohöl könnten Schätzungen zufolge ins Meer fliessen – ausgerechnet ein paar Meilen vor der Küste einer der heissesten Konfliktzonen der Welt. Im Jemen tobt seit acht Jahren ein Krieg, der laut dem United Nations Population Fund (UNPFA) die gegenwärtig weltweit schlimmste humanitäre Krise verursacht hat.
Im Jahr 2011 flammen die Proteste im Zug des Arabischen Frühlings nach Jahren der Diktatur, Korruption und Misswirtschaft auch im Jemen auf. Nach Gewaltausbrüchen durch das Regime muss schliesslich der im Volk verhasste und autoritäre Präsident Ali Abdallah Salih zurücktreten.
Salih hatte während seiner Herrschaft andere Gruppierungen rigoros unterdrückt. Gegen die Huthis – eine schiitische Gruppe namens Ansar Allah (Anhänger*innen Gottes) – führte er mehrere Kriege.
2014 kommt es mit der Einnahme der Hauptstadt Sana´as durch Huthi-Rebell*innen erneut zum Krieg. Sie fordern den Rücktritt der Regierung von Salihs Nachfolger, Rabbu Mansour Hadi. Verhandlungen scheitern. 2015 stürmen die Huthis den Präsidentenpalast; die Regierung tritt zurück.
Im März 2015 beginnt eine Koalition von Golfstaaten unter der Führung von Saudi-Arabien mit Luftangriffen gegen die Huthis, logistisch unterstützt – unter anderem von den USA und Grossbritannien. Weitere Verhandlungen zwischen den Huthis und der Regierung von Hadi unter der Führung der UN scheitern 2016. Hadi flieht ins Exil nach Saudi-Arabien.
Seitdem stehen sich die Huthis, die vom Iran unterstützt werden, und eine Anti-Huthi-Koalition gegenüber. Diese Koalition besteht aus der (Exil-) Regierung von Hadi, zahlreichen Milizen und Stammesführer*innen, dem im Süden des Landes einflussreichen Südübergangsrat sowie Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE).
Der Krieg hat Hunderttausende Opfer gefordert. Nicht nur durch Kampfhandlungen, sondern auch durch Hunger und mangelnde medizinische Versorgung. Über 4 Millionen Menschen sind laut UNHCR Binnenvertriebene geworden.
Die unterschiedlichen Interessen und Machtansprüche mehrerer Akteur*innen stehen sich in diesem Krieg unversöhnlich gegenüber. Bedeutsam ist das auch für die Kontrolle der FSO Safer, die in einer Region liegt, die von der Hauptrebell*innengruppe des Jemens – den Huthis – kontrolliert wird. Sie bekämpfen die legitime Regierung um Präsident Hadi. Dieser wird vor allem von Saudi-Arabien und einer Militärkoalition befreundeter Staaten unterstützt. Deren Luftschläge haben laut der NGO Yemen Data Project Tausende Todesopfer und Verletzte gefordert. Aber auch den Huthis werden Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Sie werden von Saudi-Arabiens Erzfeind Iran unterstützt. Beide Staaten führen einen Stellvertreterkrieg im Jemen und ringen um Einfluss in der Region.
Dazwischen steht die Zivilbevölkerung, die im Zug des Arabischen Frühlings vor Kriegsbeginn noch Hoffnungen auf Demokratie und Entwicklung hatte, und ein Ende der Korruption herbeisehnte. Hoffnungen, die in den letzten Jahren grundlegend zerstört worden sind, jetzt aber zögerlich wieder aufkeimen. Denn rechtzeitig zum Ramadan im April dieses Jahres hatten sich die Kriegsparteien unter Vermittlung der UN auf einen Waffenstillstand geeinigt, der bisher einigermassen hält. Anfang August wurde er um zwei Monate verlängert.
Nach jahrelangen schleppenden Verhandlungen hatten die UN auch endlich grünes Licht von den Huthi-Autoritäten bekommen, um eine Katastrophe durch die FSO Safer abzuwenden. Diese hatten seit 2015 keine unabhängigen Sicherheitskontrollen mehr zugelassen, obwohl ein Unfall ein direkt von ihnen kontrolliertes Gebiet treffen würde. Das Öl soll nun abgepumpt und die FSO verschrottet werden. Die UN haben dafür einen Operationsplan erstellt.
Und die Zeit drängt. Seit Jahren wird der Tanker nicht mehr gewartet, die Sicherheit vernachlässigt. Laut Berichten rostet das Schiff notdürftig zusammengeflickt vor sich hin. Einst war die 1976 gebaute Safer einer der grössten Tanker der Welt, laut der Webseite Vesseltracker ist sie 403 Meter lang und 70 Meter breit. Ende der 1980er-Jahre wurde die Safer zur Floating Storage and Offloading Vessel (FSO) umgebaut. Seitdem liegt sie dauerhaft im Roten Meer, um aus dem Jemen gefördertes Öl zwischenzulagern, bevor es auf Tanker umgelagert wird.
Momentan wird das Schiff nur noch von einer Rumpfmannschaft aus sieben Männern betreut. Es fehlen die Mittel, das Schiff zu warten und zu reparieren. Häufig müssen sie improvisieren, um Schäden zu beseitigen. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die FSO Safer auseinanderbricht oder in die Luft fliegt“, sagt David Gressly, oberster humanitärer Koordinator für den Jemen, der die Rettungsmassnahmen der UN für die FSO Safer koordiniert.
Katastrophenszenario
„Eine Ölpest hätte massive Folgen – die Umwelt würde verschmutzt, Millionen Menschen wären davon betroffen, nicht nur im Jemen, sondern auch in Saudi-Arabien, Dschibuti oder Eritrea“, sagt David Gressly im Interview. Die FSO Safer hat insgesamt 1.14 Millionen Barrel Öl geladen. Zum Vergleich: Bei der Havarie der Exxon Valdez 1989 vor der Küste Alaskas verseuchten rund 258’000 Barrel Öl das Meer – mit jahrzehntelangen Folgen für die Menschen und die Umwelt. Es war einer der grössten Ölunfälle der Geschichte.
Viermal so viel Öl ist nun an Bord der FSO Safer geladen. Gelangt es ins Wasser, würde das Rote Meer grossflächig und auf Jahrzehnte hinaus verseucht werden. Die Lebensgrundlage von Millionen Menschen würden vernichtet. Fischbestände wären über Jahrzehnte beeinträchtigt. Das sensible Ökosystem des Roten Meeres und sein Artenreichtum wären geschädigt.
Laut UN würde es rund 20 Milliarden US-Dollar kosten, die direkten Folgen dieser Ölpest zu beseitigen, fast dreimal so viel, wie es bei der Exxon Valdez gekostet hat (7 Milliarden US-Dollar).
Hinzu kommt, dass sich die humanitäre Situation im Jemen schlagartig verschärfen würde. Die Häfen von Hodeidah und Salif – über sie kommen ein Grossteil der Nahrungsmittelhilfe sowie Treibstoff und Medikamente ins Land – müssten geschlossen werden. Zudem könnte der Betrieb von Meerwasserentsalzungsanlagen, die für die Trinkwasserversorgung von 10 Millionen Menschen notwendig sind, nicht aufrechterhalten werden.
Auch die globale Wirtschaft wäre betroffen, wie David Gressly ausführt: „Zwischen Suezkanal und der Meeresstrasse Bab-al-Mandab verläuft eine der wichtigsten Schifffahrtsrouten der Welt. Der Verkehr wäre im Falle einer Ölpest stark beeinträchtigt, was hohe finanziellen Kosten verursachen würde“, sagt er.
Das Beispiel des Containerschiffes Ever Given verdeutlicht dies: Im März 2021 stellte es sich quer, blockierte sechs Tage lang den Suezkanal. Täglich soll es dadurch laut der maritimen Analyseplattform Lloyd’s List zu einem Transportausfall von Gütern im Wert von 9.6 Milliarden US-Dollar gekommen sein.
Zahlungsunfähig
Der US-Amerikaner David Gressly sorgt sich momentan vor allem darum, das Geld für die Rettung der FSO Safer zusammenzubekommen. Es fehlen noch 14 Millionen US-Dollar, bis die UN mit der Umsetzung ihres Planes beginnen können. Doch das Öl müsste möglichst schnell abgepumpt werden. Und zwar bevor im Roten Meer die Herbststürme beginnen. Diese würden eine Havarie wahrscheinlicher sowie Rettungs- und Aufräumarbeiten schwieriger machen.
Laut eines Operationsplans der UN werden zunächst rund 80 Millionen US-Dollar benötigt, um das Öl von der FSO Safer abzupumpen und auf einem temporären Ersatzschiff zu sichern. Weitere 60 Millionen sollen dann ausgegeben werden, um einen Ersatztanker zu einer neuen FSO umzufunktionieren.
Auf einer Geberkonferenz in Den Haag im Mai 2022 baten die UN die internationale Staatengemeinschaft erstmalig um finanzielle Hilfe für die erste Phase ihres Planes. Die Niederlande sagten 8 Millionen US-Dollar zu, Deutschland 8.4 Millionen, Grossbritannien 5 Millionen und die Schweiz 300’000 US-Dollar. Schliesslich legten die USA und Saudi-Arabien jeweils 10 Millionen US-Dollar drauf. Insgesamt sind etwas mehr als 40 Millionen US-Dollar zusammengekommen. Aufgrund der schwierigen finanziellen Lage haben die UN sogar eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, durch die bisher laut Angaben der UN 144’000 US-Dollar gesammelt wurden.
Momentan fehlen nur noch 14 Millionen US-Dollar, damit die UN die erste Phase ihres Plans umsetzen können. Bisher erklärt sich allerdings niemand bereit, dieses Geld aufzubringen. Wie so oft gestaltet es sich schwierig, präventiv zu handeln – bevor ein Unglück geschieht. Dabei wäre es jetzt vergleichsweise günstig.
„Das Problem ist, dass viele Staaten gewillt sind, die UN zu unterstützen, ihre Budgetlinien dies aber nicht zulassen. Ironischerweise können sie eher das Geld aufbringen, um die Folgen einer Ölpest zu bekämpfen, als jetzt präventiv zu handeln“, sagt Gressly dazu.
Ein strukturelles Problem. Aber kommt es nicht einem Scheitern gleich, wenn die internationale Staatengemeinschaft – angesichts einer der möglicherweise grössten Ölpest der Geschichte – das Geld nicht zusammenbekommt? Ist es nicht ungewöhnlich, dass die UN auf eine Crowdfunding-Kampagne zurückgreifen muss und nun um Spenden von Privatpersonen bittet?
„Erschreckend und absurd ist das“, sagt Julien Jreissati. Er ist Programmdirektor bei Greenpeace MENA, zuständig für den Mittleren Osten und Nordafrika. Jreissati beobachtet seit Langem die Gefahr, die von der FSO Safer ausgeht. Greenpeace hat Ende 2021 einen Bericht zu den möglichen Folgen eines Unfalls herausgeben und appelliert an alle Staaten, das Problem dringend anzugehen.
Allerdings ist es laut Jreissati wichtig, dass Grosskonzerne miteingespannt werden. Er meint damit vor allem die Ölindustrie: „14 Millionen US-Dollar sind Peanuts, verglichen mit den Milliardenprofiten, die Ölfirmen jährlich machen. Sie stehen eigentlich in der Verantwortung, sie haben jahrelang von Jemens Öl profitiert“, sagt er.
Die Crowdfunding-Kampagne lässt seiner Meinung nach tief blicken: „Die UN sammelt das Kleingeld von Privatpersonen über Spenden ein. Das zeigt doch, dass den Staaten das Schicksal Jemens nicht wichtig genug ist“, sagt Jreissati. „Ein Fehler“, wie er meint. „Denn eine Ölpest würde sie und die globale Wirtschaft treffen.“
Kriegsmüde
Tatsächlich bekommt der Krieg im Jemen wenig Aufmerksamkeit – sowohl in den Medien als auch von der Staatengemeinschaft. Hilfsorganisationen kritisieren seit Langem, es werde viel zu wenig humanitäre Hilfe für das Land geleistet.
Said AlDailami beobachtet die Situation seit Langem. Der aus dem Jemen stammende Staats- und Politikwissenschaftler hat ein Buch über den Konflikt geschrieben, das den Titel „Jemen: Der vergessene Krieg“ trägt.
„Die Lage im Jemen ist kompliziert. Sehr viele Akteur*innen ringen um Einfluss, seit Jahrzehnten werden hier Konflikte gewaltsam ausgetragen. Zudem wird die strategische Rolle des Jemen unterschätzt, deshalb findet der Krieg kaum Beachtung“, sagt er.
Mittlerweile sei ein Patt zwischen den Kriegsparteien eingetreten. „Die Huthis und die Saudis haben ihre militärischen Ziele erreicht. Nun gilt es, die Beute zu sichern“, sagt AlDailami.
Das habe die Bedingungen für Verhandlungen günstig gemacht, was auch für die Diskussion um die FSO Safer gilt. Obwohl die UN den Fall strikt von den politischen Verhandlungen getrennt sehen will. Trotzdem: „Im Jemen werden die Waffen die nächsten 20 Jahre nicht schweigen“, sagt AlDailami. „Der internationale Stellvertreterkrieg wird beendet werden, auch weil Saudi-Arabien unbedingt aussteigen will. Innerjemenitisch jedoch werden die Konflikte weitergehen“, sagt er. Die Interessen der Huthis und der alten, legitimen Regierung sowie mehrerer anderer Gruppierungen seien einfach zu gegensätzlich.
Reem Jarhum, Social Media Lead eines Yemen Discussion Board und Teil der jemenitischen Zivilgesellschaft, ist hingegen optimistisch. „Die Menschen sind müde vom Krieg. Sie hoffen auf Frieden“, sagt sie. Allerdings fügt sie hinzu: „Diese Hoffnung würde durch ein Unglück durch die Safer erheblich getrübt, die Folgen für die Menschen und für die Umwelt wären verheerend.“
Eine Ölpest wäre tatsächlich das Letzte, was die Bevölkerung jetzt noch schultern könnte. „Eine so grosse Katastrophe würde den Jemen wahrscheinlich erneut zerreissen. Die Bevölkerung hat nicht nur unter Krieg gelitten: Die wirtschaftlichen Grundlagen sind zerstört, auch wegen stark gestiegenen Nahrungsmittel- und Treibstoffpreisen“, sagt Jarhum.
Trotzdem bietet der Waffenstillstand einen günstigen Ausgangspunkt, um zumindest die Ladung der FSO Safer zu sichern, auch wenn die Zeit äusserst knapp wird. David Gressly ist zuversichtlich, das Geld noch rechtzeitig zusammenzubekommen. „Die gemeinsame Aktion verschiedener Staaten könnte ein starkes Signal für Frieden in der Region werden, zumindest würde es gegenseitiges Vertrauen zwischen den Verhandlungspartner*innen aufbauen“, sagt er. Allerdings stimmt er zu: „Es ein Wettlauf mit der Zeit. Es wäre gut, wenn auch die Schweiz ihren Beitrag erhöhen würde.“
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 25 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1560 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 875 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 425 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?