„Wie nennt man die abgebildete Schweizer Wurst?“ Die Frage stammt aus einem der Wissens-Tests, die Einbürgerungswillige in einer Schweizer Gemeinde durchführen müssen, um einen roten Pass zu erhalten. Die richtige Antwort darauf lautet: Cervelat. Die sogenannte Schweizer Nationalwurst. Verklärtes Symbol der Rechtspopulist*innen zur Verteidigung der christlich-nationalen Identität, des gesellschaftlichen Konsenses.
Gesellschaftlicher Konsens, das ist die stillschweigende Übereinkunft über die Grundwerte des Zusammenlebens, über den ideologischen Kern einer Gemeinschaft – getragen von einer Mehrheit, so die Vorstellung.
Um diese Mehrheit steht es nicht gut, sieht man sich ein Abstimmungsplakat der Rechtsaussen-Partei vom Februar an. Der Cervelat, das Symbol der Mehrheit, der Leitkultur und dessen, worauf sich diese Gesellschaft geeinigt hat, stehe kurz vor dem Verbot. Ein alpines Hirtenvolk sieht sich, seine kulinarische Tradition und die darin schlummernde Leitkultur in Gefahr. Die Gefahr heisst Polarisierung. Oder: Spaltung.
Mit ihrer Vorstellung nehmen jene, die eine Gesellschaft über Folklore, Mythos und Symbolik vor der Spaltung bewahren wollen, für sich heraus, das Idealbild einer Gesellschaft formen zu können. Damit wollen sie die Deutungshoheit über das, was gemeinhin als gesellschaftliche Realität beschrieben wird, für sich beanspruchen, um in politischen Debatten den gesellschaftlichen Konsens und daher die unsichtbare Mehrheit repräsentieren zu können.
Doch im Gegensatz zu Mehrheitsverhältnissen bei Abstimmungen sind gesellschaftliche Realität und gesellschaftlicher Konsens schwer messbare Phänomene. Gesellschaft ist imagined community – die abstrakte Vorstellung von einer Gemeinschaft, die Werte und Normen teilen soll. Gesellschaft ist nicht die Herrengruppe, die am Stammtisch einer Innerschweizer Beiz Cervelat isst und Bier trinkt. Gesellschaft ist die Vorstellung davon, dass diese biertrinkenden Cervelatesser repräsentativ sind und deshalb die Mehrheit bilden in einem Land der verschneiten Berge und läutenden Glocken.
Je stiller die Übereinkunft mit dieser Vorstellung von Gesellschaft, desto grösser die Gräben zwischen jenen, die am Tisch sitzen, und jenen, die draussen bleiben müssen.
Jene also, die den Status quo vor Spaltung bewahren wollen im Namen von Leitkultur und Konsens, spalten die Gesellschaft, indem sie von vornherein festlegen, wie Gesellschaft ist.
Von Spaltung als Status quo ausgehen
Mit jeder neuen Abstimmung stechen sie wieder ins Auge, die Gräben, die sich durch die Gesellschaft ziehen. Rechtsaussen interpretiert das als Kulturkampf zwischen „Schmarotzer-Städtern“ und „Landbevölkerung“, als ein sich zunehmend polarisierendes Land, in dem von keinem gesellschaftlichen Konsens mehr ausgegangen werden könne wie früher.
Doch neu ist das nicht. Schon 1992 vor der EWR-Abstimmung wurde von rechts ein Stadt-Land-Graben heraufbeschworen, um eine Trennlinie zwischen weltlich-abgehobenen Städter*innen und heimat- und naturverbundenen Landbewohner*innen zu ziehen. Damals wie heute war und ist die antistädtische Polemik der Rechten vor allem Ausdruck ihres Hasses auf die plurale Gesellschaft, die in der städtischen Umgebung mehr Öffentlichkeit erfährt als auf dem Land.
Je öfter rechtskonservative Scharfmacher*innen die Polarisierung an die Wand malen und dabei ein harmonisches „Früher“ zurücksehnen, desto mehr reaktivieren sie damit die in der Mitte der Gesellschaft schlummernde Vorstellung von einer Leitkultur. Spätestens seit der Masseneinwanderungsinitiative, dem Brexit und Trump schürt die Panikmache vor Polarisierung Ängste, die Mehrheiten in der Stimmbevölkerung schaffen können, um die Leitkultur vor der angeblichen Vereinnahmung zu retten.
Es wäre allerdings verfehlt, der bestehenden Leitkultur eine andere, eine linke Leitkultur entgegenzustellen. Denn unabhängig davon, wie solidarisch oder gerecht die Vorstellung von Leitkultur ist – der Anspruch, über eine möglichst breit gestreute Kultur die Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens festlegen zu können, birgt stets die Gefahr der Überhöhung des gesellschaftlichen Konsenses. Sprich: alles als wahr anzunehmen, was Konsens ist. Sich in Klarheit wähnen über das, was gelten soll.
Dabei ist Klarheit darüber, was sein soll, immer bloss ein Phantasma. Eine Gesellschaft kann sich nicht abschliessend über einen Konsens definieren, sondern muss sich selbst immer als veränderbar betrachten. Herauszufinden, was sein soll, ist dagegen immer eine Angelegenheit des Dissenses, des Diskurses und des Aufeinanderprallens der Widersprüche.
Um eine neue Gesellschaft aufzubauen, braucht es deshalb ein neues Bewusstsein für Spaltung. Wir müssen davon ausgehen, dass sowohl der Ursprung als auch der Status quo der Gesellschaft in der Gespaltenheit ihrer Mitglieder besteht. Dass Gesellschaft ein Konglomerat von Individuen unterschiedlicher Realitäten und Auffassungen ist. Dass eine bestehende Leitkultur, gesellschaftlicher Konsens und Identität unter dem Deckmantel der Einigkeit und Homogenität überwindbare Konstruktionen sind.
Erst, wenn sich die Gesellschaft ihrer von Grund auf bestehenden Gespaltenheit bewusst wird und darin eine Chance sieht, öffnen sich Räume gegenüber denjenigen, die nicht dazugehören, erschaffen die Menschen von sich aus kulturelle Räume mit eigenen Verhaltensnormen, einer eigenen Sprache, einer eigenen Identität – ohne Anspruch auf Gesamtgesellschaftlichkeit und immer im Bewusstsein, dass das einende Element der Menschen ihre Unterschiedlichkeit ist.
Davon ausgehend brauchen wir, wenn schon, eine Leitkultur der Gleichheit. Ein unvoreingenommenes Recht, das alle Menschen – auch jene, die dies ablehnen – ohne Ausnahme gleichbehandelt, sowohl materiell als auch rechtlich.
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