Durch­ge­sickert

Die SRF-Tages­schau veröf­fent­licht eine erschreckend diskurs­blinde Analyse von poli­ti­scher Gewalt in der Schweiz. Eine Medienkritik. 
SRF-Fachredaktor für Extremismus, Daniel Glaus (Screenshot SRF).

Nachdem sich die Neonazis der Jungen Tat Anfang Jahr immer mehr an die Spitze der Coro­na­pro­teste gedrängt haben. Nachdem sie im Juni einen Pride-Gottes­dienst in Zürich störten, Anfang Oktober vor einer Schule im schaff­hausi­schen Neuhausen mit isla­mo­phoben Parolen prote­stierten und erst kürz­lich Kinder und queere Künstler*innen bei einem Kultur­anlass belä­stigt haben.

Nachdem die Repu­blik rekon­stru­ierte hat, wie die Staats­an­walt­schaft Zürich einen Rechts­extremen, der einen Anti­ras­si­sten fast zu Tode gesto­chen hat, mit Samt­hand­schuhen behan­delt hat. Nachdem vor zwei Wochen ein Schweizer Rechts­extremer auf der italie­ni­schen Seite des Lago Maggiore mit einem Schweizer Sturm­ge­wehr Jagd auf Menschen machte – nach all diesen Vorfällen also stellte Kriegs­re­porter Kurt Pelda auf Twitter lapidar die Frage: „Wo in der Schweiz hat es denn in letzter Zeit rechte Gewalt gegeben?“

Scheinbar führt das gender­kri­ti­sche, chau­vi­ni­sti­sche Grund­rau­schen, das immer grös­sere Teile der Schweizer Medien- und Polit­land­schaft erfasst, dazu, dass selbst Jour­na­li­sten wie Kurt Pelda, der sich sehr gut in der Szene auskennt, rechts­extreme Gewalt nicht mehr als das erkennen, was sie ist. Rechts­extreme Konzepte – der angeb­liche Bedeu­tungs­ver­lust von Männern, die vermeint­liche Gefahr, die von trans Personen ausgeht – haben sich längst in das Sedi­ment des öffent­li­chen Diskurses gefressen. 

Die Losung „Familie statt Gender-Ideo­logie“, die auf dem Trans­pa­rent der Jungen Tat beim Angriff auf die Drag­queen-Story­hour stand, könnte so ähnlich auch in der Welt­woche oder in einem Gast­bei­trag der NZZ stehen. Und wenn selbst ein Bundes­rats­kan­didat der grössten Partei im Land sich dem Kampf gegen die Gender-Ideo­logie, dem Angriff „gegen den Arche­typus des Mannes“, verschreibt, wie soll denn das, was die Junge Tat da tut, gewalt­voll sein?

Ohne jegliche Einordnung

Diese konzep­tio­nelle Kopf­lo­sig­keit zeigte sich am eindrück­lich­sten in einer Analyse der SRF-Tages­schau von Anfang Woche. In einem Beitrag werden zwei Ereig­nisse bespro­chen und mitein­ander vermischt: der rechts­extreme Angriff auf die Drag­queen-Story­hour in Zürich und der anti­fa­schi­sti­sche Abend­spa­zier­gang vom vergan­genen Samstag in Bern, bei dem es gemäss Poli­zei­aus­sagen zu Schmie­re­reien und verein­zelten Stein­würfen kam.

In der Text­ver­sion des Tages­schau-Beitrags werden die beiden Ereig­nisse gleich zu Beginn als Aktionen von „Schweizer Extre­mi­sten“ beschrieben. Danach wird der „Lage­be­richt des Nach­rich­ten­dien­stes zur Sicher­heit 2022“ zur Einord­nung zitiert, der aufzeigt, dass der Nach­rich­ten­dienst 2021 mehr Gewalt­taten dem links­extremen als dem rechts­extremen Spek­trum zuordnen konnte. Eine Stati­stik, die übri­gens auch die Neonazis der Jungen Tat gerne online teilen.

Dabei ordnen die Jour­na­li­sten die NDB-Stati­stik mit keinem Wort ein. So ist die Methodik, wie der Nach­rich­ten­dienst Ereig­nisse dem links­extremen oder rechts­extremen Spek­trum zuordnet, nicht im Bericht ausge­wiesen. Genauso wenig ab wann ein solches als gewalt­tätig gilt.

Ein Beispiel für „gewalt­tätig links­extrem“ aus dem NDB-Bericht: Das Bild einer #Basel­Na­zifrei-Demo vom Januar 2021 – eine Demon­stra­tion also, bei der es gemäss dem anwe­senden Bajour-Jour­na­li­sten erst dann zu Ausein­an­der­set­zungen kam, als die Polizei aus kürze­ster Entfer­nung mit Gummi­schrot auf Demon­strie­rende schoss. 

Was aber gele­gent­lich für Hirn­akro­batik betrieben wird, um die Moti­va­tion hinter rechts­extremer Gewalt zu verschleiern, hat nicht zuletzt der Fall der Zürcher Messer­at­tacke gezeigt, den die Repu­blik rekon­stru­iert hat.

Mehr als ein Hufeisen

Sei‘s drum: Zum Schluss des SRF-Tages­schau-Arti­kels erhält noch der besorgte Berner Sicher­heits­di­rektor Reto Nause das Wort – und nota­bene kein Opfer der Gewalt –, bevor die Journalist*innen zum Schluss­satz ausholen: „Linke, die wieder Hundert­schaften – zum Teil Gewalt­tä­tige zu mobi­li­sieren vermögen, wie am Sams­tag­abend, und Rechts­extreme, die immer selbst­be­wusster und provo­ka­tiver auftreten, dürften diese Tendenz befeuern.“

Auf der ober­fläch­li­chen Ebene ist der Artikel ein Hufeisen erster Güte­klasse und als solches nicht über­ra­schend: Das Hufeisen ist sozu­sagen das Stern­zei­chen der Schweizer Politik, deren Selbst­ver­ständnis darauf aufbaut, dass das poli­ti­sche Zentrum immer zwischen zwei Punkten liegt, egal wie weit nach rechts sich das poli­ti­sche Koor­di­na­ten­sy­stem verschoben hat.

Dass die beiden Phäno­mene zusammen behan­delt werden, verschleiert die unter­schied­li­chen Vektoren und Ziele der Gewalt­formen: Die Junge Tat dringt in geschlos­sene Räume ein, mit dem einzigen Ziel, bereits margi­na­li­sierten Gruppen klar­zu­ma­chen, dass sie nirgendwo und zu keiner Zeit sicher sind, erst recht nicht auf der Strasse.

2020, als man im Sicher­heits­be­richt des Nach­rich­ten­diensts lesen konnte, dass der Rechts­extre­mismus sich wieder in den Schatten zurück­ziehe, gaben in einer landes­weiten Befra­gung über die Hälfte der Jüd*innen an, in den letzten fünf Jahren real oder online anti­se­mi­tisch belä­stigt worden zu sein. Mehr als ein Fünftel gab an, dass sie jüdi­sche Veran­stal­tungen oder Stätten im Wohnort meiden würden, weil sie sich auf dem Weg nicht sicher fühlen würden.

Die Gewalt von links, die dieser Form der allge­gen­wär­tigen verbalen und körper­li­chen Gewalt von rechts im Tages­schau-Beitrag gleich­ge­setzt wird, sind Schmie­re­reien im öffent­li­chen Raum und ein Stein­wurf gegen tatsäch­liche Hundert­schaften in Voll­montur. Man muss Letz­teres nicht verharm­losen, um aufzu­zeigen, wie lächer­lich die Gleich­set­zung ist.

Wie Gewalt unsichtbar wird

Der Artikel leistet aber weit mehr als der klas­si­sche Hufei­sen­ver­gleich: Die Aktion der Jungen Tat wird sogar als gewaltlos geframt – als spitz­bü­bisch, „selbst­be­wusst und provo­kant“. Auf der anderen Seite formieren sich, so die SRF-Journalist*innen, „Hundert­schaften“ von gewalt­be­reiten Linksextremen.

Dass dieses Framing keine seman­ti­sche Unge­nau­ig­keit war, sondern der ganze Kern der Analyse ist, zeigt sich späte­stens dann, als SRF-Extre­mis­mus­experte Daniel Glaus, der auch den Tages­schaubei­trag verant­wor­tete, vor die Kamera tritt:

Neonazis, so erklärt Glaus mit hoch­ge­zo­gener Augen­braue, sähen die „weisse Familie aus Mann und Frau“ durch Migra­tion und den angeb­li­chen „woke-Wahn­sinn“ bedroht. Dafür würden sie in Kraft­räumen und an der Waffe trai­nieren. „Links­extreme haben darauf eine ganz klare Antwort: Selbst­ju­stiz.“ Sie, also die Links­extremen, würden defi­nieren, wer rechts­extrem sei und würden diese dann angreifen.

Oder anders gesagt: Während die extreme Rechte aus einer gefühlten Bedro­hungs­lage agiert, defi­nieren die „Hundert­schaften“ von gewalt­be­reiten Links­extremen selbst will­kür­lich ihre Feinde und greifen diese an. Rechts­extre­mismus als Selbst­ver­tei­di­gung, Links­extre­mismus als reine Agitation. 

Diese Verschie­bung des poli­ti­schen Koor­di­na­ten­sy­stems und das Main­strea­ming von rechts­extremen Konzepten hat ausser­halb der Medi­en­kritik reale Konse­quenzen: Die Tötung von Malte C., einem trans Mann, der im August bei einer queer­feind­li­chen Attacke auf ein lesbi­sches Paar in Münster eingriff und von einem Mann getö­tete wurde, dient als düstere Mahnung, dass auf Worte Taten folgen.

Dass dieser Beitrag die Quali­täts­si­che­rung der SRF-Redak­tion über­standen hat, ist beun­ru­hi­gend: Das öffent­lich-recht­liche Medi­en­haus geniesst zu Recht eine hohe Glaub­wür­dig­keit. Umso fataler eine solch diskurs­blinde Analyse, die rechts­ra­di­kale Gewalt nicht nur verharm­lost, sondern ihr sogar voraus­ei­lend abspricht, Gewalt zu sein. Nicht, weil man die Inhalte, die dahin­ter­stehen, unter­stützt, sondern weil sie schon so tief in den Diskurs gesickert sind, dass sie gar nicht mehr als das erkannt werden, was sie sind.


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