Ich habe Züge schon immer gemocht. Nicht so sehr, dass ich Plüschzüge und Modelleisenbahnen zu Hause hatte. Aber neben Trams – die für mich einfach kleine Züge sind – waren Züge von klein auf mein liebstes Fortbewegungsmittel.
Trotzdem bin ich bis vor einem Jahr regelmässig bis zu 4’000 Kilometer geflogen, um meine Verwandten in Schweden zu besuchen. Und das neben den gelegentlichen Kurzferien in Lissabon, London oder Málaga. Da habe ich schnell mal ein bis zwei Tonnen CO2 ausgestossen – und das pro Jahr! Ich war an meine Privilegien gewöhnt. Auf Easyjet den nächsten Schnäppchenflug zu finden, fühlte sich spannend an. Der Zug hingegen? Langsam, teuer und kompliziert.
Meine Teenie-Obsession mit dem Flugreisen hat darum etwas länger angedauert, als mir lieb ist. Mit 22 bin ich endlich aufgewacht. Dank Greta Thunberg, die mich wie so viele andere mit der Realität der Klimakrise konfrontiert hat. Sie hat mir die lang bekannten und eigentlich gut zugänglichen Fakten mitten ins Gesicht geknallt; ihr habe ich endlich zugehört. Wie konnte ich die krasse Realität nur so lange verdrängen?
Na, weil diese Fakten in meiner privilegierten Bubble gnadenlos und strukturiert ignoriert werden. Die Klimakrise ist halt auch in linken Kreisen kein sexy Thema. Insbesondere, weil wir doch die Mobilität als sozialen und kulturellen Fortschritt feiern: Durch das Reisen lernen wir andere Kulturen kennen und tauschen uns aus. Das soll doch niemandem vorenthalten werden durch überteuerte Flugpreise. Wir sind ja sozial.
Und genau diese Einstellung wird von den spitzfindigen Fluganbietern unaufhörlich befeuert: Fliegen wird uns als bezahlbarer Luxus verkauft, den wir uns nach dem vielen Arbeiten verdient haben. Fliegen ist ein Lebensgefühl. Ein Lebensgefühl, das die Generation Easyjet (ich inklusive) nur zu gut kennt.
Als ich dann aber verstand, wie viel CO2 wir für dieses Lebensgefühl tatsächlich ausstossen, hat’s Klick gemacht. Mir wurde bewusst, dass ich all die Jahre doch eigentlich nur aus reiner Faulheit, Gewohnheit und Arroganz geflogen bin. Doch weiterhin herumzufliegen, als wäre nichts, als hätte ich nicht gewichtige neue Informationen erhalten, war keine Option. In einem Sekundenbruchteil entschied ich mich, möglichst nie wieder zu fliegen.
Ich sage „möglichst“, weil ich finde, dass es Unterschiede gibt beim Fliegen – und besonders bei der Rechtfertigung des Fliegens. Es ist ein Unterschied, ob jemand Familie in Australien hat und darum alle paar Jahre dahin fliegt, oder ob jemand für zwei Wochen Strandurlaub Tausende von Kilometern auf sich nimmt. Eine lange Flugreise anzutreten, um die eigene Familie zu besuchen, ist viel eher vertretbar als ein Strandurlaub, den man genauso gut an der nächstgelegenen Küste verbringen könnte – denn Strände gibt es im Gegensatz zu der eigenen Familie auf jedem Kontinent. Und wer hat denn gesagt, dass wir jeden schönen Ort dieser Welt mit eigenen Augen sehen müssen? Ah ja, stimmt: die Fluggesellschaften.
Es geht nicht an, dass privilegierte Schweizer*innen auf Kosten anderer herumfliegen und so Unmengen von CO2 in die Atmosphäre ausstossen. Denn genau die, die regelmässig zum Spass hin- und herfliegen, hätten die Ressourcen, um auf den Zug umzusteigen. Das gilt sowohl für gutverdienende Banker*innen, die in Bali in einem Luxusressort entspannen, als auch für partywütige Student*innen, die sich eine Woche am Ballermann gönnen.
Wenn wir vom Durchschnittspreis eines Fluges innerhalb von Europa ausgehen, ist der Zug meistens billiger – die verflixten Billigflüge und Super-Sparpreis-Angebote verzerren aber leider das Bild. Dank des Chicagoer Abkommens ist der Flugverkehr nämlich weiterhin steuerlich bevorteilt. Mit etwas Planung und Flexibilität bezüglich des Datums lässt sich aber sogar dieser Preisunterschied etwas kompensieren.
Bei der Zeit sieht es natürlich anders aus – teilweise dauert eine Reise mit dem Zug doppelt oder dreimal so lang. An gewisse Orte kommen wir mit dem Zug auch gar nicht erst hin. Trotzdem ist das kein Argument für das Flugzeug. Insbesondere, wenn mehr als 80 Prozent der Flüge aus der Schweiz ein Ziel in Europa ansteuern!
Leute! Wir wohnen wortwörtlich in der Mitte von Europa! Selbst ich als Studentin habe so viel Geld, dass ich es gewohnt bin, regelmässig zu verreisen. Und Zeit habe ich wirklich mehr als genug. Wieso also die Sommerferien nicht schon im Winter planen und beispielsweise eine Zugreise nach Kroatien buchen? Glaubt mir: Es ist befreiend.
Nach meiner Entscheidung, nicht mehr zu fliegen, fühlte ich mich erleichtert. Ich war noch nie ausserhalb von Europa und durch meine Vielflieger-Kolleg*innen hatte sich schon ein FOMO-Gefühl (fear of missing out) eingeschlichen. Trotzdem wehrte ich mich innerlich gegen das, was alle um mich herum mach(t)en. Ich nenne es „aggressiv reisen“: hin und her jetten, um in den zwei Wochen Ferien möglichst viele Städte oder Orte zu sehen. Ein Instagram-Foto von der lokalen Sehenswürdigkeit machen, ein Häkchen auf die Liste setzen und weiter geht’s! Das gilt als „gute“ Ferien, denn man ist ja herumgereist und hat viel gesehen. Bullshit!
Was Reisen wirklich ist – oder sein sollte –, ist etwas, das wir verlernt haben. Reisen soll Zeit nehmen dürfen. Reisen soll teuer sein. Reisen soll schmerzhaft sein. Reisen ist nichts, was uns einfach zusteht, sondern etwas, das wir uns verdienen müssen. Und dessen Bedeutung wir uns wieder bewusst werden müssen. Eine Möglichkeit, genau dieses Reisen wieder für uns zu entdecken, ist, in den Zug zu steigen.
Erst diesen Sommer bin ich mit dem Zug von Zürich nach Umeå gefahren – von Bahnhof zu Bahnhof brauchte ich 34 Stunden. Mein Fazit nach zwei Nächten und einem Tag im Zug? Genial. Anstrengend. Intensiv. Richtig.
Als ich um sechs Uhr morgens am Ankunftsbahnhof stand, war ich zwar müde und hungrig, aber trotzdem glücklich. Ich spürte die 34-stündige Reise in meinen Knochen, und das fühlte sich gut an! Und obwohl der Weg ja nicht mein Ziel war, und ich möglichst schnell in Umeå ankommen wollte, hatte ich auf der Zugreise schon etliche spannende Erinnerungen gesammelt.
Ich habe im Nachtzug Richtung Hamburg mit zwei fremden Frauen eine Flasche Weisswein geleert und dann auf meiner Liege gelesen, bis ich eingeschlafen bin. Zwischen Deutschland und Dänemark bin ich aus dem Zug ausgestiegen und aus den Tiefen der Fähre hinaufgeklettert, um auf dem Deck etwas frische Luft zu schnappen. In Südschweden hat die Zeit genau gereicht, um mir eine Zimtschnecke zu kaufen und meinen nächsten Zug zu erwischen – wo ich dann das WLAN genutzt und Netflix geschaut habe. Ein Zugwechsel und eine Nacht später bin ich in Nachtzug Nr. 2 aufgewacht und habe durch das Fenster die mir so bekannte nordschwedische Natur bestaunt.
Was Fluganbieter mit ihren Reisen anzubieten versuchen, reicht dem Lebensgefühl meiner 34-stündigen Zugreise nicht annähernd das Wasser. Wenn ich also daran denke, dass ich künftig alle meine Reiseziele, wenn nur irgendwie möglich, mit dem Zug ansteuern werde, fühle ich mich nicht eingeschränkt. Im Gegenteil. Der Zug ist nicht das kleine lästige Übel der Klimakrise – sondern ein vergessen gegangenes Reiseerlebnis.
Coole europäische Städte, die einfach mit dem Zug erreichbar sind:
Amsterdam – ICE ab Basel, umsteigen in Frankfurt (7h)
Barcelona – TGV ab Zürich, umsteigen in Paris (11h)
Berlin – Nachtzug ab Zürich (11:30h)
Biarritz – TGV ab Zürich, umsteigen in Paris (10:30h)
Budapest – Nachtzug ab Zürich (12h)
London – TGV ab Zürich, umsteigen auf Eurostar in Paris (9h)
Mailand – EC ab Zürich (3:40h)
Paris – TGV ab Zürich (4h)
Prag – Nachtzug ab Zürich (13h)
Rom – EC ab Zürich, umsteigen in Mailand (7:30h)
Venedig – EC ab Zürich (6:30h)
Wien – Nachtzug ab Zürich (10h)
Zagreb – Nachtzug ab Zürich (14h)
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