„Wohlstand ist nicht alles: Was künftige Staatsgründer von Chile lernen können“, titelt die NZZ in einer Analyse von Iván Jaksic, die ins Deutsche übersetzt wurde. Iván Jaksic arbeitet seit Jahren an der Stanford University in den USA und ist nebenbei Präsident des Forschungszentrums für politische Geschichte an der privaten Universität Adolfo Ibañez in Santiago de Chile, einer Eliteuniversität, die nach einem Minister der ersten chilenischen Militärdiktatur im 20. Jahrhundert benannt ist.
Der Artikel diagnostiziert fehlendes Vertrauen vonseiten der Bevölkerung in den chilenischen Staat und fordert deshalb, dieser solle sich neu erfinden und dem Allgemeinwohl Sorge tragen.
Eine zutreffende, wenn auch nicht wirklich kreative Analyse. So sind die chilenische Regierung und der damit zusammenhängende Staatsapparat in den letzten Monaten wegen massiver Menschenrechtsverletzungen und einer komplett fehlgeschlagenen Bekämpfung des Coronavirus noch stärker in Verruf geraten, als sie es sowieso schon waren.
Doch liest man etwas genauer zwischen den Zeilen, lassen sich neoliberale Geschichtsklitterung und Staatsphobie in jenem Artikel erkennen. Der Autor, selbst Teil der chilenischen Elite, baut einen Diskurs auf, in dem nicht etwa das kleptomanische Verhalten der chilenischen Oligarchie oder die wachsende Ungleichheit Schuld an der aktuellen Krise haben, sondern sozialstaatliche Modelle der Vergangenheit, fehlendes historisches Bewusstsein und die „Gratismentalität“ der jüngeren Generationen.
Am Anfang war das Nichts
Jaksic hat recht, wenn er sagt, dass in Chile am Anfang der Staat war, nicht die Nation. Doch dann beginnt er abzuschweifen in zum Teil abstruse Geschichtsverklärungen. So war es nicht – wie Jaksic fälschlicherweise behauptet – der Staat, welcher Schulen, Spitäler und öffentliche Infrastruktur aufbaute, sondern die Kirche und private Unternehmen. Der Staat war zu Beginn nicht mehr als ein Zirkel der wirtschaftlichen Eliten, unfähig, eine wirkliche Nation aufzubauen. Die Kirche kümmerte sich bis ins 20. Jahrhundert um die öffentliche Fürsorge, während private ausländische Minenunternehmen im Norden Eisenbahnstrecken bauten und die deutsche AEG das Strassenbahnnetz von Santiago und Valparaiso elektrifizierte.
Derweil setzte die Oligarchie das fort, was sie seit Beginn der Eroberung von Amerika immer getan hatte: Krieg zur Ausbreitung des Territoriums, Zwangsarbeit, Export von Rohstoffen und Import feiner Waren. Gesetze zum Schutz der arbeitenden Bevölkerung gab es nicht. Es war der junge General Carlos Ibañez del Campo, der 1925 putschte und in den darauffolgenden Jahren den Staat massiv ausbaute und die ersten Gesetze zum Arbeitsschutz einführte.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts forcierten staatliche Regierungen eine Industrialisierung des Landes. Erst jetzt begann der Staat sich wirklich um Schulen, Spitäler und die öffentliche Infrastruktur zu kümmern. Hier sieht Jaksic das Verderben Chiles: Zunehmende Verstaatlichung, Subventionen und politische Spannungen hätten zum Militärputsch von 1973 geführt. Dabei übersieht der Autor, dass erst zu jener Zeit ein Grossteil der Bevölkerung politisches Mitspracherecht erhielt und durch staatliche Förderprogramme endlich Teil der Gesellschaft werden konnte. Erst jetzt wurde eine wirkliche Nation geschaffen.
Dieser neue Teil der Bevölkerung, über Jahrhunderte unterdrückt, begann gleichzeitig auch weitergehende Forderungen zu stellen, was zu einer Anspannung der politischen Lage führte. Der Putsch war eine Reaktion darauf. Doch die Linke und ihre sozialen, politischen und wirtschaftlichen Demokratisierungsbestrebungen für eine der brutalsten Militärdiktaturen Lateinamerikas verantwortlich zu machen, ist eine Art von Geschichtsklitterung, die nur allzu gerne in den Hörsälen der Elite-Unis in Chile verbreitet wird – und anscheinend auch in der NZZ Anklang findet.
Von der Militärdiktatur zur neoliberalen Demokratie
Unter der Militärdiktatur von Augusto Pinochet wurde der Staatsapparat privatisiert und grosse Teile der öffentlichen Aufgaben an gewinnorientierte Akteure vergeben. Gleichzeitig – und das erwähnt Jaksic nicht – verfolgte die Diktatur jeglichen Widerstand, verhaftete, folterte und ermordete Tausende Chilen*innen. Während die Bevölkerung hungerte, schacherten sich die Wirtschaftseliten profitable Staatsunternehmen zu; auch die Familie von Pinochet bereicherte sich dadurch.
Aufgrund der grassierenden Armut setzte in den 80er-Jahren eine massive Protestwelle im Land ein, auf die in alter Tradition mit Ausgangssperren und Militär geantwortet wurde. Erst nachdem Pinochet eine demokratische Abstimmung über den Verbleib der Diktatur angesetzte hatte, flauten die Proteste ab. Fast alle demokratischen Kräfte kämpften gemeinsam für ein Nein zu Pinochet. Geworben wurde mit einem neuen Chile: demokratisch, frei und wohlhabend. „Chile, la alegría ya viene“: Chile, die Freude kommt, hiess es auf den Häuserwänden.
Spätere Mitte-links-Regierungen versuchten zwar, dem chilenischen Neoliberalismus ein sozialeres Antlitz zu geben, privatisierten gleichzeitig aber kräftig weiter. Jaksic spricht hierbei von „Sachzwängen“ – doch diese lagen genauso wenig auf der Hand wie bei Schröders Reformen in Deutschland. Die chilenische Linke hatte sich New Labour zugewandt und vergab die öffentliche Wasserversorgung, das Stromnetz und vieles mehr an private Hände. Auch die Diktatur wurde lange nicht belangt. Jaksic nennt dies „einen Kompromiss“ – die Diktatur hörte auf, aber ihre Institutionen blieben unangetastet. Die Verfassung von 1980 blieb bestehen und Pinochet verewigte sich als Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er setzte diesen „Kompromiss“ mit Kanonen durch. Als 1993 die Regierung von Ricardo Lagos zu unsauberen Geschäften des Sohns des Diktators ermitteln wollte, umstellte dieser wichtige Regierungsgebäude mit Elitesoldaten. Die Fälle wurden nie aufgeklärt.
Die Revolution der „Millenials“
Doch dann kamen die „Millenials“, laut Jaksic Schuld an allem Unheil. Sie gingen auf die Strasse, um das Recht auf Bildung einzufordern und die krasse Ungleichheit anzuprangern. Aber das erwähnt Jaksic kaum, auch gibt es für ihn keine Gewerkschaftsbewegung oder Proteste gegen das privatisierte Rentensystem. Jaksic empört sich lieber darüber, dass Studierende über Drehkreuze sprangen, „um sich den Fahrpreis zu sparen“, oder dass Bürgersteige „zu einer Kampfzone zwischen Fussgängern und Radfahrern“ wurden. Schlimm: Plötzlich war die Studierendenschaft nicht mehr das verängstigte Subjekt einer Diktatur, sondern klagte zu Recht gegen zu hohe ÖV-Preise. Das war schliesslich auch der Auslöser der Revolte vom Oktober 2019.
Am 18. Oktober 2019 kam es zum Ausbruch der Wut, die „Gewalt eskalierte dann rasch und führte in allen Grossstädten zu chaotischen Verhältnissen – insbesondere in der Hauptstadt Santiago“, schreibt Jaksic. „Eine in die Defensive gedrängte Regierung war zu einer Reihe von Konzessionen gezwungen, zu denen der Volksentscheid über eine neue Verfassung gehörte.“ Dass diese Regierung zuvor auf die eigene Bevölkerung schiessen liess, den Kriegszustand erklärte und erst nach Wochen der Proteste den Volksentscheid ankündigte, vergisst Jaksic leider zu erwähnen. Für ihn ging „die Gewalt weiter, was Zerstörungen in der Infrastruktur (speziell bei den U‑Bahn-Stationen) nach sich zog“. Auch hier vergisst er, dass die Metrostationen in Santiago bereits zu Beginn der Proteste in Flammen aufgingen. Tatsächlich ging „die Gewalt weiter“, aber in erster Linie diejenige der Polizei – über 400 Personen verloren aufgrund von Projektilen in den ersten zwei Monaten der Proteste mindestens ein Augenlicht. Der Staat und die Regierung zerstörten das Vertrauen der Bevölkerung selber, mit Panzern und Sturmgewehren auf der Plaza Italia, dem Ausgangspunkt der Proteste.
Auch heute zeigt sich auf tragische Weise, wie abgeschottet vom Rest der Gesellschaft die chilenische Regierung lebt. Nachdem über Wochen die Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus nicht griffen und die Regierung dafür das Verhalten der Bevölkerung verantwortlich gemacht hatte, gab der Gesundheitsminister Jaime Mañalich zu: „Ich hatte keine Ahnung vom Ausmass der Armut und der Enge, in der diese Menschen zusammenleben.“ Denn gerade in den armen Hauptstadtvierteln, jenen die von der Universidad Adolfo Ibañez aus zu sehen sind, wohnen oft mehrere Generationen unter einem Dach und leben von der Hand in den Mund. Ein #Staythefuckhome ist hier fast unmöglich.
Die chilenische Elite hat die Bevölkerung in eine Katastrophe geritten. Dass ihre Ideologen jetzt bemerken, dass da etwas nicht stimmt, ist ein Anfang. Doch das neue Chile muss dringend demokratische Reformen einleiten, die staatlich sanktionierte Gewalt stoppen und auf die Nöte der Bevölkerung reagieren. Ein erster Schritt dazu ist eine neue Verfassung. Im Oktober werden die Chilen*innen abstimmen, ob sie die alte Verfassung aus den Zeiten der Diktatur hinter sich lassen wollen.
Anstelle dieser kommt hoffentlich eine, die die Wünsche und Realitäten der Bevölkerung widerspiegelt. Jaksic spricht hier von einem neuen Staat, der „für das gute Leben der Bürger“ einstehen soll. Das klingt schön – aber es bedeutet jahrhundertealte Privilegien abzuwerfen und die Proteste ernst zu nehmen. Denn genau das verlangen die Protestierenden, ein Leben in Würde für alle. Die Antwort der Elite sah bislang giftgrün aus: Tränengas, Schrotkugeln und Wasserwerfer.
Einen guten Überblick über die jüngere Geschichte Chiles liefert die Sonderausgabe der Lateinamerika Nachrichten aus dem Jahr 2013: https://lateinamerika-nachrichten.de/wp-content/uploads/2015/01/Dossier_Chile_Web.pdf
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