Ein anderes Chile ist möglich: Repres­sion und Wider­stand im Andenstaat

Die Staats­ge­walt vermag die Proteste in Chile nicht einzu­dämmen. Viel­mehr macht sie soziale Miss­stände umso sicht­barer und befeuert damit die Wut der Bevöl­ke­rung. So auch der Tod eines Jugend­li­chen aus den Armen­vier­teln Sant­iagos, dessen Umstände immer noch unge­klärt sind. Eine Repor­tage aus dem Herzen des Aufstands. 
Während der Gedenkveranstaltung werden in Erinnerung an Yoshua Blumen abgelegt und Kerzen angezündet. Bild: ZVG

Dezember 2019. An einem warmen Sonn­tag­abend versam­meln sich um die 100 Menschen auf einem kleinem Platz vor einer gewöhn­li­chen Schule in einem typi­schen Arbeiter*innenviertel Sant­iagos. An der Schule studierte bis vor einem Jahr Yoshua Osorio, nun ist er tot. Er verbrannte am 20. Oktober in den Lagern des Unter­wä­sche­fa­bri­kanten Kayser. Er wäre dieses Jahr voll­jährig geworden.

Es geschah während der ersten Tage der Revolte in Chile. Millionen von Menschen prote­stierten für ein Leben in Würde, Metro­sta­tionen gingen in Flammen auf und Laden­ketten wurden geplün­dert. Darunter auch die Lager­hallen von Kayser. Während das Stadt­zen­trum und wohl­ha­bende Viertel durch schwer bewaff­netes Militär bewacht wurden, sahen die Nachbar*innen der Lager­hallen über mehrere Stunden zu, wie immer mehr Waren heraus­ge­tragen wurden. Nach etwa 19 Stunden fing die Lager­halle Feuer. Die Feuer­wehr rückte aus und später auch das Militär. Plötz­lich waren alle Türen zur Lager­halle verschlossen.

Während­dessen stand auf dem Park­platz vor der Lager­halle die Familie von Yoshua Osorio. Sie wusste, dass er zur Lager­halle gegangen war, um einen Freund raus­zu­holen. Jetzt kam er nicht wieder zurück. Als das Feuer gelöscht war, fand die Polizei fünf abge­brannte Körper im Inneren des Gebäudes. Yoshua lag tot hinter einer der verschlos­senen Türen. Auf der anderen Seite der Tür der Freund, den er retten wollte, eben­falls tot. Von den Medien und der Polizei wurden die Verstor­benen als Krimi­nelle bezeichnet.

Die Staats­an­walt­schaft kommu­ni­zierte nach Durch­füh­rung einer Autopsie, dass die jungen Männer erstickt seien. Der Autop­sie­be­richt konsta­tierte aber auch drei Löcher im Brust­korb von Yoshua und eine ausser­ge­wöhn­lich geringe Menge Rauch in der Lunge. Diese beiden Hinweise machten die Familie stutzig. Sie vermutet, dass ihr Sohn erschossen wurde: dass Yoshua von Polizei oder Militär ermordet oder schwer verletzt – und dann in der Fabrik einge­schlossen und somit als ein Bandit abge­stem­pelt wurde. Aber der Körper von Yoshua war bereits begraben, als diese Vermu­tung aufkam. Um eine unab­hän­gige Autopsie durch­führen zu lassen, kämpft die Familie mitt­ler­weile für die Frei­gabe des Leichnams.

Der Platz vor der Schule wurde von der lokalen Bevöl­ke­rung nach Yoshua benannt. „In Gedanken an dich verlangen wir Wahr­heit, Justiz und Strafe“, steht auf der Tafel. Bild: Malte Seiwerth

Verhee­rende Repression

Chile kommt seit gut drei Monaten nicht mehr zur Ruhe. Fast täglich finden Proteste gegen die Regie­rung statt (das Lamm hat berichtet). Die Ordnungs­kräfte gehen dagegen mit äusser­ster Gewalt vor. Das Natio­nale Institut für Menschen­rechte spricht mitt­ler­weile von gut 2000 Personen mit Schuss­ver­let­zungen und fast 400 Personen mit minde­stens einem verlo­renen Auge. Gleich­zeitig befinden sich aufgrund der Proteste weit über 3000 Menschen in Untersuchungshaft.

Einer, der die Gefan­genen vor Gericht vertei­digt, ist Nicolás Toro. Er ist Rechts­an­walt und Mitglied des Rechtsanwält*innenkollektivs „Komitee zur Vertei­di­gung des Volkes Geschwi­ster Vergara“. Wir treffen uns in einem Café vor dem zentralen Gerichts­ge­bäude von Sant­iago, einem riesigen Komplex. Der Vorder­be­reich ist aus Glas, im hinteren Teil befinden sich Gefäng­nis­zellen und ein Tunnel zur „Peni“, einem der berüch­tigt­sten Gefäng­nisse der Stadt. Ganz im Sinne des chile­ni­schen Neoli­be­ra­lismus gehört das Gebäude einem spani­schen Bauun­ter­nehmen und wird von den Behörden nur gemietet.

Toro spricht bei der Unter­su­chungs­haft im Zusam­men­hang mit den Prote­sten von poli­ti­scher Gefan­gen­schaft: „Wer sie in dieser Menge und diesem Kontext verhängt, macht dies zur Unter­drückung der Proteste.“ Und zu den doku­men­tierten Fällen von Unter­su­chungs­haft komme noch eine deut­lich höhere Zahl an kurz­zei­tigen Fest­nahmen hinzu. „Diese kurz­zei­tigen Fest­nahmen waren meistens unrecht­mässig“, sagt Toro. „Aus diesem Grund wurden sie erst gar nicht regi­striert und sie erscheinen nicht in den offi­zi­ellen Stati­stiken.“ Man könne ausserdem davon ausgehen, dass so gut wie alle Verhaf­teten während der Fest­nahme geschlagen oder gar gefol­tert wurden, fügt der Anwalt hinzu. Zwar habe das Ausmass in den letzten Wochen abge­nommen, doch es komme immer noch zu Augen­ver­let­zungen durch Schrot­ge­schosse oder Gasgra­naten. Erst am 27. Dezember ertrank ein Demon­strant in Sant­iago im mit Chemi­ka­lien versetzten Wasser aus dem Wasserwerfer.

Bilder von Yoshua und Zettel, auf denen Trau­ernde Nach­richten für ihn und seine Familie hinter­lassen haben. Bild: ZVG

Die Schule als Spiegel der Gesellschaft

Es ist aber nicht nur die Polizei, die repressiv auf soziale Forde­rungen und Verän­de­rungen reagiert. Das zeigt Yoshuas Geschichte. Vor seiner ehema­ligen Schule halten Freund*innen und ehema­lige Schulkamerad*innen eine Gedenk­feier für ihn ab – aber das Schul­ge­bäude bleibt geschlossen, und nur ein Lehrer ist anwe­send. Die Schul­di­rek­tion hatte jegliche Gedenk­ver­an­stal­tung verwei­gert. Mit dem Argu­ment, dass Yoshua vor etwa einem Jahr die Schule gewech­selt hatte. „Die 9 Jahre, die er zuvor hier mit uns studierte, scheinen nicht wichtig gewesen zu sein“, sagt ein anwe­sender Klas­sen­ka­merad. Die Schul­lei­tung nehme die Schüler*innen über­haupt nicht ernst. Sie reagiere nicht auf ihre Forde­rungen. „Die einzigen Lehrer, mit denen wir uns wohl fühlten und wahr­ge­nommen wurden, waren Américo und Pablo“, sagt der Schüler. „Pablo haben sie gekün­digt, nachdem er mit uns anhand eines Liedes über die Revolte spre­chen wollte.“ Américo nimmt an der Gedenk­feier teil – aber auch er arbeitet nicht mehr an der Schule. Er kündigte im November seinen Job. „Ich hatte der Direk­torin der Schule ein paar Vorschläge dafür gemacht, wie wir den Schü­lern besser helfen können“, erzählt er. „Die Direk­torin nannte mich einen Träumer und verneinte alles. Daraufhin kündigte ich meinen Job in der glei­chen Sitzung. So kann man nicht arbeiten!“ Eigent­lich sei er Lehrer geworden, um die Schule von innen verän­dern zu können. Aber das sei nicht möglich. „Ich bin froh, zumin­dest bei meinen Schü­lern etwas ange­regt zu haben.“ Er schaut die Anwe­senden an und sagt: „Dass ihr heute da wart und Musik gemacht habt, ist grossartig!“

 „Wahr­heit, Gerech­tig­keit und Bestra­fung“, der Kampf von Yoshuas Familie

Szenen­wechsel: Bei der Mutter von Yoshua zu Hause, am Rand von Sant­iago. Solange Arias sitzt auf einem Sofa, neben ihr ein Berg Kleider und ein Tisch, auf dem Fotos von ihrem Sohn ausge­stellt sind. Solange verkauft Klei­dung auf verschie­denen Märkten. Sie erzählt vom juri­sti­schen Prozess betref­fend den Tod von Yoshua, spricht dabei klar und deut­lich. Sie hat die Geschichte schon mehr­mals erzählt. Trotzdem kommen ihr hin und wieder die Tränen.

Mehr­mals die Woche geht sie zur Staats­an­walt­schaft. Ausserdem spricht sie sich täglich mit den Fami­lien der vier anderen Verstor­benen ab. Alle vermuten, dass ihre Ange­hö­rigen ermordet wurden. Bei einem von ihnen konnten Schuss­wunden am Fuss fest­ge­stellt werden. Solange ist sich sicher, dass ihr Sohn getötet wurde. „Ihm fehlten mehrere Zähne, sein Schmuck war verschwunden, und ausserdem lag er mit den Händen ausge­streckt auf dem Boden. So stirbt niemand im Feuer!“ Sie ist über­zeugt, dass hier jemand Mäch­tiges seine Hände im Spiel hat. „Der Brandort wurde nie nach Beweisen, der Körper von Yoshua nie nach Schuss­ver­let­zungen unter­sucht“, sagt sie. „Und jetzt hat der Staats­an­walt auch noch den Abriss der Trümmer erlaubt.“

José Morales, der zuge­wie­sene Staats­an­walt, ist kein unbe­schrie­benes Blatt. Ihm wurden schon mehr­mals Unter­su­chungen zu Korrup­ti­ons­fällen entzogen – aufgrund zu enger Bezie­hungen mit den betref­fenden Politiker*innen. Eine chile­ni­sche Zeitung berich­tete bereits 2015, dass er unter seinen Kolleg*innen äusserst umstritten ist.

Während sich Politiker*innen kurz nach den Bränden mit den Besitzer*innen und Manager*innen der betrof­fenen Unter­nehmen trafen, meldete sich niemand bei Solange. „Kein einziger Poli­tiker hat sich je bei mir gemeldet“, erzählt sie. „Das Unter­nehmen hat nie sein Beileid ausge­spro­chen, sondern meinen Sohn schlicht als einen Krimi­nellen bezeichnet – aber das war er keines­wegs.“ Die Mutter von Yoshua spricht von einer Zwei­klas­sen­ju­stiz: „Wir, die Armen, sind immer krimi­nell, während die da oben ihre Hände in Unschuld waschen.“ Mehr­mals haben sie sich an den Demon­stra­tionen betei­ligt. Sie gingen von ihrem Viertel aus in Rich­tung Stadt­zen­trum. Häufig wurden sie dabei von der Polizei ange­griffen. Auch Yoshuas Schwe­ster war jeweils dabei. Mit einem Baby auf dem Arm erzählt sie: „Wir waren mit Kindern und alten Menschen unter­wegs, und trotzdem haben sie mit Schrot auf uns geschossen.“

Die lokale Poli­zei­sta­tion ist verbar­ri­ka­diert, weil sich die Wut der Bevöl­ke­rung immer wieder in Stein­würfen entlädt. Bild: Malte Seiwerth

Aus der Wut zur Tat: „Nie wieder!“

Die Wut auf die Polizei ist gross. Während sie bei Demon­stra­tionen hart durch­greift, hat sie sich seit Beginn der Proteste weit­ge­hend aus den Armen­vier­teln zurück­ge­zogen. Belén Ramírez, eine Nach­barin der ehema­ligen Schule von Yoshua, berichtet: „Seit die Proteste begonnen haben, ist hier keine Polizei mehr zu sehen. Während­dessen zeigen sich die Drogen­kar­telle so offen wie nie zuvor.“ Die Sicher­heits­kräfte seien einzig und allein daran inter­es­siert, die Proteste nieder­zu­schlagen, ist sie wie viele andere überzeugt.

Auch Solange setzt kaum Hoff­nung in die Staats­an­walt­schaft oder die Polizei. Am Ende des Inter­views meint sie, dass einzig der inter­na­tio­nale Druck dazu führen kann, dass die Wahr­heit über den Tod ihres Sohnes ans Licht kommt. „Ni perdón, ni olvido, justicia para Yoshua“, sagt sie. „Weder Verge­bung noch Vergessen, Gerech­tig­keit für Yoshua.“ Der Spruch stammt ursprüng­lich aus Zeiten der Diktatur, als Tausende verschleppt und ermordet wurden. Heute ist er wieder hochaktuell.

Alle hoffen, dass der Kampf der toten, gefol­terten und verletzten Menschen nicht umsonst war. Nicolás Toro ist einer von mehreren Rechtsanwält*innen, die Klage gegen Präsi­dent Piñera einge­reicht haben. Er soll von den seit Ausbruch der Proteste verübten Menschen­rechts­ver­let­zungen gewusst haben und trotzdem nicht dagegen vorge­gangen sein. „Ich habe Klage einge­reicht, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt“, sagt er. „Die Mäch­tigen müssen wissen, dass auch sie für ihre Taten verant­wort­lich gemacht werden können.“ Yoshuas Mutter teilt die Hoff­nung auf Besse­rung. Ihr Sohn sei ein Symbol für das Unrecht vieler geworden, ist sie über­zeugt: „Ob wir es wollen oder nicht: Er ist ein Märtyrer.“ — „Nach all den Prote­sten“, sagt auch der Lehrer Américo, „werden wir in einer besseren Gesell­schaft leben. Das schwöre ich dir, hier, in diesem Inter­view“. Im Hinter­grund ist das Lied „El pueblo unido“ zu hören, ein Lied aus den sech­ziger Jahren, das heute wieder oft abge­spielt wird, mit dem Text: „Das verei­nigte Volk im Kampf gegen Unter­drückung wird niemals untergehen.“


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