Proteste in Chile: Ein Aufschrei gegen das neoli­be­rale Regime

In Chile herrscht Aufruhr. Die Demon­stra­tionen brechen nicht ab, und die Regie­rung reagiert mit erschreckender Repres­sion. Was ist in den letzten Tagen passiert? Und woher kommt der Unmut? 
Immer wieder werden neue Leichen mit Schusswunden entdeckt, und viele Demonstrant*innen werden vermisst. Foto> Constanza Liberone

Am Abend des 21. Oktober wurde ein guter Freund von mir in der Nähe von Sant­iago fest­ge­nommen. Dies, nachdem er einer durch Schrot­ku­geln verwun­deten Frau geholfen hatte, ins nächste Spital zu kommen. Als er am darauf­fol­genden Tag frei­ge­lassen wurde, war sein Körper übersät mit blauen Flecken, und er humpelte. Über das, was geschehen war, wollte er nicht reden. Nur so viel: „Es war keine ange­nehme Nacht. Alles, was du dir vorstellen kannst, haben sie gemacht.“

Dieser Fall steht stell­ver­tre­tend für die Realität eines Landes im Ausnah­me­zu­stand, nachdem Proteste gegen die Regie­rung und das neoli­be­rale Wirt­schafts­sy­stem knapp eine Woche ange­dauert haben. Die Regie­rung reagierte auf den Aufstand vor allem mit der Krimi­na­li­sie­rung der Prote­stie­renden: Das Militär und die Polizei wurden wie „in einem Kriegs­zu­stand“ auf die Bevöl­ke­rung losge­lassen; das Natio­nale Institut für Menschen­rechte sprach von schweren Menschen­rechts­ver­let­zungen, die von den Ordnungs­mächten begangen worden seien. Erst am Samstag kündigte der Präsi­dent Seba­stian Piñera neben den schon früher ange­kün­digten Reformen, die den Lebens­stan­dard leicht verbes­sern sollen, den Austausch des Kabi­netts an. Viel zu spät. Mitt­ler­weile verlangt die Bevöl­ke­rung den Rück­tritt der gesamten Regie­rung und die Bildung einer verfas­sungs­ge­benden Versammlung.

Was ist passiert?

Das ‚chile­ni­sche Modell‘, welches während der Diktatur von Augusto Pino­chet einge­führt wurde, gilt als das neoli­be­rale Extrem. Während der Diktatur sowie unter den Folge­re­gie­rungen wurden so gut wie alle öffent­li­chen Unter­nehmen und Güter priva­ti­siert. Dies betrifft sowohl die öffent­liche Grund­ver­sor­gung mit Strom und Wasser als auch die Bildung und das Renten­sy­stem. Mit verhee­renden Folgen, wie das Beispiel der Wasser­pri­va­ti­sie­rung zeigt: In Chile herrscht heute Trocken­heit, doch das vorhan­dene Wasser wird extrem unge­recht verteilt. Während kleine Landwirt*innen keinen Zugang zu Wasser für ihre Felder und Tiere erhalten, sind die Hügel der Gross­grund­be­sitzer mit saft­grünen Avocado­bäumen bedeckt. Ein Gross­teil des Wassers wird schon in den Anden von den Minen benutzt. Auch die Arbeits­rechte wurden in Chile massiv beschnitten und die öffent­li­chen Kontroll­organe fast gänz­lich ihrer Zähne beraubt. So gibt es in der Provinz von Acon­cagua, in der eine beson­ders hohe Zahl an Arbeiter*innen in der Land­wirt­schaft tätig ist, gerade einmal einein­halb Beamten, um die Einhal­tung der Arbeits­ge­setze zu kontrol­lieren. Anfang Oktober meldeten Zeitungen, dass jede 16. Person in Chile unter Depres­sionen leidet.

Eben­falls Anfang Oktober wurde in Sant­iago der Preis eines Tickets für den öffent­li­chen Verkehr zum dritten Mal inner­halb eines Jahrs um fünf Rappen erhöht. Das war zu viel: Verein­zelte Gruppen, vor allem Schüler*innen, riefen zu Prote­sten und zum gemein­samen Über­queren der Dreh­kreuze an den U‑Bahn-Stationen auf. Die Erhö­hung war für sie ein Symbol für den stetigen Anstieg der Lebens­ko­sten bei gleich­blei­benden Löhnen. Das Verspre­chen, dass sich ihr Lebens­stan­dard verbes­sern würde, hat sich nie erfüllt. Die Regie­rung versuchte vom ersten Tag an die Proteste zu unter­drücken und lehnte die Forde­rungen der Demonstrant*innen ab. So sagte die Trans­port­mi­ni­sterin, dass die Schüler*innen kein Recht auf Demon­stra­tionen hätten, da sie gar nicht betroffen seien und kündigte die Sper­rung des redu­zierten ÖV-Tarifs für alle betei­ligten Schüler*innen an. Nach ein paar Tagen waren die wich­tig­sten U‑Bahn-Stationen von der mili­ta­ri­sierten Polizei bewacht und es kam zu den ersten Miss­hand­lungen von Schüler*innen.

Schlacht­feld­ar­tige Szenen im Untergrund

Die Reak­tion der Behörden brachte das Fass endgültig zum Über­laufen. Am 18. Oktober kam es zu massiven Prote­sten an fast allen U‑Bahn-Stationen. Schlacht­feld­ar­tige Szenen spielten sich ab. Die Polizei setzte Tränengas, Schlag­stöcke und Schrot­ge­wehre gegen die Demon­strie­renden ein, während diese ihrer Wut freien Lauf liessen und mehrere Metro­sta­tionen verun­stal­teten. In der Nacht rief der Präsi­dent den Ausnah­me­zu­stand aus und übergab dem Militär die Aufgabe, für Sicher­heit zu sorgen. Seit der Pino­chet-Diktatur von 1973 bis 1990 ist es das erste Mal, dass in Sant­iago das Militär wieder auf die Strasse geht und für ‚Sicher­heit‘ sorgt. Das Militär verhängte sodann nächt­liche Ausgangssperren.

Für die Prote­stie­renden und grosse Teile der Oppo­si­tion war das ein Affront. Sie kündigten weitere Proteste und Gene­ral­streiks im ganzen Land an. Diese dauern bis heute an. Die Tage sind geprägt von massiven Demon­stra­tionen. Nach­mit­tags und mit dem Beginn der Ausgangs­sperre wird die Repres­sion immer stärker, Panzer fahren auf, und es wird mit Schrott und verein­zeilt auch mit Sturm­ge­wehren auf die Demonstrant*innen geschossen. Die Miss­hand­lung von Fest­ge­nom­menen gehört zur Tages­ord­nung. Mitt­ler­weile wird unter­sucht, ob eine der grössten U‑Bahn-Stationen während der ersten Tage der Proteste als Folter­zen­trum verwendet wurde. Soziale Orga­ni­sa­tionen und linke Parteien berichten von ille­galen Festnahmen.

Laut dem Natio­nalen Institut für Menschen­rechte (INDH) wurden bis Frei­tag­abend 3162 Menschen fest­ge­nommen. Die chile­ni­sche Ärzte­kammer sprach indes von 1’183 verwun­deten Demonstrant*innen, die allein in Sant­iago in die Notauf­nahmen kamen. Bislang haben minde­stens fünf Menschen durch direkte Einwir­kungen des Mili­tärs und der Polizei ihr Leben verloren. Die Dunkel­ziffer ist aller­dings gross: Immer wieder werden neue Leichen mit Schuss­wunden entdeckt, und viele Demonstrant*innen werden vermisst.

Sams­tag­nacht wurde die Ausgangs­sperre erst­mals wieder aufge­hoben, was Polizei und Militär nicht daran hinderte, weiterhin Fest­nahmen und Schüsse auf Demon­strie­rende zu tätigen. Der Innen­mi­ni­ster Andrés Chadwik weigerte sich, jegliche poli­ti­sche Verant­wor­tung für die Gescheh­nisse der letzten Tage zu über­nehmen. Präsi­dent Seba­stían Piñera sprach von einem „Kriegs­zu­stand“. Mitt­ler­weile entschul­digte er sich für die Worte und meinte, dass „seine Regie­rung nicht im Stande war, den sozialen Unmut zu erkennen“. Ausserdem kündigte er seine sozialen Reformen an, die vor allem auf höhere Staats­aus­gaben beruhen.

Von der linken Oppo­si­tion und sozialen Orga­ni­sa­tionen werden diese Reformen aber als unzu­rei­chend bezeichnet. Etwa die Erhö­hung des Mindest­lohns von 270’000 auf 350’000 chile­ni­sche Pesos: Dies entspricht einer Erhö­hung um rund 100 Schweizer Franken, die etwa 4’000’000 Personen betrifft. Das ist rund die Hälfte der lohn­ar­bei­tenden Bevöl­ke­rung Chiles. Clou der Mass­nahme ist jedoch, dass die Erhö­hung durch Subven­tionen von Seiten des Staates bezahlt wird – und die Unter­nehmen folg­lich nicht direkt betrifft. Die inner- und ausser­par­la­men­ta­ri­sche Oppo­si­tion fordert viel grund­le­gen­dere Reformen sowie den Rückzug des Mili­tärs in die Kasernen.

Der Ruf nach radi­kaler Veränderung

Es sind radi­kale Verän­de­rungen, die in den Prote­sten gefor­dert werden. Sie sind der Aufschrei einer Bevöl­ke­rung, die viel zu lange unter dem neoli­be­ralen Regime gelitten hat. Und so meinte auch die Histo­ri­kerin Claudia Zapata im Inter­view mit Telesur, „dass nur eine grund­le­gende Reform des poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Systems die derzei­tige Situa­tion beru­higen kann.“ Landes­weit gehen weiterhin jeden Tag tausende Chilen*innen auf die Strasse. Allein in Sant­iago spra­chen alter­na­tive Medien von minde­stens 1’200’000 Menschen, die sich auf dem zentralen Platz versam­melten. In der Nacht, während der Ausgangs­sperre, treffen sich die Menschen vor ihren Häusern und klopfen gemeinsam zum Protest gegen die Regie­rung auf ihre Töpfe. Häfen, öffent­liche Behörden und viele weitere Betriebe stehen still. Wie die näch­sten Tage aussehen werden, weiss jedoch noch niemand. Die Regie­rung hat jede Rück­tritts­for­de­rung abge­lehnt und berief weitere Reser­vi­sten zum Mili­tär­dienst ein. Während­dessen versu­chen soziale Orga­ni­sa­tionen weiterhin Proteste zu orga­ni­sieren und der Unter­drückung durch Folter und Ermor­dungen entge­gen­zu­treten. Heute Montag posi­tio­niert sich die inter­na­tio­nale Kommis­sion der UNO in Chile, um die Einhal­tung der Menschen­rechte zu überprüfen.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 18 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1196 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel