Auch ohne Hang zur Objektophilie kann man unsere Wasserinfrastruktur als den hellen Wahnsinn bezeichnen. In Millionen von Haushalten kommt Wasser aus dem Hahn – und verschwindet wieder im Abguss. Faszinierend. Zentraler Bestandteil dieser Infrastruktur ist die Abwasserentsorgung über die Kanalisation. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Idee revolutionär: Schmutzwasser sollte, statt auf der Strasse zu landen, in einer Kanalisation gesammelt und in ein Klärwerk geschwemmt werden. Das System der Schwemmkanalisation hat sich in den meisten Industriestaaten durchgesetzt, und über Abwasser verbreitete Seuchen wie Cholera sind heute praktisch eliminiert.
Mit viel politischem Willen und unter ökonomisch und klimatisch idealen Bedingungen hat es in der Schweiz mehrere Jahrzehnte gebraucht, um unsere Wasserinfrastruktur zu errichten. Ein vierköpfiger Schweizer Haushalt ist in der Lage, unglaubliche 200 Tonnen Wasser pro Jahr zu beziehen. Unsere Wasserinfrastruktur ermöglicht es, dass über 97 Prozent davon über die Kanalisation in Kläranlagen eingeleitet und gereinigt werden.
Eines der grössten Bauwerke der Schweiz fristet jedoch trotz seiner Relevanz für das tägliche Leben ein Mauerblümchendasein – mit potenziell nicht ganz irrelevanten Folgen. Selten wahrgenommen, verlaufen in unserem Untergrund rund 200’000 Kilometer Leitungen. Der Wiederbeschaffungswert der gesamten schweizerischen Abwasserinfrastruktur beläuft sich auf rund 120 Milliarden Franken. Zudem werden jedes Jahr rund 600 Millionen Franken in Wasserleitungen investiert. Viel Geld. Aber reicht dies aus?
Alte Liebe rostet doch
Denn ein Teil der Leitungen erreicht in den nächsten Jahren sein Lebensende. Doch niemand weiss genau, wo die grössten Investitionen anstehen. Es liegen nur punktuell Informationen über Alter, Zustand und Sanierungsbedarf der Wasserversorgungsinfrastruktur vor. Fachleute gehen von einem stark erhöhten Investitionsbedarf in naher Zukunft aus. Eine vom Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) unter Mithilfe von Eawag-Forschenden verfasste Studie warnt gar vor einem Investitionsstau und verweist darauf, dass insbesondere kleinere Gemeinden im Rückstand seien.
Zudem sind viele Leitungen zu gross angelegt. Bei der Planung in den 1960er und 1970er Jahren ging man von einem stetig steigenden Wasserverbrauch aus und berechnete daraus den zukünftigen Wasserverbrauch – eine Fehleinschätzung. Denn nachdem um 1970 der durchschnittliche Wasserverbrauch seinen Höhepunkt erreicht hatte, ist er seit den 1980ern stetig gesunken. Heute liegt der Verbrauch pro Kopf und Tag bei rund 300 Litern, weniger als 1945.
Wie ist diese Entwicklung möglich? Ein grosser Teil dazu beigetragen hat der Strukturwandel in der Wirtschaft. Viele wasserintensive Industrien sind ins Ausland abgewandert. Weiter sind dank moderner Leckortung die Wasserverluste kleiner und mit effizienteren Geräten und Wasserspartipps die Einsparungen grösser geworden.
Der Wasserrückgang ist erfreulich, denn: Wenn weniger Schmutzwasser gereinigt werden muss, brauchen die Anlagen weniger Energie. Und im Gegensatz zum Volumen hat der Grad der Verschmutzung des Wassers auf den Energieverbrauch der Reinigungsanlage kaum einen Einfluss. Trotzdem ist eine weitere Abnahme des Kaltwasserverbrauchs mit der heutigen Infrastruktur nur begrenzt erwünscht. Die Schwemmkanalisation benötigt nämlich eine gewisse Menge an Wasser, damit sie ihrem Namen gerecht wird. Nimmt der Wasserverbrauch weiter ab, können Probleme entstehen. Mit abnehmendem Abfluss sinkt die Schleppkraft der Kanalisation, was zu Ablagerungen und Verstopfungen, Geruchsbildung und zur Bildung korrosiver Substanzen führen kann.
Mischmasch in der Leitung
Die etablierte Infrastruktur wird auch an einem anderen Punkt der heute nötigen Ressourceneffizienz nicht mehr gerecht. Seit Jahrzehnten sortieren wir mehr oder weniger erfolgreich unseren Müll, trennen Glas‑, Papier‑, Plastik‑, Bio- und Restmüll. Ganz anders sieht es beim Abwasser aus: Da landet noch alles zusammen in der Kanalisation.
Dabei wäre es sinnvoll, die verschiedenen Abwasserströme unterschiedlich zu behandeln. Abwasser aus der Toilette gilt als Schwarzwasser. Abwasser aus der Dusche, dem Waschbecken, der Spül- oder Waschmaschine und alle anderen häuslichen Abwasser sind Grauwasser. Grauwasser alleine zu reinigen benötigt weniger Energie, als wenn dies zusammen mit dem Schwarzwasser passiert. Zudem ist Schwarzwasser voll mit Energie und Nährsoffen wie Stickstoff, Phosphor und Kalium und lässt sich weiterverwerten. Urin macht weniger als 0,5% der Abwassermenge aus, enthält aber über 75% des Stickstoffs und 50% des Phosphors. Würde das No-Mix-Konzept flächendeckend in der Schweiz eingeführt, könnte man auf den Import von mineralischem Phosphordünger verzichten.
Investitionen kanalisieren
Wir halten fest: Für die Wasserbewirtschaftung leisten sich Industrieländer eine an sich funktionierende, aber aufwendige Infrastruktur. Dieses konventionelle System ist jedoch nur begrenzt zukunftsfähig. Dies zeigt sich auch im Missverhältnis der Investitionskosten. In der Schweiz müssen 90% der Investitionskosten für die Kanalisation aufgewendet werden. Somit bleiben nur rund 10% für die Kläranlagen übrig, obwohl diese mehr Investitionen nötig hätten. Bereits heute sind über 30’000 unterschiedliche Stoffe im täglichen Gebrauch. Um den Mikroverunreinigungen Herr zu werden, müssen die Abwasserreinigungsanlagen in Zukunft noch komplexer werden.
Stellt sich also die Frage, welches die Alternativen zu diesem System sind. Weil das Ableiten des Abwassers teuer ist, erscheint eine dezentrale Abwasserbehandlung sinnvoll. Durch eine lokale Aufbereitung entfällt der aufwendige Wassertransport in zentrale Kläranlagen. Dezentrale Strukturen lassen sich flexibler auf- und ausbauen. In Kombination mit dem No-Mix-Konzept kann beispielsweise bereits im jeweiligen Wohngebäude das Grauwasser aufbereitet und wieder genutzt werden. Dezentrale Systeme zur Abwasserbehandlung sind aktuell ein wichtiges Forschungsthema. Das gilt nicht zuletzt für Länder mit widrigen ökonomischen und instabilen politischen Bedingungen. Für viele ärmere Länder steht oftmals schlicht gar nicht genug Wasser für den Betrieb einer Schwemmkanalisation zur Verfügung.
Ob sich eine zunehmende Dezentralisierung im Wasserschloss Schweiz durchsetzen wird, muss sich zeigen. Klar ist, ob neue Leitungen oder teurer Unterhalt der alten: kosten wird es auf jeden Fall. Falls in der geschäftigen Schweiz in Zukunft die grossen Geschäfte nicht mehr in Ordnung ablaufen, wird es gewiss ein Leichtes sein, für vier Jahre gewählten (Lokal-)PolitikerInnen die Schuld zu geben. Vielleicht benötigt unsere Infrastruktur jedoch auch ein Stück weniger Selbstverständnis der StimmbürgerInnen, damit sich PolitikerInnen mit vorausschauendem Management hervortun können.
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