Wer denkt, wird sich seiner Irrwege bewusst. Ich glaube, das eine – Denken – kann nicht ohne das andere – sich irren – funktionieren. Und da sind wir schon mitten im Thema: Scheitern. Wer denkt, kann auch an einem Gedanken scheitern oder einem Thema nicht gerecht werden.
In meinem ersten Buch „Keine Aufstiegsgeschichte“ habe ich geschrieben: „Durch [das geflügelte Wort] ‚Scheitern als Chance‘ wird das Scheitern, die Niederlage mit einem positiven Sinn aufgeladen, der dem Scheiternden eine Perspektive bietet, einen Neuanfang. In den allermeisten Fällen besteht die Chance in der Möglichkeit noch mal zu scheitern.“
Was ich damit meine: In meinen Zwanzigerjahren habe ich mich nach verpatztem Fachabitur mit einer ganzen Palette aus Jobs herumgeschlagen. Ich war das, was man weitläufig als Multijobber bezeichnet. Immerzu hatte ich mindestens zwei, manchmal drei Jobs gleichzeitig, weil ein Job allein mich nie ernähren konnte.
War ich aber gescheitert?
Im Vergleich zu meinen Mitschüler*innen von der Privatschule, auf die ich ging, absolut. Aber was soll das für ein Vergleich sein, einen Jungen aus der Armutsklasse mit Kindern aus dem Bürgertum zu vergleichen? Während ich bekifft an der Supermarktkasse sass, nahmen diese ihr Studium auf oder erkundeten Australien. Wenn mich ihre Eltern dann im Supermarkt sahen, in dem sie einkauften, bekam ich nicht selten einen Spruch wie diesen zu hören: „Olivier, du bist doch so ein feiner Kerl, mach doch was aus deinen Talenten.“
Dabei reproduzierte ich meine soziale Klasse und war damit die Regel. Meine Eltern hatten jeweils ihren Realschulabschluss gemacht, so auch ich. Mein Vater hatte Drogenprobleme, ich hatte ebenfalls mit Sucht zu kämpfen. Mein Werdegang war, sozialwissenschaftlich betrachtet, erwartbar. Demnach kann von Scheitern nicht die Rede sein.
„David gegen Goliath“ ist hier Programm: Olivier David gegen die Goliaths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facettenreichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Prekarität und Gegenkultur zu reflektieren, zu besprechen, einzuordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schreibens mit Klassenstandpunkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint ebenfalls als Newsletter.
Seit einigen Wochen nun denke ich auf diesem Begriff herum. Scheitern. Ich bin mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob man das Scheitern so zurückweisen sollte, wie ich es noch in meinem Debüt getan habe. Steckt nicht vielleicht doch eine Art allgemeingültiges Potenzial im Scheitern?
Gutes Scheitern, schlechtes Scheitern
Wir müssen das wirkliche Scheitern trennen von dem „Scheitern“, das nur der Logik der Reproduktion unserer Klassengesellschaft folgt und dieser inhärent ist. Nicht überall, wo Leute nicht vom Fleck kommen, kann man vom Scheitern sprechen. Wenn Schulen, Universitäten und der Staat Ausschlüsse produzieren, dann können wir den Menschen, die ausgeschlossen werden, nicht sagen: Du bist gescheitert. Das wäre pure Individualisierung oder sogar victim blaming.
Bei anderen Fällen denke ich mittlerweile, dass Scheitern aber vielleicht doch eine Chance bietet. Eine Möglichkeit, gesellschaftliche Erzählungen wie die des Aufstiegs zurückzuweisen. Vielleicht müssen wir uns sogar darin üben, scheitern zu dürfen. Das Scheitern entstigmatisieren und sogar kultivieren, um zu etwas vorzudringen, das man als innere Wahrheit bezeichnen könnte.
Anders gesagt: Wenn ich nicht da ankomme, in meiner Karriere, in meiner Kunst, im Sport, wo auch immer ich mal hinwollte, dann ist das sicher schmerzhaft. Aber es bietet die Chance, ein Bild von sich zu korrigieren, dass möglicherweise unrealistisch ist.
In ihrer Kolumne „Saure Zeiten“ spricht die Autorin Sibel Schick über das Gefühl, erfolglos zu sein. Vom Schreiben, sagt sie, könne kaum jemand leben, in den sozialen Medien fände jedoch eine Inszenierung statt, die vorgibt, dass viele Schreibende mit dem, was sie tun, erfolgreich sind.
Schick schreibt:
„Aber auf Instagram sieht es irgendwie so aus, als ginge es allen supergut. Sonnendurchflutete Wohnungen, Reisen, Designer-Kleidung, ein Meilenstein nach dem anderen. Warum? Warum bekomme ich auf Instagram dein Eindruck, dass ich die Einzige bin, der es beruflich nicht gut geht? Warum sprechen nicht mehr Menschen über die Erfahrung, erfolglos zu sein, sich kaum über Wasser halten zu können, jeden Monat Dispo zu haben? Können wir es bitte normalisieren, darüber zu sprechen, wenn es uns finanziell nicht ganz gut geht?“
Was ich mich frage: Brauchen wir diese Inszenierung – oder würde es uns nicht sogar guttun, wenn wir uns ehrlich machen würden, indem wir sagen: „Die letzten Monate waren hart. Ich habe mit meinem Buch nicht das erreicht, was ich wollte?“
Als ich angefangen habe, an meinem ersten Buch zu schreiben, dachte ich mir, ich versuche, vom Schreiben zu leben. Wenn ich es mit dem ersten Buch nicht schaffen sollte, wäre ich gescheitert. Ich stellte mir vor, wie peinlich es wäre, meinem Umfeld einzugestehen, dass ich mich verkalkuliert hatte, dass ich mich damit kaum finanziell über Wasser halten könnte. Undenkbar. Dann lieber aufhören.
Natürlich wäre es toll, von dem zu leben, was man liebt, und womit man gerne den ganzen Tag verbringt. Aber bin ich, ist Sibel Schick gescheitert, weil wir daran arbeiten, von unserem Beruf zu leben, es manchmal aber nicht funktioniert? Ich bin mir nicht sicher.
Stattdessen täte es gut, mit mehr Ehrlichkeit über seinen Beruf zu sprechen.
Ehrliches Scheitern
Fangen wir gleich damit an. Ich habe Angst vor den Sommermonaten, in denen ich nur wenige Lesungen und Podien habe, die meine Rechnungen bezahlen. Auch im Januar und Februar war es finanziell schwierig für mich, über die Runden zu kommen. Um mich zu finanzieren, arbeite ich zwei Tage die Woche für ein Medium und bereite Texte auf. Mein Schreiben und der Versuch, mich zu finanzieren, läuft nicht so, wie ich es geplant hatte.
In einem System zu leben, das uns entfremdet und uns ausbeutet, ist es schwer, bei sich zu bleiben. Für meinen Essayband, der im Mai erscheint, habe ich mit einigen Menschen in meinem Umfeld – alle aus der unteren Klasse – über ihr Leben gesprochen und darüber, wie sie darauf schauen.
Einer von ihnen, sein Künstlername ist Yaso, zieht nachts um die Häuser und bemalt Wände und Häuserfassaden. Wird er geschnappt, ist er ein erneuerter Beweis dafür, dass Menschen aus der unteren Klasse nicht vorankommen, dass sie Stress mit Gerichten und Bussgeldern haben. Wird er geschnappt, gilt er gesellschaftlich als jemand, der gescheitert ist.
Was Yaso aber macht: Er weist diese Logik zurück. Er weigert sich, sein Tun als Scheitern zu begreifen. Malen ist für ihn ein Projekt der Selbstverwirklichung, da kann er derjenige sein, der er wirklich ist. Diese Deutungshoheit über sein Leben kann jederzeit verloren gehen, aber wichtig ist erst mal, dass er für sich einen Mehrwert aus seiner Entscheidung zieht, nachts um die Häuser zu ziehen.
Wenn man Yaso, Sibel Schick oder mich fragen würde, ob wir uns ein besseres Leben vorstellen könnten, würde vielleicht der ein oder die andere von uns sagen: mehr Geld, mehr Respekt, das wäre es. Und dennoch ziehen wir es durch, den Widerständen zum Trotz und versuchen ein Maximum an Selbstbestimmung zu erreichen, da wo es für uns nicht vorgesehen ist. Und das ist es, worauf es ankommt.
Die Folgen der ausbeuterischen Gesellschaft, in der wir leben, werden uns als persönliches Scheitern angelastet und individualisiert. Es liegt nicht an Schick, dass sie Phasen hat, in denen sie nicht genug Geld verdient.
Dies können wir gleichzeitig unterlaufen, indem wir uns sagen: Zwischen meiner Vorstellung und der Realität klafft eine Lücke, die sich nur schliessen lässt, wenn ich mir ab und an eingestehe, dass ich manche Dinge, die ich mir vorgenommen habe, nicht erreicht habe. Vielleicht auch gar nicht erreichen kann. Das geht besser, wenn wir Menschen, die diese Form der Ehrlichkeit praktizieren, dafür nicht auch noch abwerten.
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