Es gibt keinen sicheren Ort mehr in Gaza

Um bei Verstand zu bleiben, hilft die vertrie­bene Palä­sti­nen­serin Serena Awad anderen – und in Gaza braucht jede Person Hilfe. Das Schreiben über den Krieg ist für sie zu einem wich­tigen Mittel geworden, um auf das Elend aufmerksam zu machen und die Hoff­nung nicht zu verlieren. 
Serena Awad verteilt Lebensmittel in einem Heim für Krebs- und Nierenkranke in Rafah am 23. Februar 2024 (Foto: Israa Dawood)

Inhalts­war­nung: Dieser Beitrag enthält Schil­de­rungen von Suizid­ge­danken, Vertrei­bung, Gewalt und Tod.

Am Anfang, in den ersten beiden Monaten des Geno­zids, stand ich komplett unter Schock. Ich konnte kaum glauben, dass wir alles verloren hatten, was uns gehörte. Meine Geschwi­ster wurden sicher aus Gaza evaku­iert – ich blieb mit meinem jüng­sten Bruder, meinen Eltern und der Suche nach einem Ort zum Über­nachten allein zurück.

Mir fiel es schwer, mich zu bewegen oder mit jemandem zu spre­chen. Und die Isola­tion machte alles nur noch schlimmer. Schliess­lich wurde mir klar: Ich muss zurück ins Geschehen und aktiv etwas für andere tun. Das war und ist das Einzige, was mir beim Heilen hilft.

Zurück ins Geschehen – was heisst das? Was tue ich in Palä­stina? Gerade arbeite ich mit dem American Friends Service Committee, einer den Quäckern nahe­ste­henden Hilfs­or­ga­ni­sa­tion. Das Team in Gaza setzt sich uner­müd­lich für die Menschen hier ein, indem wir Lebens­mittel, Wasser und Hygie­ne­ar­tikel verteilen und Frei­zeit­ak­ti­vi­täten für die Kinder anbieten.

Millionen palä­sti­nen­si­sche Geschichten

Der Bedarf nach Hilfs­gü­tern ist riesig. Jede einzelne Person braucht Hilfe. Alles, was wir hier Tag ein Tag aus leisten, ist nichts als ein Tropfen auf den heissen Stein. Trotzdem können wir nicht aufhören.

Ich bin dankbar dafür, dass ich vor Ort sein kann: inmitten der Menschen, in Zelten, Unter­künften und Lagern, wo ich ihnen zuhören und ihre Über­le­bens­ge­schichten aufschreiben kann. Zu helfen, wo immer ich kann, lässt mich weiter­ma­chen. Nur das Helfen hält mich davon ab, den Verstand zu verlieren.

Serena Awad schreibt über ihre eigene Geschichte – und die Millionen anderer Palästinenser*innen. (Bild: zVg)

Im Oktober 2023 wurde die Palä­sti­nen­serin Serena Awad aus dem Norden Gazas vertrieben. Nun lebt sie im südlich gele­genen Al-Nuss­irat-Camp. Hier und in anderen Lagern verteilt sie Lebens­mittel, Wasser und Hygie­ne­beutel – und berichtet über die Geschichten von Palästinenser*innen, damit die Welt sie hört.

Und doch: Manchmal, wenn ich ein Lager besuche, mit einer Familie zusam­men­sitze und sehe, unter welchen Bedin­gungen sie leben müssen. Wenn ich höre, wie sie Fami­li­en­mit­glieder verloren haben, wie sie aus dem Schutt gerettet wurden, oder ihre Kinder noch immer unter den Trüm­mern liegen. Wenn sie erzählen, wie Soldat*innen ihre Waffen auf sie rich­teten und sie unter Feuer fliehen mussten. Dann möchte ich mich am lieb­sten im Meer ertränken, um zu vergessen, was ich gesehen und gehört habe, – weil ich damit nicht leben kann.

Während wir bluten, fliehen und hungern, bleibt uns nur darüber zu berichten, damit die Welt uns sieht.

Vor Kurzem traf ich im Al Khawalda-Lager eine Familie, die nur noch aus vier Kindern besteht. Ihre Eltern starben, als ihr Haus bombar­diert wurde. Jedes Mal, wenn ich bei ihnen bin, muss ich mir vorstellen, wie diese winzigen Körper gegen eine riesige Bombe ange­kämpft und über­lebt haben. 

Wie werden sie weiter­leben, ohne das Gefühl zu kennen, eine Mutter oder einen Vater zu haben?

Ihre Geschichte ist nur eine unter Millionen. Wir Palästinenser*innen geben alles, um über all die Geschichten zu schreiben und zu spre­chen, bevor wir selbst getötet werden. 

183 Journalist*innen wurden bereits getötet. Sie alle starben im Versuch, die Wahr­heit über diesen Genozid öffent­lich zu machen. Ihre Aufgabe wird zu unserer, zu meiner Aufgabe. Während wir bluten, fliehen und hungern, bleibt uns nur darüber zu berichten, damit die Welt uns sieht und Israel zur Verant­wor­tung zieht. Bis heute warten wir vergebens.

Psychi­sche Gesund­heit im Krieg

Manchmal besu­chen meine Mutter und ich die Lager zusammen. Meine Mutter ist Psycho­login bei The Gaza Commu­nity Mental Health Programme (GCMHP), einer NGO, die psycho­lo­gi­sche Erste Hilfe anbietet. Die Mitarbeiter*innen unter­stützen die Menschen in den Camps dabei, drin­gende psychi­sche Bedürf­nisse und frühe Anzei­chen für psychi­sche Probleme zu erkennen und vermit­teln den Menschen bei Bedarf spezia­li­sierte Unterstützungsangebote.

Es gibt keinen sicheren Ort mehr in Gaza.

Nur an der Seite meiner Mutter konnte ich das alles durch­zu­stehen. Die Art, wie sie uns zuhört und alles gibt, um uns beim Verar­beiten des Gesche­hens zu helfen, bedeutet mir die Welt. 

Gleich­zeitig wissen wir alle, dass sämt­liche Bemü­hungen für psychi­sche Gesund­heit erst dann tatsäch­lich wirksam sein können, wenn der andau­ernde Genozid beendet ist. 

Mora­li­scher Kompass

Ein neuer Bericht einer unab­hän­gigen Kommis­sion der Verei­nigten Nationen bestä­tigt mehrere Verstösse gegen das huma­ni­täre Völker­recht, die Israel gegen Palästinenser*innen beging und weiter begeht. 

  1. Die vorsätz­liche Tötung von palä­sti­nen­si­schen Zivilist*innen. Bis jetzt sind mehr als 40’000 Tote bestä­tigt, 12’000 davon liegen unge­borgen unter den Trüm­mern. [Anm. der Autorin: Eine Studie von Lancet zählt aller­dings weitaus mehr Todes­opfer in Gaza: nämlich 186’000 Menschen.]
  2. Hungersnot wird als Waffe eingesetzt.
  3. Mehr als 1.7 Millionen Palästinenser*innen werden zur Flucht aus ihren Häusern gezwungen und damit vertrieben.
  4. Sexu­eller Miss­brauch und Verfol­gung von Palä­sti­nen­se­rinnen. Bei diesem Genozid wurden 14’000 Kinder getötet. Die Zahl über­steigt die von 12’000 welt­weit getö­teten Kinder zwischen 2019 und 2022.
  5. Direkte und öffent­liche Aufsta­che­lung zum Völker­mord durch israe­li­sche Offizielle

Es gibt keinen sicheren Ort mehr in Gaza. Nie weiss ich, ob ich ihr näch­stes Ziel sein werde. 

Warum auch nicht? Sie haben alles ange­griffen, haben Zelte mit Menschen darin verbrannt. Sie haben Wohn­häuser, Kran­ken­häuser, Kran­ken­wagen, Zivil­schutz­fahr­zeuge, Pres­se­büros, Moscheen, Kirchen, Schulen, Unter­künfte, Brunnen, Bäcke­reien, Botschaften und sogar UN-Gebäude bombar­diert – die Liste ist endlos.

Palä­stina hat sich zu einem mora­li­schen Kompass für die Mensch­heit entwickelt, und es ist wichtig, den Weg nicht aus den Augen zu verlieren. Es kann nicht oft genug betont werden: Jedes Wort und jede Tat können hier Leben retten. Man sollte nie unter­schätzen, wie viel man bewirken kann, wenn man sich für Gerech­tig­keit einsetzt. Alles beginnt mit einem ersten, kleinen Schritt.

Dieser Text wurde von Mara Haas aus dem Engli­schen über­setzt. In einem ersten Beitrag «Der Tag wird kommen» schreibt Serena Awad aus dem Al-Nuss­irat-Lager im Süden Gazas über ihren Alltag im Krieg – und die Hoff­nung auf sein Ende.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 30 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1820 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Sie wollen Domi­nanz und Tradition

Trumps knappen Wahlsieg auf ökonomische Faktoren zurückzuführen, greift zu kurz. Die Linke muss der Realität ins Auge sehen, dass ein grosser Teil der Bevölkerung Trump nicht trotz, sondern wegen seines ethnonationalistischen Autoritarismus gewählt hat. Eine Antwort auf Balhorns Wahlkommentar.

Fick den Genderstern!

Die SVP betreibt mit der Genderstern-Initiative rechten Kulturkampf und will dem sogenannten ‚Woke-Wahnsinn‘ den Garaus machen. Sie können das Sonderzeichen gerne haben – vorausgesetzt, genderqueere Personen können ein sicheres Leben führen.