Inhaltswarnung: Dieser Beitrag enthält Schilderungen von Suizidgedanken, Vertreibung, Gewalt und Tod.
Am Anfang, in den ersten beiden Monaten des Genozids, stand ich komplett unter Schock. Ich konnte kaum glauben, dass wir alles verloren hatten, was uns gehörte. Meine Geschwister wurden sicher aus Gaza evakuiert – ich blieb mit meinem jüngsten Bruder, meinen Eltern und der Suche nach einem Ort zum Übernachten allein zurück.
Mir fiel es schwer, mich zu bewegen oder mit jemandem zu sprechen. Und die Isolation machte alles nur noch schlimmer. Schliesslich wurde mir klar: Ich muss zurück ins Geschehen und aktiv etwas für andere tun. Das war und ist das Einzige, was mir beim Heilen hilft.
Zurück ins Geschehen – was heisst das? Was tue ich in Palästina? Gerade arbeite ich mit dem American Friends Service Committee, einer den Quäckern nahestehenden Hilfsorganisation. Das Team in Gaza setzt sich unermüdlich für die Menschen hier ein, indem wir Lebensmittel, Wasser und Hygieneartikel verteilen und Freizeitaktivitäten für die Kinder anbieten.
Millionen palästinensische Geschichten
Der Bedarf nach Hilfsgütern ist riesig. Jede einzelne Person braucht Hilfe. Alles, was wir hier Tag ein Tag aus leisten, ist nichts als ein Tropfen auf den heissen Stein. Trotzdem können wir nicht aufhören.
Ich bin dankbar dafür, dass ich vor Ort sein kann: inmitten der Menschen, in Zelten, Unterkünften und Lagern, wo ich ihnen zuhören und ihre Überlebensgeschichten aufschreiben kann. Zu helfen, wo immer ich kann, lässt mich weitermachen. Nur das Helfen hält mich davon ab, den Verstand zu verlieren.
Im Oktober 2023 wurde die Palästinenserin Serena Awad aus dem Norden Gazas vertrieben. Nun lebt sie im südlich gelegenen Al-Nussirat-Camp. Hier und in anderen Lagern verteilt sie Lebensmittel, Wasser und Hygienebeutel – und berichtet über die Geschichten von Palästinenser*innen, damit die Welt sie hört.
Und doch: Manchmal, wenn ich ein Lager besuche, mit einer Familie zusammensitze und sehe, unter welchen Bedingungen sie leben müssen. Wenn ich höre, wie sie Familienmitglieder verloren haben, wie sie aus dem Schutt gerettet wurden, oder ihre Kinder noch immer unter den Trümmern liegen. Wenn sie erzählen, wie Soldat*innen ihre Waffen auf sie richteten und sie unter Feuer fliehen mussten. Dann möchte ich mich am liebsten im Meer ertränken, um zu vergessen, was ich gesehen und gehört habe, – weil ich damit nicht leben kann.
Vor Kurzem traf ich im Al Khawalda-Lager eine Familie, die nur noch aus vier Kindern besteht. Ihre Eltern starben, als ihr Haus bombardiert wurde. Jedes Mal, wenn ich bei ihnen bin, muss ich mir vorstellen, wie diese winzigen Körper gegen eine riesige Bombe angekämpft und überlebt haben.
Wie werden sie weiterleben, ohne das Gefühl zu kennen, eine Mutter oder einen Vater zu haben?
Ihre Geschichte ist nur eine unter Millionen. Wir Palästinenser*innen geben alles, um über all die Geschichten zu schreiben und zu sprechen, bevor wir selbst getötet werden.
183 Journalist*innen wurden bereits getötet. Sie alle starben im Versuch, die Wahrheit über diesen Genozid öffentlich zu machen. Ihre Aufgabe wird zu unserer, zu meiner Aufgabe. Während wir bluten, fliehen und hungern, bleibt uns nur darüber zu berichten, damit die Welt uns sieht und Israel zur Verantwortung zieht. Bis heute warten wir vergebens.
Psychische Gesundheit im Krieg
Manchmal besuchen meine Mutter und ich die Lager zusammen. Meine Mutter ist Psychologin bei The Gaza Community Mental Health Programme (GCMHP), einer NGO, die psychologische Erste Hilfe anbietet. Die Mitarbeiter*innen unterstützen die Menschen in den Camps dabei, dringende psychische Bedürfnisse und frühe Anzeichen für psychische Probleme zu erkennen und vermitteln den Menschen bei Bedarf spezialisierte Unterstützungsangebote.
Nur an der Seite meiner Mutter konnte ich das alles durchzustehen. Die Art, wie sie uns zuhört und alles gibt, um uns beim Verarbeiten des Geschehens zu helfen, bedeutet mir die Welt.
Gleichzeitig wissen wir alle, dass sämtliche Bemühungen für psychische Gesundheit erst dann tatsächlich wirksam sein können, wenn der andauernde Genozid beendet ist.
Moralischer Kompass
Ein neuer Bericht einer unabhängigen Kommission der Vereinigten Nationen bestätigt mehrere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht, die Israel gegen Palästinenser*innen beging und weiter begeht.
- Die vorsätzliche Tötung von palästinensischen Zivilist*innen. Bis jetzt sind mehr als 40’000 Tote bestätigt, 12’000 davon liegen ungeborgen unter den Trümmern. [Anm. der Autorin: Eine Studie von Lancet zählt allerdings weitaus mehr Todesopfer in Gaza: nämlich 186’000 Menschen.]
- Hungersnot wird als Waffe eingesetzt.
- Mehr als 1.7 Millionen Palästinenser*innen werden zur Flucht aus ihren Häusern gezwungen und damit vertrieben.
- Sexueller Missbrauch und Verfolgung von Palästinenserinnen. Bei diesem Genozid wurden 14’000 Kinder getötet. Die Zahl übersteigt die von 12’000 weltweit getöteten Kinder zwischen 2019 und 2022.
- Direkte und öffentliche Aufstachelung zum Völkermord durch israelische Offizielle
Es gibt keinen sicheren Ort mehr in Gaza. Nie weiss ich, ob ich ihr nächstes Ziel sein werde.
Warum auch nicht? Sie haben alles angegriffen, haben Zelte mit Menschen darin verbrannt. Sie haben Wohnhäuser, Krankenhäuser, Krankenwagen, Zivilschutzfahrzeuge, Pressebüros, Moscheen, Kirchen, Schulen, Unterkünfte, Brunnen, Bäckereien, Botschaften und sogar UN-Gebäude bombardiert – die Liste ist endlos.
Palästina hat sich zu einem moralischen Kompass für die Menschheit entwickelt, und es ist wichtig, den Weg nicht aus den Augen zu verlieren. Es kann nicht oft genug betont werden: Jedes Wort und jede Tat können hier Leben retten. Man sollte nie unterschätzen, wie viel man bewirken kann, wenn man sich für Gerechtigkeit einsetzt. Alles beginnt mit einem ersten, kleinen Schritt.
Dieser Text wurde von Mara Haas aus dem Englischen übersetzt. In einem ersten Beitrag «Der Tag wird kommen» schreibt Serena Awad aus dem Al-Nussirat-Lager im Süden Gazas über ihren Alltag im Krieg – und die Hoffnung auf sein Ende.
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