Das Lamm: David Yambio, im Juli und August berichteten Medien und NGOs – darunter auch die von Ihnen mitgegründete Organisation Refugees in Libya – wiederholt über Geflüchtete, die von tunesischen Behörden in der Wüstenregion zwischen Tunesien und Libyen ausgesetzt worden waren – bei über 40 Grad und ohne Wasser. Anfang August starben so mindestens 27 Migrant*innen.
David Yambio: Zuerst einmal: Diese Menschen sind nicht einfach gestorben – sie wurden getötet. Man kann Menschen nicht einfach ihrer Umgebung entreissen, sie in der Wüste aussetzen und dann sagen, sie seien gestorben. Für mich ist das Mord und die tunesischen Behörden sollten dafür zur Verantwortung gezogen werden.
Dann möchte ich etwas zur Zahl von 27 Menschen sagen: Seit die Vertreibungen aus der tunesischen Stadt Sfax begannen und Geflüchtete in Busse gezwungen wurden, um sie in die Wüste zu fahren, haben wir von Refugees in Libya mindestens 36 Tote registriert.
Wir haben in Tunesien ein grosses Netzwerk, da viele Migrant*innen, wenn sie in Libyen kein Auskommen finden, nach Tunesien weitergehen. Entweder mit dem Ziel, dortzubleiben oder aber, um von da aus das Mittelmeer zu überqueren. Wir erhalten immer wieder Augenzeugenberichte und auch Fotos von Migrant*innen, die mit Menschen unterwegs waren, die in der Wüste starben. Von den 36 Fällen, die uns bekannt sind, konnten wir sieben Personen identifizieren.
Im Juli ging das schockierende Bild einer Frau und eines Kindes, die leblos nebeneinander im Wüstensand liegen, um die Welt. Auch Refugees in Libya postete das Foto auf Twitter.
Wir waren zuerst unsicher, ob wir das Bild teilen sollten. Als wir es schliesslich taten, wurden wir angegriffen. Leute behaupteten, es sei ein altes Foto, das in der Grenzregion zwischen Nigeria und Libyen aufgenommen wurde, wieder andere sagten, es stamme aus dem Kongo. Tunesier*innen haben in den Sozialen Medien abgestritten, dass das Foto in ihrem Land aufgenommen wurde. Deshalb machten wir es uns zur Aufgabe, alles über das Foto herauszufinden.
Als Erstes kontaktierten wir den Journalisten Ahmad Khalifa, der das Foto erstmals publiziert hatte. Er antwortete uns gleich am nächsten Tag und interviewte anschliessend einen Presseverantwortlichen der Grenzpolizei, der schilderte, wie sie die Leichen entdeckt hatten. Und er teilte weitere Fotos der zwei Personen aus anderen Blickwinkeln mit uns.
Nur wenige Tage später gelang es Ihrer Organisation, die Namen der beiden herauszufinden. Wie haben Sie das geschafft?
Nachdem wir die Echtheit des Fotos geklärt hatten, wollten wir herausfinden, wer die beiden Personen waren. Mithilfe unseres Netzwerks spürten wir Leute auf, die mit ihnen in Kontakt standen, während sie in Libyen waren. Sie hatten dort in verschiedenen Lagern gelebt. Wir erfuhren, dass sie Fati und Marie hiessen. Dann brauchten wir noch mal zwei Tage, um herauszufinden, wer der Vater der kleinen Marie war. Schliesslich fanden wir Pato. Über ihn, den Vater des Kindes, konnten wir Kontakt zu Fatis Familie herstellen.
Nachdem wir die Geschichte publizierten hatten, kamen jeden Tag weitere Details ihres Lebens hinzu. Es waren nicht einfach namenlose Körper, sondern Menschen, die versucht hatten, sich ein Leben aufzubauen.
Wir entdeckten die Geschichte einer glücklichen Familie – trotz allem. Wir erfuhren, dass sie von Libyen nach Tunesien wollten, weil ihre siebenjährige Tochter, die in Libyen zur Welt gekommen war, nie zur Schule gegangen war. Und auch keine Chance bestand, dass sie jemals hätte zur Schule gehen dürfen. Die Familienmitglieder erzählten mir, dass die Familie nach Tunesien wollte, weil es ein französischsprachiges Land ist. Die Eltern kamen aus Kamerun und der Elfenbeinküste, also aus Ländern, in denen ebenfalls französisch gesprochen wird. Sie hatten das Gefühl, es wäre einfacher für sie, Zugang zum Schulsystem zu kriegen. Aber ihr Traum starb dort in der Wüste. Es ist sehr traurig.
Einige Migrant*innen wurden in den vergangenen Wochen von libyschen Grenzbeamt*innen aus der Wüste gerettet – obwohl Aktivist*innen auch ihnen seit Jahren Menschenrechtsverletzungen vorwerfen.
Wir nehmen die Vorwürfe von libyschen Beamten gegenüber den tunesischen Behörden natürlich ernst. Aber das sollte nicht über die Verbrechen hinwegtäuschen, die die lokalen Behörden und Milizen selbst an den Geflüchteten verüben. Libyen versucht gerade, sich als „Good Guy“ zu inszenieren. Die libyschen Beamten haben den Menschen, die im Grenzgebiet festsassen, Wasser und Essen gebracht. Aber wir wissen nicht, was mit den Geflüchteten, die weggebracht wurden, passiert ist. Wir haben die Behörden gefragt, ob sie sie als irreguläre Migrant*innen betrachten. In diesem Fall kämen sie in Internierungslager, wo sie unter Umständen Zwangsarbeit leisten müssen. Unsere Anfrage wurde abgelehnt.
Das heisst, die Situation für Geflüchtete ist auch in Libyen nach wie vor prekär?
Ich glaube, die Lage wird sogar jeden Tag schlimmer. Der Zustrom von Geflüchteten in Libyen ist wirklich gross. Einer der Gründe dafür ist der Konflikt im Sudan und auch aus dem Tschad, einem der ärmsten Länder der Welt, fliehen Menschen. Viele von ihnen landen in den Internierungslagern, von denen Refugees in Libya mittlerweile 14 Stück identifizieren konnte. Nach unserer Zählung halten die libyschen Behörden über 20’000 Personen darin fest.
Der Sprecher der Internationale Organisation für Migration (IOM) hat dagegen diesen Frühling von 5’000 festgehaltenen Personen gesprochen. Das ist verrückt! Wenn doch in einem einzigen Lager wie Ain Zara alleine bereits etwa 3’000 Personen eingesperrt sind. Internationale Organisationen wie die IOM und das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) sagen, sie hätten keinen Zugang zu den Lagern. Aber wir stehen mit Menschen, die in diesen Lagern leben, im Austausch.
Refugees in Libya ist ja aus einer Protestaktion gegen das UNHCR entstanden. Täuscht der Eindruck, dass sich Ihre Kritik in jüngster Zeit stärker auf die EU bezieht?
Wir wollten stets herausfinden, wer die Akteur*innen sind, die unser Schicksal bestimmen. Zu Beginn adressierten wir unsere Kritik an das UNHCR, weil dieses in Libyen präsent und die einzige Zuflucht für uns war. Die einzige Organisation, die uns mit Papieren helfen konnte. Doch wir verstanden, dass das UNHCR nicht fähig ist, unsere Stimmen der internationalen Gemeinschaft zu überbringen. Wir verstanden, dass die Vereinigten Nationen (UN) uns unfair behandelten.
Gleichzeitig behaupteten sie, es sei nicht ihre Schuld, sondern die Migrationspolitik der Europäischen Union (EU), die zu dieser Situation führte. Also gingen wir zum EU-Hauptsitz in Brüssel, um den Menschen dort mitzuteilen, dass wir wissen, dass sie massgeblich daran beteiligt waren, dass wir so unmenschlich behandelt wurden.
David Yambio (25) ist im Südsudan geboren und aufgewachsen. Nach drei Jahren Bürgerkrieg verliess er das Land 2016 und flüchtete in den Tschad. Doch auch da waren die Verhältnisse für Geflüchtete äusserst schwierig. Zwei Jahre später zog er weiter Richtung Norden bis nach Libyen, wo er unter prekären Umständen lebte.
Nachdem er bereits aus seiner Heimat geflohen war, hätte er nie die Absicht gehabt, sein Leben ein weiteres Mal auf dem Mittelmeer zu riskieren, erzählt er gegenüber das Lamm. 2019 sah er keine andere Perspektive und wagte einen ersten Versuch, der allerdings mit einem Pushback endete. Danach wurde Yambio während sieben Monaten in einem libyschen Internierungslager für Geflüchtete in Misrata festgehalten – unter unmenschlichen Bedingungen, oft fehlte es an Nahrung und Trinkwasser.
2021 erlebte Yambio die brutale Räumung des Elendsviertels Gargaresch in Tripolis, in dem vor allem Migrant*innen lebten. Während Tausende Bewohner*innen in Internierungslagern verschwanden, entkam Yambio und zog gemeinsam mit anderen vor ein Gebäude des UNHCR, wo sie ein Sit-in organisierten. Es war die Geburtsstunde von Refugees in Libya, einer Organisation von und für Geflüchtete. Alle, die am Protest teilnahmen, gelten als Mitgründer*innen, so auch Yambio, einer der wichtigsten Sprecher*innen der NGO.
Nach 100 Tagen wurde der Protest, dem sich mehrere Tausend Personen anschlossen, gewaltsam beendet. Refugees in Libya leistet weiterhin politische und aufklärerische Arbeit. David Yambio gelang es beim fünften Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Seit 2022 lebt er in Italien.
Im Juni hielten Sie eine Rede im EU-Parlament, in der Sie Europa für Mord und Versklavung verantwortlich machten.
Ja, ich denke, das ist tatsächlich die Wahrheit. Die Migrationspolitik und die Asylprozesse werden in Europa verfasst und dann von Drittstaaten ausgeführt – so verstehen die Menschen nicht, was ihre Politik für Konsequenzen hat. Wir sind diejenigen, die das über unsere Körper spüren müssen. Und über den Verlust von geliebten Menschen.
Vielen Menschen scheint nicht klar zu sein: Wir entscheiden uns nicht einfach so dazu, zu migrieren. Es gibt immer etwas, das uns wegstösst. Ich hatte mir zum Beispiel nie vorgestellt, irgendwann mal in Europa zu sein. Ich hatte mir nie vorgestellt, mein Leben noch einmal auf dem Mittelmeer zu riskieren, nachdem ich den schrecklichen Verhältnissen in meinem Land, dem Südsudan, entflohen war!
In Libyen sagen dir die Leute: Wir tun das, was wir tun, für Geld. Wir tun das, weil Europa euch nicht will. Migration ist unser Job. Was kannst du da entgegnen? Du musst die Person finden, die für das Ganze bezahlt.
Bezahlen ist ein gutes Stichwort: Just im Juli, als die Gewalt gegen Geflüchtete in Tunesien eskalierte, haben EU-Abgeordnete einen neuen Deal mit dem Land ausgearbeitet. Laut diesem soll Tunesien 105 Millionen Euro erhalten, um Geflüchtete von Europa fernzuhalten.
Dass dies gleichzeitig geschah, ist keine Überraschung, es bildet einfach die Realität ab: Tunesien und Libyen sind gefangen in einem Wettbewerb um Ressourcen. Und das sogenannte europäische Asylsystem ist ein gescheiterter und tödlicher Mechanismus.
Wie reagierten die EU-Abgeordneten auf Ihre Rede, in der Sie sie ja mit denselben Vorwürfen konfrontierten?
Sie taten alle so, als hätten sie meine Worte nicht bewegt. Aber es waren nicht die erfundenen Worte eines Politikers: Ich erzählte ihnen von der Realität, die ich erlebt hatte. Am selben Tag fand ein runder Tisch statt, an dem wir über drei Stunden diskutierten. Und ich glaube, in ein paar Monaten werden wir erneut eingeladen. Wir wollen Teil der Diskussion sein. Wir wollen ihnen bei jedem Schritt erklären können: Das ist die Konsequenz von dem, was ihr beschlossen habt.
Nächste Woche werden Sie an den Enough-Aktionstagen in Zürich sprechen. Wer sollte kommen, um Ihnen zuzuhören?
Alle sollten kommen! Angefangen bei jungen Menschen, die unsere Zukunft sind. Dann natürlich Politiker*innen, ob rechts oder links spielt keine Rolle. Auch Leute, die uns als Feind*innen sehen, sollten uns zuhören. Nur so können sie ihre Meinung ändern. Wir wollen Leute aus der Kirche, Politiker*innen, Künstler*innen, normale Menschen – alle sollten Teil eines neuen Narrativ zu Flucht und Migration werden.
David Yambio spricht am Mittwoch, den 6. September, im Rahmen der Enough-Aktionstage zu Migrationskämpfen und antirassistischem Widerstand im Volkshaus. Mehr Informationen und das komplette Programm finden sich hier.
Noch bis am 10. September ist auf ARTE die Doku „Lager der Schande – Europas Libyen-Deal“ von Sara Creta ohne Paywall verfügbar.
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