„Flache Hier­ar­chien gibt es nicht“

Handan Kaymak begleitet Kultur­in­sti­tu­tionen, die diverser und inklu­siver werden möchten. Im Inter­view spricht sie darüber, inwie­fern ein linkes Selbst­ver­ständnis diese Prozesse beein­flusst und was notwendig ist, damit alle gut zusam­men­ar­beiten können. 
"Ich glaube, es liegt an einem Mangel an politischer Praxis." Diversity Trainerin Handan Kaymak zur Frage, weshalb wichtige Sinnfragen in Kulturinstitutionen oft untergehen. (Bild: Kira Kynd)

Das Lamm: In den letzten Jahren zeigen sich viele Kultur­be­triebe enga­giert, sich intern bezüg­lich Diver­sität und Inklu­sion weiter­zu­bilden. Woran liegt das?

Handan Kaymak: Viele Kultur­be­triebe verstehen sich selbst als gesell­schafts­kri­tisch. In ihrem Selbst­ver­ständnis inter­es­sieren sie sich also ohnehin für gesell­schafts­re­le­vante Themen. Dies gilt nicht erst seit gestern, nur weil der Begriff Diver­sität gerade als eine Mode­er­schei­nung verstanden wird. Schon immer haben Menschen in Insti­tu­tionen für Verän­de­rung und Gerech­tig­keit gekämpft.

Nun stellen einige Betriebe eine Disso­nanz zwischen dem eigenen Selbst­an­spruch und der Aussen­wir­kung fest. Also zum Beispiel, dass man gerne ein soge­nannt diverses Publikum anspre­chen möchte, was aber nicht gelingt. Das ist ein entschei­dender Moment: die Erkenntnis, dass man es eigent­lich gerne anders hätte, aber nicht dorthin kommt und deswegen Hilfe von aussen braucht.

Da kommen Sie ins Spiel. Was erhoffen sich die Betriebe und Personen, wenn sie sich an Sie wenden?

Meiner Meinung nach gibt es zwei Haupt­an­liegen, die gleich­zeitig moti­vieren. Das erste kommt aus einer Verwer­tungs­logik heraus: Es müssen mehr Tickets verkauft werden und man will ein brei­teres Publikum ansprechen.

Das zweite ist das ehrliche Inter­esse an Gerech­tig­keits­fragen. Viele Kultur­in­sti­tu­tionen streben danach, den Betrieb für alle Menschen zugäng­lich zu machen. Sie wollen einen Ort ermög­li­chen, wo Menschen durch kultu­relle Ange­bote mit gesell­schafts­re­le­vanten Themen in Kontakt treten können.

Handan Kaymak lebt im Kanton Zürich und begleitet seit über 20 Jahren Orga­ni­sa­tionen – insbe­son­dere Kultur­in­sti­tu­tionen und Kommunen –, die sich bezüg­lich Diver­sität und Inklu­sion weiter­ent­wickeln wollen. Mit den teil­neh­menden Personen entwickelt sie in diesen Öffnungs­pro­zessen neue, diver­si­täts­ge­rechte Hand­lungs- und Kommunikationskonzepte. 

Was erleben Sie, wenn Sie zum ersten Mal mit den Kultur­be­trieben arbeiten?

Inter­es­sant ist, dass sich die Anfragen und die tatsäch­liche Arbeit häufig stark unter­scheiden. In den Anfragen geht es oft darum, das Publikum zu erwei­tern. Die Hoff­nung dabei lautet: Wenn wir ein diverses Publikum erzeugen, wird unser Programm diverser und so auto­ma­tisch auch unser Personal. Das klingt dann wie eine Win-win-Situa­tion, aber über­springt die eigent­liche Reflexionsarbeit. 

Margi­na­li­sierte Personen haben gewisse Mecha­nismen verin­ner­licht und merken schnell, dass sie nur zu einer Spiel­figur gemacht werden. 

Erst müssen wir die internen Prozesse verstehen, analy­sieren und reflek­tieren, bevor wir fest­stellen können, ob wir in erster Linie über­haupt ein brei­teres Publikum anspre­chen wollen und wer das eigent­lich sein soll. 

Woran liegt diese Diffe­renz zwischen den anfäng­li­chen Wünschen und dem realen Prozess?

Oft werden Gruppen als Adres­saten gedacht, die gar keine homo­genen Gruppen sind. Manchmal sucht man gar die Ursache beim vermissten Publikum selbst, dass Personen mit bestimmten Merk­malen oder Iden­ti­täten wenig darin auftau­chen. Aber viele Menschen haben auch andere Inter­essen und gute Gründe, weshalb sie nicht in den Kultur­in­sti­tu­tionen sind. Die Frage nach diesen Gründen, nach den zugrunde liegenden internen Struk­turen und den Zugangs­vor­aus­set­zungen wird zu wenig gestellt – weil man diese viel­leicht selber gar nicht mehr wahr­nimmt, da sie bereits norma­li­siert sind.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Der Betrieb möchte „diverse“ Mitarbeiter*innen oder eine bestimmte Gruppe Menschen neu betei­ligen. Aber niemand möchte die „eine Person“ sein. Sei es aufgrund von Haut­farbe, von unter­schied­li­chen körper­li­chen oder geistigen Voraus­set­zungen, Geschlecht oder anderen Merkmalen.

Es wäre wichtig, der Frage nach­zu­gehen, inwie­fern ein solcher „Safe Space“ in einer unglei­chen Gesell­schaft über­haupt möglich ist.

Das heisst: Die Menschen, die erreicht werden wollen, werden sich die besagten Orte genau angucken. In der Regel haben margi­na­li­sierte Personen gewisse Mecha­nismen bereits verin­ner­licht und merken ziem­lich schnell, dass sie dort nur zu einer Spiel­figur gemacht werden und einen bestimmten Zweck erfüllen sollen. Dem müssen sich die Betriebe bewusst werden.

Wie beein­flusst das poli­ti­sche Selbst­ver­ständnis der Kultur­in­sti­tu­tionen, dass Sie erwähnt haben, die Öffnungsprozesse?

Ich beob­achte oft, dass Anspruch und Selbst­bild der Insti­tu­tionen nicht über­ein­stimmen. Vielen nehmen beispiels­weise an, dass man in seinem eigenen Betrieb Gleich­be­rech­ti­gung zwischen den Geschlech­tern geschaffen hätte, weil man sich als linker, alter­na­tiver, gesell­schafts­kri­ti­scher Betrieb versteht. Dabei gehen aber die konkreten Fragen nach Deutungs­ho­heit, Rede­an­teil oder Entschei­dungs­fragen oft verloren. 

Dasselbe gilt für den Anspruch, ein „Safe Space“ für Personen mit Rassis­mus­er­fah­rung zu sein. Es wäre wichtig, der Frage nach­zu­gehen, inwie­fern ein solcher „Safe Space“ in einer unglei­chen Gesell­schaft über­haupt möglich ist.

Viele Kultur­in­sti­tu­tionen wurden auch in der Schweiz als anti­fa­schi­sti­sche Reak­tion auf den Natio­nal­so­zia­lismus gegründet.

Ein weiterer Faktor ist die Geschichte der Kultur­in­sti­tu­tionen. Sie mussten sich ihre Daseins­be­rech­ti­gung eigent­lich immer erkämpfen. Nun beob­achte ich, dass gewisse Personen aus diesen Gene­ra­tionen, die wirk­lich stark gekämpft haben, heute inter­es­san­ter­weise oft auf die Bremse treten, wenn es um neue Entwick­lungen geht.

Haben Sie eine Erklä­rung dafür?

Es kann sein, dass man aufgrund des stän­digen Kampfes um Ressourcen vergessen hat, sich weiterhin mit seiner eigenen Entste­hungs- und Herkunfts­ge­schichte zu beschäf­tigen. Sodass man sich heute zu wenig fragt, wofür die eigene Insti­tu­tion über­haupt da ist, wofür man gekämpft hat und was die heutigen Ziele sind.

Viele Kultur­in­sti­tu­tionen wurden auch in der Schweiz als anti­fa­schi­sti­sche Reak­tion auf den Natio­nal­so­zia­lismus gegründet. Sie haben also eine sehr links­al­ter­na­tive Entstehungsgeschichte. 

Heute sind sie oft so profes­sio­na­li­siert und haben ihre gesamten Abläufe daran ausge­richtet, dass sie erhalten bleiben und genü­gend Geld da ist, um die Ange­stellten bezahlen zu können. Aber die Sinn­fragen werden wenig bear­beitet: Warum gibt es uns eigent­lich? Und braucht es uns heute über­haupt noch?

Weshalb gehen diese wich­tigen Fragen meist unter?

Ich glaube, es liegt an einem Mangel an poli­ti­scher Praxis. Es gibt wenig Raum und Zeit, sich alltags­po­li­ti­schen Fragen inner­halb der Insti­tu­tion zu stellen. Was heisst es denn konkret, poli­tisch für Themen wie soziale Gerech­tig­keit oder Soli­da­rität einzu­stehen? Was bedeutet das in unserer Alltags­praxis, in unserer Arbeit? 

Diese Frage zeigt sich an ganz banalen Alltags­bei­spielen, wenn jemand schlecht über Kolleg*innen spricht, wenn wir Kritik nicht dort adres­sieren, wo sie eigent­lich hinge­hört, oder auch, wie wir auf unge­rechte Situa­tionen reagieren. Wenn beispiels­weise ein Finanz­loch entsteht, die Konse­quenzen davon aber andere tragen als dieje­nigen, die dafür verant­wort­lich sind. In solchen Momenten geht es ganz konkret um poli­ti­sche Arbeitspraxis.

Wie erleben die Personen, die Sie begleiten, diese Prozesse?

Inter­es­sant sind die Momente, in denen Klar­heit darüber entsteht, wer aus welchen Gründen welche Entschei­dungen getroffen hat und wie dies mit Privi­le­gien zusammenhängt.

Die Klar­heit, die dann entsteht, ist natür­lich nicht für alle glei­cher­massen vorteil­haft. Wenn ich zum Beispiel immer in einer Entschei­dungs­po­si­tion war, werde ich die Frage nach dem „Warum?“ mögli­cher­weise als einen Kontroll­mo­ment erleben, der Verun­si­che­rung auslöst und eine Erklä­rung einfor­dert. Diese Reak­tion hat wiederum damit zu tun, dass wir Refle­xi­ons­pro­zesse in unserer Arbeit selten als etwas Posi­tives erleben.

In diesen Prozessen lernen wir auch gemeinsam, nicht länger auf unser soge­nanntes Bauch­ge­fühl zu hören, das von unbe­wussten Vorur­teilen und Annahmen geprägt ist. Wir müssen uns bewusst werden, dass unsere Entschei­dungen stets im Kontext unserer Person, unserer Geschichte und unseres Daseins stattfinden. 

Welche Rolle spielen flache Hier­ar­chien, mit denen Kultur­be­triebe oft arbeiten?

Ich bin über­haupt kein Fan von flachen Hier­ar­chien. Das sind zwar schöne Worte, aber flache Hier­ar­chien gibt es nicht. Entweder haben wir Hier­ar­chien, dann sind die Struk­turen hier­ar­chisch geordnet oder wir haben eine andere Form des Zusam­men­seins. Aber auch dann muss man den Mut haben, zu defi­nieren, wer die Entscheidungsträger*innen sind. 

Intrin­si­sche Moti­va­tion in der kapi­ta­li­sti­schen Leistungs­ge­sell­schaft ist ein Wider­spruch in sich.

Auf Diver­sität bezogen ist es dabei viel hilf­rei­cher, wenn man Gruppen mit verschie­denen Entschei­dungs­kom­pe­tenzen hat, anstatt eine bestimmte Anzahl Einzel­per­sonen, die für eine gewisse Zeit die Leitungs­funk­tion über­nehmen. Denn mit der Zeit werden die Entschei­dungen von Einzel­per­sonen immer weniger hinter­fragt. Zudem geht es nicht nur um die Frage, ob irgend­je­mand der*die Chef*in ist, sondern darum, wer wann die Verant­wor­tung trägt.

Welche weiteren Aspekte sind essen­ziell, um Diver­sität zu fördern?

Die soge­nannte Work-Life-Balance zum Beispiel. Es ist ein Krite­rium, das Zugangs­bar­rieren stark beein­flusst. Wenn erwartet wird, dass ich dauernd präsent bin, Nacht­ar­beit oder Über­stunden leisten muss, kommt ein Arbeits­platz für mich nicht infrage, wenn ich beispiels­weise meine kranke Mutter pflegen muss.

Hinzu kommt eine junge Gene­ra­tion mit einem neuen Arbeits­ethos, die versucht, eine sinn­volle Work-Life-Balance zu erkämpfen und sich auf Über­ar­bei­tung nicht mehr einlassen möchte. Dem gegen­über steht eine ältere Gene­ra­tion – oft sind es Männer –, die eine andere Vorstel­lung von Arbeit haben und häufig sehr lange in ihren Anstel­lungen bleiben. All das beein­flusst die Diver­sität in den Betrieben.

Erleben Sie in ihrer Arbeit, dass Kultur­be­triebe stark auf die intrin­si­sche Moti­va­tion der Ange­stellten setzen?

Beide Seiten setzen darauf, auch die Ange­stellten. Noch immer gelten Kultur­in­sti­tu­tionen mit renom­mierten Namen als attrak­tive Arbeits­orte, auch wenn sich dort viele über­ar­beiten. In anderen grossen Firmen ist es üblich, dass mehr Leistung auch finan­ziell entlohnt wird – in Kultur­in­sti­tu­tionen gibt es so was nicht. Dort bedeutet Work-Life-Balance, dass man zusätz­lich zur Arbeit in der Mittags­pause Yoga macht. Doch bisher können sich die Kultur­in­sti­tu­tionen trotz des Diskurses über Arbeits­zeit auf dieses Über­en­ga­ge­ment der Mitar­bei­tenden verlassen.

Dabei sehen viele Personen in Kultur­be­trieben die kapi­ta­li­sti­sche Leistungs­ge­sell­schaft kritisch. Wie passt das zusammen?

Über­haupt nicht, finde ich. Intrin­si­sche Moti­va­tion in der kapi­ta­li­sti­schen Leistungs­ge­sell­schaft ist ein Wider­spruch in sich. Die Arbeits­lei­stung jeder Person ist das Kapital, das sie mit einbringt. Die Frage ist, wie der Betrieb mit diesem Kapital umgeht und wem es nützt, wenn die Ange­stellten auch ihre Frei­zeit am Arbeitsort verbringen. 

Meiner Meinung nach brau­chen die Leute andere Hobbys. Denn viele würden sagen, dass Theater, Musik, Lite­ratur oder mit was sie sich beim Arbeiten beschäf­tigen auch ihr Hobby ist. Dabei stellt sich die Frage, was diese starke Verknüp­fung von Arbeit und Hobby macht und wer für den Schutz der Arbeitnehmer*innen verant­wort­lich ist.

Wer ist denn in einem kollek­tiven Betrieb dafür verantwortlich?

Das Kollektiv ist dafür verant­wort­lich, psycho­lo­gi­sche Sicher­heit herzu­stellen, dass Personen nicht zu viel arbeiten. Da wären wir aber wieder beim Thema Kontrolle, das wir in diesem Kontext weniger negativ besetzen müssten. Mehr Abstand zur eigenen Arbeit zu haben, ist eine Grund­lage für wich­tige Reflexionsprozesse.

Dieser Beitrag ist zuvor in der Fabrik­zei­tung erschienen.

Trans­pa­renz­hin­weis: Die Autorin des Textes war in der IG Rote Fabrik beschäf­tigt, während das Kultur­haus einen diver­si­täts­ori­en­tierten Öffnungs­pro­zess mit Handan Kaymak durchlief.

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