Dieses Interview wurde vor den Ereignissen von letzter Woche geführt.
Das Lamm: Du bist einerseits eine erfolgreiche Hochzeitsfotografin, seit einigen Jahren setzt du dich aber auch für soziale Themen ein. Im März und Juli 2020 warst du in den Lagern auf Lesbos. Was möchtest du mit deinen Fotografien aus den Camps erreichen?
Alea Horst: Wir reden immer nur über Zahlen oder über „die Flüchtlinge“. Aber dahinter stecken Menschen – eine Schwester, eine Mutter, eine Grossmutter, ein kleines Mädchen, ein Bruder, ein Arzt oder eine Lehrerin. Das ist keine anonyme Gruppe. Ich hoffe, dass die Menschen beim Betrachten meiner Bilder daran erinnert werden. Fotografien haben schon Kriege beendet. An diese Kraft der Bilder glaube ich fest.
Als Fotografin setzt du dich immer wieder mit dem Elend der Welt auseinander. Was treibt dich an?
Die Menschen, denen ich auf dem Weg begegne. Sie geben die Hoffnung nicht auf und unterstützen sich gegenseitig – sie bauen Schulen in Lagern, sie gewähren ihren Nachbarn Unterschlupf oder geben einer beeinträchtigten Person Geld, damit sie flüchten kann. Die gelebte Solidarität spornt mich an, am Ball zu bleiben.
Wie bist du dazu gekommen, in die Lager nach Griechenland zu reisen?
Seit meinem ersten Aufenthalt 2016 verfolge ich die Lage in den Camps. Ich bin auch regelmässig in Helferforen unterwegs. Im März habe ich in den Nachrichten gesehen, dass Rechtsextreme – aus Griechenland, aber auch aus Deutschland – nach Lesbos gereist und gewaltsam gegen Flüchtende und Helfer*innen vorgegangen sind. Zwei Tage später sass ich im Flieger nach Lesbos. Einen richtigen Plan hatte ich noch nicht. Ich wusste nur, dass ich Bilder machen und auf die Situation aufmerksam machen wollte.
Was hast du in den Camps gemacht?
Vor allem fotografiert. Im Juli bin ich dann nochmals nach Lesbos gereist. Dieses Mal habe ich mir noch mehr Zeit genommen, Übersetzer*innen organisiert und umfangreiche Interviews mit den Betroffenen über Fluchtursachen, Fluchterfahrungen und das Leben in den Camps geführt. Ich habe aber auch all meine privaten Kontakte mobilisiert und Geld gesammelt. Es sind fast 10’000 Euro zusammengekommen für die Menschen in Moria. Davon habe ich Lebensmittel, Hygieneartikel, Kleidung und Schulmaterial gekauft und verteilt.
Wie haben die Menschen in den Camps auf dich als Fotografin reagiert?
Im März wurde ich sehr offen empfangen. Die Menschen luden mich zu einem Tee ein und liessen sich gerne fotografieren. Im Juli, als ihnen die finanzielle Nothilfe gestrichen wurde, war die Lage etwas angespannter. Die Menschen kamen auf mich zu, packten mich am Arm und baten mich verzweifelt um Hilfe. In den Erzählungen der Menschen habe ich eine unglaubliche Wut gespürt – auch auf die vielen Journalist*innen, die in die Camps kommen, „um zu nehmen“, wie sie sagten – Bilder nehmen, Themen nehmen und dann wieder gehen, ohne dass sich die Situation verbessert.
Wie hast du das Vertrauen der Menschen gewonnen?
Mit Gesprächen. Ich habe mir Zeit genommen und den Leuten zugehört. Ich habe ihnen auch gezeigt, was mit den Fotografien passiert. Aktuell ist zum Beispiel ein Porträt von einem Mädchen, das ich gemacht habe, auf den Plakaten einer Kampagne der Organisation Sea-Watch in Berlin zu sehen. Die Kampagne setzt sich dafür ein, das Landesaufnahmeprogramm für Flüchtende zu starten. Als sie sahen, dass ich sie unterstützen will, fingen die Menschen an, mir ihre Geschichten zu erzählen.
Hast du ein Beispiel für eine Geschichte?
Meine Übersetzerin musste ihren Vater auf der Flucht sterbend im Gebirge zurücklassen. Und jetzt übersetzt sie im Camp ehrenamtlich, zum Beispiel für Ärzt*innen und Journalist*innen. Oder die junge Frau, die sich mit aller Kraft wehrte, als sie als 13-Jährige in Afghanistan zwangsverheiratet werden sollte. Daraufhin haben sie ihr Ehemann und dessen Familie verprügelt. Sie haben ihr unzählige Knochen gebrochen, noch heute ist ihr Körper von Narben übersät. Oder die 60-jährige Hebamme, die in Afghanistan für verschiedene internationale Hilfsorganisationen gearbeitet hat und deshalb fliehen musste. Ich habe auch einen afghanischen Mann kennengelernt, der mit seinen fünf Nichten seit zwölf Monaten im Camp lebt. Sein Schwager hat seine Schwester, die Mutter der Kinder, umgebracht. Er wollte seine Nichten vor ihrem Vater schützen und ihnen ein besseres Leben ermöglichen.
Welches Bild hast du von den Verhältnissen auf Lesbos gewonnen?
Das Camp in Moria ist ein Abgrund. Es liegt an einem schrägen Hang, man schaut in das Camp hinab wie in die Hölle. Es weht kein Wind. Diese Hölle versucht, die Menschen mit Haut und Haaren zu verschlingen. Man hat dort wirklich das Gefühl, in den Abgrund der Menschheit zu blicken.
Früher hast du vor allem Hochzeiten fotografiert...
2015 habe ich sogar einen Preis als eine der besten Hochzeitsfotograf*innen Deutschlands erhalten. Da habe ich aber auch angefangen, mir Gedanken zu machen, wie es mit meinem Leben weitergehen soll. Zu dieser Zeit habe ich die schrecklichen Bilder vom zerstörten Syrien und den Fluchtbewegungen gesehen. Ich bin dann als Helferin nach Lesbos gereist. Wir haben am Strand Rettungsdecken verteilt und im Camp Moria Schlafplätze organisiert. Das war im Januar 2016. Seitdem war ich in 16 Ländern und habe verschiedene Projekte realisiert, unter anderem in Syrien, Mexiko und El Salvador. Nicht immer war ich als Fotografin unterwegs. In den letzten Jahren ist mir aber klar geworden, dass ich mit der Kamera am meisten bewegen kann.
Hat Dokumentarfotografie in Lagern und in Krisengebieten nicht auch etwas Voyeuristisches?
Es kommt darauf an, welche Absicht hinter den Bildern steckt, wofür ich sie einsetzen will. Ich versuche respektvoll mit den Menschen, die ich fotografieren will, umzugehen. Ich sage, warum ich sie fotografieren und dass ich mich für sie einsetzen will.
Warum braucht es diese Bilder?
Im reichen Norden lenken wir uns ab, um das Elend und die Not in der Welt nicht sehen zu müssen. Dabei sind wir mitverantwortlich für die Situation in den Ländern, aus denen die Flüchtenden stammen. Nur schon darum finde ich es wichtig, dass die privilegierten Menschen die Not sehen, die es in der Welt gibt.
Was passiert mit dir, wenn du nach Deutschland zurückkommst und dein „normales“ Leben weiterführst?
Wenn ich zurückkomme, fällt es mir jeweils schon schwer, wieder diese „heile Welt“ zu dokumentieren, den ganzen Tag Familien zu fotografieren. Ich merke auch, dass ich irgendwie weniger gesellschaftsfähig bin als früher. Smalltalk fällt mir immer schwerer.
Was passiert mit deinen Fotografien jetzt?
Ich habe sie verschiedenen Hilfsorganisationen, aber auch der Presse angeboten. Die Bilder vom März habe ich der Caritas angeboten. Das wurde ein grosser Erfolg. Die Caritas hat mit meinen Fotos 900’000 Euro für Fluchtprojekte in Griechenland gesammelt. Auch die Organisationen Seebrücke und Sea-Watch konnte ich mit Bildern beliefern für Plakate und sonstiges Kommunikationsmaterial. Ich würde auch gerne vermehrt Ausstellungen machen – in Brüssel oder in Berlin zum Beispiel, wo die politischen Entscheide gefällt werden, die die Menschen in den Lagern betreffen.
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