Immer, wenn ich Rojava hörte, bevor ich selbst die Möglichkeit hatte, hinzufahren, dachte ich an die Bilder, die 2014 weltweit durch die Medien gingen: Frauen, lachend, mit geflochtenem Haar und Kalaschnikows in den Armen. Auf den Ladeflächen weisser Pick-ups sitzend oder mitten in dem stehend, was von der zerbombten Stadt Kobanê noch übriggeblieben war.
Sie besiegten den sogenannten Islamischen Staat (IS) und wurden dafür in der internationalen Presse gefeiert. Dann war Funkstille. Ein paar Jahre später wurde gemeldet, dass Erdoğan in die kurdischen Autonomiegebiete in Nord- und Ostsyrien einmarschierte. Seither gab es zwei türkische Bodenoffensiven in der Region. Aktuell wird Nord- und Ostsyrien von der Türkei aus der Luft angegriffen: Elektrizitätswerke werden zerstört, Fabriken zerbombt. Das Leben vor Ort gestaltet sich dadurch immer schwieriger.
Rojava gilt einigen als Sehnsuchtsort, andere wissen gar nicht, was Rojava ist oder wo es liegt. Deshalb möchte ich anlässlich der aktuellen Angriffe von einer Recherchereise erzählen, die ich 2022 unternahm. Eine Reise zur sogenannten Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien, der Region, wo erst gegen den IS gekämpft und dann eine kurdisch geprägte Selbstverwaltung aufgebaut wurde.
Eine Revolution mitten im Krieg
2012 wurde in Kobanê die Revolution ausgerufen. Ein wichtiger Aspekt war dabei die Befreiung der Frauen. Nachdem ich mich mit feministischen Bewegungen in Europa und Lateinamerika beschäftigt hatte, wollte ich die kurdische Frauenrevolution in Nordsyrien kennenlernen – und vor allem ihre Protagonistinnen, die kurz im Rampenlicht der weltweiten Berichterstattung standen und dann schnell vergessen wurden.
Von Berlin nach Frankfurt nach Erbil im Nordirak und dann mit dem Auto weiter in Richtung syrischer Grenze: Eine lange Reise. Ich bin aufgeregt. Was erwartet mich dort? Wer sind diese Frauen, die so viel Leid ertragen mussten und trotzdem oder vielleicht auch deshalb mit viel Mut und Stärke, mit Worten und Waffen gegen die Unterdrückung der Dschihadisten, aber auch gegen die Unterdrückung der Väter, Brüder und patriarchalen Strukturen in ihrem Umfeld kämpfen?
Die Region in Nordsyrien wird seit 2018 autonom verwaltet. Das Miteinander regelt ein Gesellschaftsvertrag. Darin verankert ist die Befreiung der Frau und die Gleichberechtigung der ansässigen Ethnien. Die Gesellschaft ist in lokalen Räten organisiert, die immer eine Frau und einen Mann als Co-Vorsitzende haben. Neben diesen geschlechtergemischten Räten gibt es auch die autonomen Frauenstrukturen, die ein Vetorecht gegenüber den gemischten Strukturen haben. Andersrum gilt das nicht. So soll aktiv der Unterdrückung der Frau entgegengewirkt werden.
Der Aufbau dieser neuen Gesellschaftsform hat seine Schwierigkeiten: Weder das Assad-Regime im restlichen Syrien noch die Türkei sind von diesem Projekt begeistert. Vor allem der türkische Staatschef Erdoğan greift die kurdisch dominierte Region immer wieder an.
In die Bezirke Afrin, Serêkaniyê und Girê Spî ist die Türkei 2018 und 2019 einmarschiert und hält sie seither besetzt. Dort – so heisst es in der lokalen Presse – erstarken dschihadistische Gruppierungen. Frauen würden verschleppt, getötet und trauten sich deshalb fast nicht mehr aus dem Haus. Regelmässige Drohnenanschläge der Türkei belasten zusätzlich die Gebiete Nord- und Ostsyriens, immer wieder wird zivile Infrastruktur bombardiert. Auch Krankenhäuser oder wichtige Herstellungsstätten, wie die für medizinischen Sauerstoff. Es herrscht dauerhaft Krieg niederer Intensität.
Gleichzeitig entstehen fortlaufend Projekte, Strukturen oder neue Arbeitsplätze für mehr Geschlechtergerechtigkeit. Wie leben die Frauen zwischen Krieg und Revolution?
Die Frauen der Selbstverwaltung
Am Anfang meiner Reise besuche ich Jin-TV, ein Fernsehsender in der Stadt Amûdê, der unter anderem auch in der Türkei und den Niederlanden präsent ist. Hier arbeiten nur Frauen – vor und hinter der Kamera. Allein in Nord- und Ostsyrien sind es über 70 Mitarbeiterinnen.
“Frauen stehen mit ihrem Facettenreichtum in der Ecke, wie eingestaubt. Wir versuchen, diesen Staub abzuklopfen”, sagt mir die Redakteurin und Moderatorin Dicle Îto. „Frauen sind vielseitig, Frauen bedeuten Leben, die Farben des Lebens. Und wir versuchen, diese ganzen Farben wieder lebendig werden zu lassen.”
Die Studios des Senders sind bunt: Lila, orange und türkis dominieren. Dicle Îto hat früher in Redaktionen mit männlichen und weiblichen Kolleg*innen gearbeitet. Doch da hätte der männliche Blick dominiert, Frauen seien oft nur als “Schönheitsfiguren” vor die Kamera gestellt worden. In redaktionellen Entscheidungen hätten sich hingegen die Männer durchgesetzt.
Das kenne ich aus meiner eigenen Berufserfahrung. Schnell werden einem als junge Frau Kompetenzen abgesprochen. Die Frauen bei Jin-TV bestärken sich gegenseitig und passen abwechselnd auf die Kinder auf. Für mich als Aussenstehende scheint der Zusammenhalt unter den Kolleginnen gross. Für Îto ist es besonders wichtig, dass sich auch Frauen in die Medienbranche trauen, die bisher vor allem im eigenen Zuhause gearbeitet haben.
“Wir haben die Befreiung der Frau von Europa hierher gebracht und jetzt werden wir die Frauenrevolution von hier weiter an andere Orte der Welt und zurück nach Europa tragen”, sagt sie voller Überzeugung.
Nicht nur in der Medienbranche haben sich die Frauen in Nord- und Ostsyrien Arbeitsplätze ohne Männer geschaffen. Ich besuche in der Stadt Heseke eine Arbeitskooperative. Cewher Mohamed führt mich durch die Produktionsstätte von “Lavin”. Etwa acht Frauen sitzen an Nähmaschinen, schneiden Stoffe zurecht und entwerfen Schnitte für Festkleider.
“Die Frauen haben ihren eigenen Willen entwickelt”, sagt Mohamed. Sie selbst durfte keinen Beruf lernen, war vor der Frauenrevolution zu Hause und hat sich um die Familie gekümmert. Heute ist sie Leiterin der Frauenkooperativen im ganzen Bezirk Heseke.
Diese Kooperativen bekommen ein Startkapital vom Frauendachverband Nord- und Ostsyriens, danach tragen sie sich selbst. Gemeinsam treffen die Frauen die Entscheidungen, in was investiert wird, wie viel Weiterbildungen sie sich wünschen und wie die Arbeit strukturiert ist.
“Das verändert die Gesellschaft: Wir Frauen sind auf dem Strassenbild präsent und können uns eine finanzielle Unabhängigkeit erarbeiten”, sagt Cewher Mohamed. Und das bedeute in ihrem Fall auch, dass sich ihre Ehe verändert habe. Sie lächelt mich an: “Früher war mein Mann arbeiten, heute verlasse ich morgens das Haus. Früher habe ich ihm einen Abschiedskuss gegeben, heute gibt er mir einen.”
Jinwar: Das Dorf der Frauen
Der gesellschaftliche Wandel lässt auch zu, sich als Frau aus einer Ehe zu befreien. In einem Jeep fahre ich über holprige Wüstenstrassen, vorbei an Schafherden und kleinen Lehmhütten. Hinter einem Hügel liegt ein auffällig grünes, im Dreieck angeordnetes Dorf: Jinwar, das Frauendorf. Hier leben Frauen, teilweise mit, teilweise ohne Kinder, kollektiv als Gemeinschaft zusammen. Sie betreiben einen Dorfladen, eine kleine Bäckerei und Landwirtschaft. Die Aufgaben rotieren, damit jede die Chance hat, alles zu lernen.
Ich treffe Zeyneb, sie lebt am längsten hier. Sie bittet mich in ihr Häuschen. “Ich war mir am Anfang nicht sicher, ob dieser Ort für meinen kleinen Sohn Chia und mich der richtige ist”, sagt sie. Zeyneb ist in den kurdischen Gebieten der Türkei aufgewachsen. Als Mädchen, kaum 16 Jahre alt, wurde sie verheiratet. Der Mann war viel älter und hatte bereits drei Ehefrauen. Er sperrte sie ein, schlug sie, erniedrigte sie. “Ich wollte ins Wasser springen, um mein Leben zu beenden.” Zeynebs Blick schweift durch das kleine Zimmer, dann schaut sie mich wieder an. “Doch ich habe ein Kind erwartet und war deshalb entschlossen, zu fliehen.”
Sie lebte in Nordsyrien zunächst in einem Geflüchtetencamp, bis ihr Aktivistinnen der Frauenrevolution von Jinwar erzählten. “Heute weiss ich, dass das Leben etwas sehr Schönes ist. Etwas, das man selbst gestalten kann”, sagt Zeyneb und lächelt zaghaft.
Warum die Frauen in Jinwar leben, hat unterschiedliche Gründe: Einige sind vor Krieg geflohen, andere wie Zeyneb vor gewalttätigen Männern und manche Frauen entscheiden sich aus politischer Überzeugung dafür, in dieser Form der autonomen Frauenstruktur zu leben.
Doch seit 2019 stünden viele der Häuser in Jinwar leer: Die Front der türkischen Invasion auf Girê Spî und Serê Kaniyê verlief nicht weit vom Frauendorf entfernt. Man habe regelmässig die Bomben einschlagen gehört und niemand habe gewusst, wie weit die Invasion vordringen würde. Deshalb haben einige Frauen, vor allem mit Kindern, das Dorf verlassen und sich ein neues Zuhause gesucht, das weiter von der türkischen Grenze entfernt liegt.
Frauen kämpfen für die Freiheit
Der Krieg von Girê Spî war auch für Silava Avesta ein einschneidendes Erlebnis. Das war der erste Krieg, in dem die Mitte Zwanzigjährige als Teil der Frauenmiliz YPJ gekämpft hat. Ich darf sie in ihrer kleinen Einheit irgendwo in der Wüste besuchen. Wo genau ist streng geheim.
Regelmässig kommt es in Nordsyrien zu türkischen Drohnenanschlägen, besonders auf bewaffnete Einheiten. Die YPJ-Kämpferinnen empfangen mich herzlich: Ich solle mich erst einmal ausruhen. Silava Avesta stellt sich in die Küche und backt eine kurdische Keksspezialität für mich. Ich darf bei einem Training Aufnahmen für einen Radiobeitrag machen, dann setzen wir uns in den Schatten.
“Im Krieg habe ich sehr wichtige Erfahrungen gesammelt: Ich habe den Feind kennengelernt, ich habe mich kennengelernt, ich habe die Willenskraft der Frau kennengelernt”, erzählt die Kämpferin. Sie habe schon viele Menschen im Krieg verloren. Eine Freundin sei an der Front in ihren Armen gestorben. Sie schaut in die weite Wüstenlandschaft, dann wieder direkt in meine Augen.
Mit nur Mitte zwanzig hat sie bereits unter dem Assad-Regime und später unter den Dschihadisten gelitten. Sie ist bereit, die Errungenschaften und Freiheiten, die sie seit der Frauenrevolution hat, mit ihrem Leben zu verteidigen. “Wenn man auf dem Boden Kurdistans lebt, gibt es keine Möglichkeit, an sich zu denken. Man denkt an die Gesellschaft, an das Volk, das hier lebt und an das Gebiet, das immer wieder bedroht wird”, fügt Silava Avesta hinzu.
Letzten Sommer hat der türkische Staatschef Erdoğan eine erneute Invasion angekündigt. Die junge Kämpferin wirkt trotzdem ruhig und entschlossen. “Wenn sie angreifen wollen, dann sollen sie es tun. Wir sind an der Front bereit, wir sind in unseren Gedanken bereit und wir haben unsere militärischen Fähigkeiten ausgebaut. Wir sind für jeden Angriff bereit.“
Während der gesamten Reise surren immer wieder Drohnen wie laute Hornissen über meinem Kopf. Laut lokalen Sicherheitskräften handelt es sich dabei um türkische Drohnen. Wann und wo es zu Drohnenanschlägen kommt, könne niemand voraussagen. Der schöne Sternenhimmel mitten in der Wüste wird somit zu einer ständigen Gefahr.
Ich bin erstaunt, mit wie viel Energie die Frauen ein neues Gesellschaftskonzept verwirklichen, obwohl sie in permanenter Unsicherheit leben. Wie viel Kraft sie aus den autonomen Frauenstrukturen ziehen. Obwohl sie nicht wissen, ob das, was sie aufbauen, in einem Jahr noch da sein wird. Oder wie es überhaupt mit der Zukunft ihrer Region weitergeht. Die türkischen Angriffe folgen in immer kürzeren Abschnitten und zerstören zunehmend die Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung.
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