Plötzlich bellt es laut aus einem dichten Wald. Das Gebrüll hallt in alle Richtungen, scheucht Vögel und Enten auf, macht einen riesen Krach. Es ist eine Warnung an die anderen Tiere des Walds. „Eine Rehgeiss, vermutlich mit einem Kitz”, flüstert Dinah Muggler, während sie ihren Hund Anouk am Hochsitz der örtlichen Jagdgesellschaft anbindet. „Wir wurden entdeckt.“
Anouk ist ein Schweisshund, eine speziell auf die Suche von verletzten Tieren gezüchtete und ausgebildete Hunderasse. Schweiss bedeutet in der Jäger*innensprache Blut. Das klingt gefährlich. Doch wie die 11-jährige Hündin herumtapst, ist nicht gerade furchteinflössend.
Gespaltene Gesellschaft
Eigentlich alle Themen, über die am nächsten Sonntag abgestimmt wird, von der Aufteilung der Kinderbetreuung und das Verhältnis der Schweiz zu ihren Grenzen und zur EU, bis zu Sinn und Unsinn von Kampfjets in der Landesverteidigung, polarisieren. Und doch dreht sich ein grosser Teil der politischen Diskussion um 80 Wölfe und ein Gesetz, das den glanzlosen Titel „Bundesgesetz über die Jagd und den Schutz wildlebender Säugetiere und Vögel” trägt.
Es legt die Rahmenbedingungen für die Jagd fest und regelt gleichzeitig, welche Wildtierarten gejagt oder reguliert werden dürfen. Und nach gut 35 Jahren soll es endlich revidiert werden. Laut Befürworter*innen baut die Revision den Artenschutz aus – insbesondere durch die Erhaltung von Wildtierkorridoren.
Neu soll zudem der Wolf präventiv geschossen werden dürfen, also noch bevor er nachweislich Schaden angerichtet hat. Bisher durfte ein Wolf erst dann erlegt werden, wenn er bereits Schaden angerichtet hatte. Ausserdem wird die Kompetenz neu geregelt: In Zukunft sollen Kantone selber einzelne Wölfe abschiessen dürfen, um sie zu regulieren. Bisher war das nur bei Steinböcken erlaubt.
Die bürgerlichen Parteien unterstützen die Vorlage; Linke, GLP und Naturschutzverbände vertreten die Nein-Parole.
Auch die Jäger*innenschaft ist gespalten: Während der Dachverband Jagd Schweiz die Ja-Parole vertritt, hat sich auf der Gegenseite auch ein Komitee mit Jäger*innen formiert, das sich dagegen ausspricht.
Dazu gehört auch Dinah Muggler. „Ich bin es mir gewohnt, quer in der Landschaft zu stehen, schon alleine als Frau”, sagt sie, während die Sonne hinter dem Irchel untergeht und das Zürcher Weinland in goldgelbes Licht tunkt. Im Innenraum des Hochsitzes hat die Jägerin die Fensterklappen auf allen drei Seiten leicht geöffnet. Von hier aus kann sie die ganze Wiese überblicken.
Das Gewehr ist an die Wand gelehnt. Muggler sucht mit dem Feldstecher die Naturwiese ab. Um diese Zeit wagt sich das Rehwild normalerweise aus dem Wald. Doch jetzt gerade bewegt sich nichts. „Ich glaube, wir sind entdeckt worden”, sagt die Jägerin.
Nur gerade vier Prozent aller Jäger*innen sind Frauen. Auch das Ja-Komitee ist sich diesem Missverhältnis bewusst: Unter der Leitung von Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach (FDP) hat sich ein Frauenkomitee für das Jagdgesetz formiert. Auf Nachfrage, welche spezifischen Interessen von Frauen das neue Jagdgesetz betreffen, verweist das Komitee lediglich auf eine Medienmitteilung, welche die Frage nicht beantwortet.
Zurück zu Dinah Muggler. Als Waldkindergarten-Lehrerin entspreche sie wohl nicht dem stereotypischen Bild einer Jägerin. „Wenn mir jemand mit 20 gesagt hätte, dass ich einmal jagen würde, hätte ich abgewunken. Damals war ich aktiv bei Greenpeace und war Vegetarierin.” Den Mitgliederbeitrag für Greenpeace zahlt sie noch heute, aber sie isst wieder Fleisch. Das Fleisch, das sie selber erlegt.
Nachdem Muggler vom Hochsitz aus kein Wild entdeckt hat, begeben wir uns zurück nach draussen. Auf einem niedergetrampelten Maisfeld halten wir inne. Anouk sucht auf dem Boden eine Fährte, Dinah Muggler untersucht angefressene Maiskolben: „Der Dachs frisst oft rund um den Maiskolben herum, das Wildschwein hingegen beisst einfach oben ab.“ Hier hat der Dachs gewütet, und wenn er das weiter tut, wird er bald geschossen werden.
Eine Frage von Stadt und Land?
Auf Dinah Mugglers tägliche Jagd hätte die Revision des Jagdgesetzes kaum Einfluss. Trotzdem stimmt Muggler am Sonntag Nein. „Zum einen hat es das Parlament verpasst, den längst überfälligen Schutz mancher Tierarten in die Revision miteinzubauen.” Sie meint damit etwa den Feldhasen oder das Schneehuhn, das durch die Klimaerwärmung immer stärker vom Aussterben bedroht ist.
Zum anderen geht es Muggler aber auch um eine Grundsatzfrage. „Wie ist das Verhältnis des Menschen zu den Predatoren, also den natürlichen Jägern?” Wie der Wolf würden auch die Jäger*innen zum natürlichen System gehören, sagt die Jägerin. „Da können wir uns jetzt nicht gegen den Wolf stellen, nur weil er uns konkurrenziert.”
Auch Armin Andermatten geht es um eine Grundsatzfrage, doch er steht auf der anderen Seite der Debatte. „Ich glaube, dass es einen Platz für den Wolf in der Schweiz gibt, aber nicht hier”, sagt er. Hier, damit ist das Oberwallis gemeint, eine der am stärksten von Wolfsattacken geplagten Regionen der Schweiz.
Andermatten weiss, wovon er spricht. Als er im Sommer 2010 auf der Alpage du Scex, oberhalb von Crans-Montana, auf rund 450 Tiere aufpasst, reisst ihm ein Wolf innerhalb von drei Tagen 15 Schafe. Und dann, zum ersten Mal, seit der Wolf zurück in der Schweiz ist, auch Grossvieh: zwei Rinder werden gerissen, eines wird schwer verletzt.
Es sind grausame Bilder, die die Tagesschau damals in die Wohnzimmer sendet. Der Älpler Andermatten, samt Stock und Hut, neben einem völlig ausgeweideten Rind. Die Bilder schockieren schweizweit, der Kanton Wallis gibt den Wolf in der Folge zum Abschuss frei.
Die Episode sagt viel über den Zustand der Wolfsdebatte in der Schweiz aus. Der Kanton Wallis gibt damals den Abschuss frei, noch bevor eine DNA-Analyse festgestellt hat, ob wirklich ein Wolf für den Tod der Rinder verantwortlich war. Was für die einen entschiedenes Handeln ist, ist für die anderen übereifriger Aktionismus.
Aber auch hinter den verstörenden Fernsehbildern verbirgt sich eine Geschichte: Die Videojournalistin des SRF habe die Bilder zuerst nämlich gar nicht zeigen wollen, erinnert sich Andermatten am Telefon. Erst als er darauf bestanden habe, habe sie die Kamera auf das verelendete Rind gehalten. „Wenn sie schon über den Wolf berichten wollen, dann sollen die Leute auch sehen, was der Wolf hier anrichtet.”
Andermatten nimmt dabei ein beliebtes Motiv in der Wolfsdebatte auf: Hier die Städter*innen, die den Wolf romantisieren, da die Bergbewohner*innen, die täglich ihre Tiere vor ihm schützen müssen. Und tatsächlich: Wer die Namensliste des Jäger*innen-Komitees gegen das Jagdgesetz durchliest, findet überraschend viele Personen aus dem eher wolfsarmen Unterland; Bündner*innen und Walisser*innen sind hingegen dünn gesäht.
Dinah Muggler, aus Winterthur, erkennt das Problem. Sie sagt aber auch: „Hier geht es um eine nationale Frage, und da dürfen alle eine Meinung dazu haben.” Schliesslich halte sich der Wolf auch nicht an Kantonsgrenzen, wie ein durch das Zürcher Weinland streunender Wolf 2017 gezeigt habe.
„Diesen Antagonismus zwischen Stadt und Land in der Wolfsdebatte gibt es seit dem Beginn der Rückkehr der Wölfe in die Schweiz ab den 90er-Jahren”, erklärt Elisa Frank von der Universität Zürich im Gespräch über Zoom. Zusammen mit dem Kulturanthropologen Nikolaus Heinzer erforscht sie die Wolfsdebatte in der Schweiz. Zum einen, weil der Wolf sich von Frankreich und Italien her zuerst in den alpinen Gebieten der Schweiz niederliess, wie Frank erklärt.
„Vor allem aber werden in der Diskussion um den Wolf auch andere Konflikte verhandelt”, erklärt Heinzer. „Hier geht es auch um ein Gefühl des Abgehängt-Seins der Peripherie, und es wird die Entscheidungsmacht verhandelt: Wer darf über das Leben in den Berggebieten entscheiden?”
Der Wolf eigne sich sowieso, um soziale Probleme auf den Punkt zu bringen. Deswegen drehe sich wohl auch ein grosser Teil der Diskussion rund ums Jagdgesetz um den Wolf, und nicht etwa um die Brandgans oder die Schnepfe.
Eine Frage des Vertrauens
Für welches Problem steht also der Wolf stellvertretend in der Debatte um das Jagdgesetz? Natürlich für den Unterschied zwischen Stadt und Land, klar, aber das alleine reicht nicht: Laut neusten Umfragen könnte die Zustimmung für das neue Jagdgesetz in der Agglomeration grösser sein als auf dem Land.
Wer Dinah Muggler und Armin Andermatten zuhört, merkt, dass anhand des Wolfes vor allem das Wesen der Schweizer Demokratie verhandelt wird.
Da wäre etwa der Föderalismus, und das fehlende Vertrauen in die Kantonsregierung, welches Dinah Muggler ins Feld führt. Die Kantonsregierungen seien zu nahe an den Lobbys und würden zu vorschnell dem Abschuss von Wölfen zustimmen. Ein Vorwurf, wohl nicht ganz aus der Luft gegriffen, aber trotzdem schwerwiegend.
Da wäre das Misstrauen der Naturschutzorganisationen gegenüber dem Bundesrat. Tiere wie der Biber und der Luchs sind nicht auf der Liste der regulierbaren Arten. Weil die Landesregierung neu aber Tiere eigenständig für erleichterte Abschüsse freigeben könne, wirbt das Nein-Komitee mit dem Luchs im Fadenkreuz. Dies, obwohl in der Verordnung zur Revision der Luchs und der Biber ausdrücklich ausgelassen sind. Vertrauen in die Institutionen sieht anders aus.
Und da wäre der innerschweizerische Zusammenhalt und die fehlende Solidarität mit den Berggebieten, einem Kulturraum, der vom Zentrum allzu gern ausgebeutet würde für den Tourismus, aber oft auf wenig Verständnis stösst, wenn es um die Berglandwirtschaft oder den Wolf gehe, stellt Andenmatten fest.
Eindrücklich zeigt sich das beim Thema Herdenschutz. Wenn Dinah Muggler von Wolfsattacken spricht, fordert sie mehr Herdenschutz. Der walliser Schafhirt hat dazu nur einen lapidaren Kommentar übrig: „Wenn das so einfach sein soll, dann kann mir ja sicher jemand aus Zürich einen Schutzzaun auf 2’500 Meter Höhe bauen.”
Langsam wird es dunkel im Zürcher Weinland. Vom Friedhof aus bietet sich ein letzter Blick auf den Goldenberg mit seinen Weinreben, auf die zig Maisfelder und auf einen jungen Mischwald. Dann versinkt alles in der Nacht. Dinah Muggler schaut ein letztes Mal mit ihrem Nachtsichtgerät in Richtung ihres Jagdreviers. Nichts bewegt sich.
Anouk liegt ruhig im Auto, neben ihr das Jagdgewehr. Bald geht die Hündin in Pension und wird durch einen jungen Schweisshund ersetzt, den Dina Mugglers Mann gerade ausbildet.
Der Wolf polarisiere auch, weil er so nahe mit dem Hund, dem besten Freund des Menschen, verwandt sei, sagen die Kulturanthropolog*innen Frank und Heinzer.
Älpler Andermatten musste seinen Herdenschutzhund 2017 erschiessen. Der Hund, der eigentlich die Schafe vor dem Wolf schützen sollte, hatte einen Touristen angegriffen.
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