Es gibt diese Bücher, die scheinbar von allem möglichen erzählen – vom Leben, vom Lieben und von den allerletzten Dingen – und die beim näheren Hinsehen doch immer nur auf eine einzige Frage zurückführen: Was ist Literatur?
Meral Zieglers kleiner Band CON TEXT gehört zweifellos in diese Reihe. Aber im Unterschied zu vielen anderen stellt er die Frage so gekonnt lässig, dass sie rhetorisch wird – also die Antwort gleich mitliefert: Was ist schon Literatur? Irgendwie alles, zumindest alles, was zwischen zwei Buchdeckel passt.
Was hier vielleicht ein bisschen lapidar klingt, ist tatsächlich die grosse Stärke von CON TEXT. Das Buch versammelt Texte aus zehn Jahren, die meisten davon für die Bühne geschrieben, für Poetryslams oder andere Leseevents. Der genaue Kontext – Achtung Wortspiel – bleibt verborgen, aber man kennt die Autorin aus der Szene; und ihre Texte sind Musik. Sie drängen zur gesprochenen Sprache, zum Lesen, zum Flüstern, zum Schreien. Fast, als würden sie sich nur widerwillig zwischen ihre Buchdeckel pressen lassen. Eher wollen sie raus, im Lesen und Rezitieren aufeinander reagieren, sich ergänzen, mit Bedeutungen aufladen.
Eine einheitliche Textgattung hat CON TEXT nicht. Es gibt Monologe, die mit grosser rhetorischer Geste ins Nichts ausufern.
Daneben stehen auf ihre Essenz reduzierte Dialoge – auf die absolute Essenz, wenn es heisst:
„Du: Da bin ich. / Ich: Ich grüsse dich.“
Keine durchgehende Erzählung, dafür Rhythmus und Poesie
Es gibt kurze, verdichtete Erzählungen voll brodelnder Energie und lässig daherkommende Ich-Texte, die einem Teenager-Tagebuch entstammen könnten – Seiten, die man Jahre später, beim Auszug von Zuhause, in einer Kiste findet und mitnimmt, einfach, weil es zu schwer fällt, sie wegzuwerfen. Dort fallen Sätze wie:
„Ich gehe in die Hocke und puste auf das kleine Stück Pappe, sodass Staubmäuse in alle Richtungen fliegen und dicke, lange, schwarze Haare aufwirbeln. Diese Haare, die sich in gewaltigen Mengen im Erdgeschoss verteilen, sodass ich manchmal kaum glauben kann, wie dicht und üppig es dennoch auf meinem Kopf wuchert.“
Meral Ziegler, 1993 in Berlin geborgen, wuchs zwischen Amrumer Dünen, Tempelstädten und Korallenriffen im indischen Ozean auf. Ausserdem am Hamburger Stadtrand. Ihren ersten Poetryslam-Sieg heimste sie bei ihrem Premieren-Auftritt 2009 auf einem Hausboot auf dem Isebekkanal ein. Es folgten mehrere Landesmeisterschaftstitel, ein Jugendbuch und der Literaturpreis „Junge Kunst“ der Stadt Konstanz. Meral Ziegler schloss ihren Bachelor der Literatur‑, Kunst- und Medienwissenschaften in Konstanz und Wien ab und ist nun Masterstudentin der Kunstvermittlung und des Kulturmanagements in Düsseldorf.
Eine durchgehende Erzählung ist beim ersten Lesen nicht erkennbar. Vielmehr ist das Buch rhythmisch gegliedert und erinnert auch damit an seinen Ursprung im Poetryslam. Trotzdem lassen sich Themen ausmachen, um die alle Texte kreisen: Familie, das Aufwachsen in Deutschland mit türkischen Wurzeln, die Selbstbehauptung einer Frau im Literaturbetrieb. Und auch die Perspektive ist klar: Hier schreibt die Autorin Meral Ziegler über ihre Sicht auf die Dinge, wodurch viele Texte einen essayhaften Charakter bekommen.
Mehr als eine schöne Leseerfahrung
Das alles ist zweifellos schön zu lesen, es hat Rhythmus und entwickelt einen ganz eigenen Sound, irgendwo zwischen Rap und Free Jazz, der noch lange, nachdem man CON TEXT wieder zur Seite gelegt hat, nachhallt. Aber man würde dem Buch nicht gerecht, wenn man es auf eines dieser Spiele reduziert, die zweifellos darin angelegt sind: Spiele mit Worten, mit Gattungen, mit Leser:innenerwartungen.
Denn bei näherem Hinsehen, beim zweiten oder dritten Lesen, fügen sich all diese kleinen Texte und Textfetzen in CON TEXT wie Puzzleteile zu einem Ganzen und erzählen doch noch eine Geschichte. Die Geschichte der Autorin auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt.
Man könnte also sagen CON TEXT ist ein Entwicklungsroman. Allerdings nicht der vom romantischen Genie im stillen Kämmerchen erdachte und sauber zur grossen Erzählung gefügte – mit der patriarchalen Behauptung, selbst die ganze Geschichte zu sein. CON TEXT ist ein Entwicklungsroman für fragilere Identitäten, die es nicht nötig haben, alles zu bestimmen, zu beherrschen, zu lenken – die am eigenen Leib erfahren haben, was es heisst, bestimmt und beherrscht zu werden, und sich der einfachen Reproduktion dieser Geste enthalten wollen.
Lesbarkeit als Problem
„Vielleicht hast du Talent, das gebe ich zu“, zitiert ein Text einen ehemaligen Deutschlehrer, „aber den Migrationshintergrund, den kann man einfach herauslesen, wenn du schreibst.“
Womit der Lehrer nur ausspricht, was die sogenannte Mehrheitsgesellschaft mit den nicht vollständig Anerkannten macht: Aus ihren Texten wird das Immergleiche herausgelesen. Egal, was sie schreiben, es bleibt der Migrationshintergrund als unerbittlich zugeschriebene Identität.
Wollen diese Menschen sich wehren, müssen sie das ständige Gelesenwerden gerade verhindern, müssen sie die Leser:in ins Stolpern bringen und sie zwingen, vom voreingenommen Lesen ins Denken zu kommen. Ein Ansatz, den CON TEXT mit seinen Genrebrüchen und oft nicht einfach verständlichen Kurztexten sehr genau ausarbeitet.
Dadurch wird das Buch zu einer Art Anti-Lesebuch, das in seiner Holprigkeit den Begriff der Identität immer und immer wieder seziert, statt die Leser:in in Ruhe hineinlesen zu lassen, was ihren Vorurteilen entspricht: Leser:innenabwehr als Mittel zum politischen Kampf um Identität.
Universalismus vs. Identität
Die bürgerliche Kritik an solcher Identitätspolitik ist bekannt: Süffisant wird darauf verwiesen, dass die Progressiven sich doch eigentlich der Gleichheit aller Menschen verschrieben haben, der Auflösung von kategorialen Zuschreibungen. Man hört fast das Lachen der alten Herren von NZZ bis FAZ, wenn sich wieder eine Frau mit Migrationshintergrund gezwungen sieht, mit ihrer Identität auseinanderzusetzen: „Haha, wo ist er denn hin, der linke Universalismus?“
Ganz einfach: Er muss den Weg über die Identität gehen, weil Identitäten in einer Welt des ständigen Gelesenwerdens nun mal das vorherrschende politische Material sind. Mit ihnen wird Politik gemacht – und sie muss man nutzen, auch und gerade dann, wenn das Ziel die Infragestellung aller Identitäten ist.
Mit dem QR-Code gegen das Gelesenwerden
Dass Meral Ziegler dieses Ziel verfolgt, zeigt sich, wenn sie das Stolperprinzip als Leser:innenabwehr auf die Spitze treibt; dann, wenn nicht nur die Erzählung stockt, sondern das zu lesende Zeichen selbst unlesbar wird.
In CON TEXT passiert das so lässig und nebenbei, dass man es fast überlesen könnte. Auf manchen Seiten findet sich neben den Worten nämlich noch ein anderes Zeichen: ein einfacher QR-Code – jenes Zeichen also, das niemand von uns ohne Hilfsmittel lesen kann.
Der QR-Code steht meist am Ende eines Textes auf der leeren Seite, beschriftet mit dem Satz: „Diesen Text anschauen (Liveversion)“.
Wer nun den QR-Code-Leser am Smartphone als Krücke bemüht und das unlesbare Zeichen „liest“, wird mit der authentischen Stimme der Autorin belohnt. Ein YouTube-Video ploppt auf und Meral Ziegler sagt: „Hallo“. Genaugenommen sagt sie meistens: „Hallo, ihr Lieben!“ Und liest dann auf einer Comedy-Stage den jeweiligen Text vor.
Das Anti-Lesebuch, das Texte zwischen zwei Buchdeckel quetscht, die eigentlich gar nicht dort hingehören, gibt seine Texte am Ende also wieder frei: zurück an die Stimme, an den Sound, an die Bühne – an den lebendigen Menschen. Und die Leser:in, die es auf sich genommen hat, durch die Textfetzen zu stolpern, dabei immer zum Mitdenken gezwungen, kann sich plötzlich zurücklehnen, zuhören, sich treiben lassen.
Schlussapplaus zwischen zwei Buchdeckeln
Applaus für die Autorin. Nicht nur, weil die Texte gut performt sind – Meral Ziegler weiss, was sie auf der Bühne zu tun hat – sondern auch, weil sich am Ende die allgegenwärtige Identitätskritik selbst so wunderschön toppt und damit allen Kritiker:innen den Wind aus den Segeln nimmt. War es die zerrissene und aufoktroyierte Identität, die ein Buch forderte, das sich nur unter Widerstand lesen lässt, ist es der Moment des grössten Lesewiderstands im QR-Code, der durch all die Identitäten den ganzen Menschen hindurchschimmern lässt.
Irgendwie endet die Literatur im QR-Code und beginnt das Leben (auch wenn vorerst nur auf Video) am Ende der Literatur. Damit schliesst CON TEXT den Kreis zum Entwicklungsroman einer Frau, die sich tatsächlich frei gemacht hat von allen identitären Zuschreibungen, indem sie selber liest, statt sich lesen zu lassen.
Wohl einer der radikalsten Akte der Selbstermächtigung, den die aktuelle Literatur zu bieten hat. Und ein eleganter Konter gegen bürgerliche Kritik an Identitätspolitik: „Wo ist er denn nun, euer Universalismus?“
Da steht er (besser sie) auf der Bühne, schaut freundlich in die Kamera und liest den eigenen Text, bevor andere wieder irgendwas hineinlesen können.
Meral Ziegler: „CON TEXT“, Lektora Verlag, Schildern 2021, 108 Seiten, ISBN: 9783954611706
Vom Text über den QR-Code zum Youtube-Video: Wem das noch nicht genug ist, wer die Autorin einmal wirklich live erleben will, kann beim Lamm diese Erfahrung machen. Die Lamm-Redaktion entwickelt in Zusammenarbeit mit Meral Ziegler und der Buchhandlung Paranoia einen eigenen Literaturclub. An vorerst drei Abenden werden Autor:innen eingeladen, um ihre Werke live zu besprechen, zu performen, zu lesen oder darauf anzustossen. Das alles unter der Moderation von Meral Ziegler, die mit ihrem Buch CON TEXT nicht zuletzt das neue Format inspiriert hat. Die erste Veranstaltung wird im Januar 2022 stattfinden, Ort und Termine werden an dieser Stelle rechtzeitig bekanntgegeben.