Genf vertreibt den Kommerz aus den Strassen, doch er verschwindet dadurch nicht

Das Stadt­par­la­ment von Genf nimmt eine Initia­tive zum Verbot von kommer­zi­eller Werbung im öffent­li­chen Raum an. Ein wich­tiger Schritt, der aber zu wenig weit geht. 
Bitte keine Werbung – ab 2025 gilt in Genf ein Verbot für Aussenwerbung. Direktwerbung, die im Briefkasten landet, ist beispielsweise aber nicht betroffen. (Foto: Leon Seibert via unsplash)

Die links-alter­nativ-grüne Mehr­heit im Genfer Stadt­par­la­ment stimmt der Initia­tive „Zéro pub“ zum Verbot kommer­zi­eller Werbe­pla­kate zu. Laut der Initia­tive sollen keine konsum­trei­benden Werbe­pla­kate mehr im öffent­li­chen Raum der Stadt zu sehen sein.

Nicht betroffen sein sollen Plakate für die Bewer­bung kultu­reller Veran­stal­tungen und solche der Polizei, die auf Gefahren aufmerksam machen. Ausserdem beschränkt sich das Verbot nur auf den öffent­li­chen Raum der Stadt – private Flächen und kanto­nale Grund­stücke sind ausgenommen.

Nach einem mehr­jäh­rigen Rechts­streit hat das Bundes­ge­richt die schon 2017 von mehreren zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tionen einge­reichte Initia­tive als gültig erklärt und sie wurde nun vom links­do­mi­nierten Parla­ment angenommen.

Dies entgegen der Haltung der ebenso linken Exeku­tive, die die drohenden Einbussen von 4,3 Millionen Schweizer Franken infolge der Initia­tive als schäd­lich für das jetzt schon defi­zi­täre Budget ansieht. Ausserdem bestünden schon strikte Regeln für kommer­zi­elle Werbung wie zum Beispiel ein Verbot diskri­mi­nie­render und sexi­sti­scher Plakate. 

Dass ein Verbot von kommer­zi­eller Werbung ein probates Mittel ist, um Konsum zu mini­mieren, weiss man hier­zu­lande späte­stens seit dem teil­weise einge­führten Werbe­verbot für Tabak­pro­dukte von 1995, wie Unter­su­chungen des Bundes­amtes für Gesund­heit (BAG) zeigen. 

Darüber hinaus ist klar, dass ein Verbot von kommer­zi­eller Werbung nicht nur aus gesund­heits­po­li­ti­scher, sondern auch aus klima- und wirt­schafts­po­li­ti­scher Perspek­tive ein wich­tiger Schritt ist, um unso­ziale und klima­schäd­liche Prak­tiken von Unter­nehmen zu brechen. 

Denn wie eine im November 2020 erschie­nene Studie des Thinktanks New Weather Insti­tute zeigt, trägt kommer­zi­elle Werbung indi­rekt zum Klima­wandel bei, indem sie unter anderem die Konsument:innen in mate­ria­li­sti­schen Werten und Zielen bestärkt und den konsum­trei­benden Arbeits- und Ausga­ben­zy­klus insge­samt beför­dert. Kommer­zi­elle Werbung fungiert also einer­seits als Grund­lage des wachs­tums­ori­en­tierten, nicht-nach­hal­tigen und ener­gie­in­ten­siven Markt­li­be­ra­lismus, ande­rer­seits beför­dert sie dadurch die Repro­duk­tion von markt­li­be­raler Ideologie.

Dass bürger­liche Akteur:innen von der Genfer CVP bis hin zur NZZ nach dem Entscheid des Genfer Stadt­par­la­mentes nun allerlei Schreckens­sze­na­rien an die Wand malen, darf nicht darüber hinweg­täu­schen, dass die Initia­tive weniger radikal ist, als sie klingt, da sie neben privaten Werbe­flä­chen auch Direkt­wer­bung – also jene, die direkt nach Hause verschickt wird – sowie Presse- und Inter­net­wer­bung ausnimmt. Die Initia­tive ist ein erster Schritt – und somit Teil einer Politik der kleinen Schritte, die dafür sorgt, dass links-grüne Anliegen im Sinne des Kompro­misses immer mehr verwäs­sert, in die Mitte gerückt und die drän­genden Probleme somit nicht an der Wurzel ange­gangen werden.

Das Verbot von kommer­zi­eller Werbung im öffent­li­chen Raum ist richtig und wichtig. Es betrifft jedoch nur einen kleinen Teil der Werbe­indu­strie. Laut der Stif­tung Werbe­sta­ti­stik beliefen sich die schweiz­weiten Netto-Werbe­um­sätze der Aussen­wer­bung, also der Werbung im öffent­li­chen Raum, im Jahr 2020 auf 10 Prozent des Werbe­um­satzes von insge­samt 3,7 Milli­arden. Einen grös­seren Anteil am Kuchen haben die Direkt­wer­bung, (22,2 Prozent), die Pres­se­wer­bung (19,5 Prozent), die TV-Werbung (16,5 Prozent), Werbe­ar­tikel (16,4 Prozent) und Online­wer­bung (12,4 Prozent, Such­ma­schi­nen­wer­bung und Social Media wurden dabei aber nicht berücksichtigt).

Das Genfer Verbot bezieht sich also nur auf einen Zehntel des gesamten schweiz­weiten Werbe­um­satzes und trägt dazu bei, dass kommer­zi­elle Werbe­trei­bende nun wohl vermehrt auf Inse­rate in lokalen privaten Medien und auf Online­wer­bung auswei­chen werden. Die Tribune de Genève (Tamedia) und globale Inter­net­kon­zerne werden ihre Freude daran haben.

Ausserdem wird das Verbot nichts am Ausmass der Werbe­inve­sti­tionen der grössten inse­rat­schal­tenden Firmen Coop (374 Millionen Schweizer Franken im Jahr 2020) und Migros (196 Millionen) ändern. 

Der Genfer Entscheid ist Anlass, das Anliegen weiter­zu­tragen, es aber auf die Direkt‑, Internet- und Pres­se­wer­bung auszu­weiten und einen bundes­weiten Versuch zu seiner Umset­zung zu lancieren.

Dass sich das Verbot nur auf den öffent­li­chen Raum beschränkt und voraus­sicht­lich erst 2025 einge­führt wird – gut acht Jahre, nachdem die Initia­tive einge­reicht wurde – spricht Bände. Die immer schneller statt­fin­dende Verla­ge­rung von Werbung auf digi­tale Kanäle wird nicht berück­sich­tigt und die Politik lässt sich mit Entschei­dungen und Mass­nahmen zu viel Zeit.

Es bedürfte geziel­terer und schnel­lerer Verbote von kommer­zi­eller Werbung, die flächen­deckend – im öffent­li­chen Raum, online, im Fern­sehen, bei der Direkt­wer­bung – ange­wendet werden müssten. Vor allem bei Detail­han­dels­un­ter­nehmen wie Coop und Migros, deren Aufgabe in der Distri­bu­tion von Produkten des alltäg­li­chen Gebrau­ches liegt.

Obwohl die Initia­tive das Problem der kommer­zi­ellen Werbung nicht grund­sätz­lich angeht, sondern es einfach auf andere Ebenen verla­gert, hat ihre Annahme trotzdem eine posi­tive Signal­wir­kung auf den Rest der Schweiz, da ähnliche Anliegen zuvor noch nie Zustim­mung erhielten. Der Parla­ments­ent­scheid zeigt, dass die kommer­zi­elle Werbung als Trieb­werk des Markt­li­be­ra­lismus auch hier­zu­lande mehr unter Beschuss gerät.

Der Genfer Entscheid ist Anlass, das Anliegen weiter­zu­tragen, es aber auf die Direkt‑, Internet- und Pres­se­wer­bung auszu­weiten und einen bundes­weiten Versuch zu seiner Umset­zung zu lancieren. Denn erst ein grund­sätz­li­ches und flächen­deckendes Verbot würde zu einer effi­zi­enten und wirkungs­vollen Einschrän­kung von kommer­zi­eller Werbung führen.


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