Geschei­terter IS-Gefäng­nis­aus­bruch: Ist der Schrecken zurück?

Am 20. Januar 2022 griffen IS-Kämpfer die nord­sy­ri­sche Stadt Hasakah an. Viele Medien bezeich­neten den Angriff als „Wieder­auf­leben des IS”. Was bedeutet dieser massive Angriff für die Region? Eine Spurensuche. 
Im Zentrum Hasakahs, wo die Kämpfe stattfanden: Ein Mann steht vor einem Laden, dessen Tor mit Einschusslöchern übersät ist. (Foto: Liza Shishko)

Die Offen­sive beginnt mit einem Angriff auf das Al-Sinaa-Gefängnis. Dort sind hinter Mauern, Zäunen und Wach­türmen IS-Kämpfer* in grossen Beton­ge­bäuden unter­ge­bracht. Der Soldat Mahir Bakırcıyan und seine Kamerad*innen halten sich zu diesem Zeit­punkt auf einem Mili­tär­stütz­punkt der Syrian Demo­cratic Forces (SDF) in der Nähe der Stadt auf. Als sie vom Angriff erfahren, begeben sie sich sofort nach Hasakah, um die Stadt zu verteidigen.

Monate später ist Mahir Bakırcıyan erneut auf dem Mili­tär­stütz­punkt und erzählt von den dama­ligen Ereig­nissen: „Als wir in der Stadt ankamen, hatte der IS zwei Häuser­blocks der Stadt besetzt“, erin­nert er sich. „IS-Kämpfer, die aus dem Gefängnis geflohen waren, drangen in die Häuser der Bewohner*innen ein und töteten dieje­nigen, die keine Zeit mehr hatten zu fliehen. Ich sah etwa 20 massa­krierte Zivilist*innen.“ Nach diesen Worten verstummt Bakırcıyan und nimmt eine Ziga­rette aus der Schachtel. Die Soldat*innen, die im selben Raum sitzen, senken ihre Köpfe.

Bakırcıyan kämpfte an fast allen Fronten im Nord­osten Syriens, auch während der Opera­tion in Raqqa, der ehema­ligen IS-Haupt­stadt. Als die SDF damals die Stadt befreiten, war er Komman­dant des Inter­na­tio­nalen Frei­heits­ba­tail­lons, unter dem er Soldat*innen verschie­den­ster revo­lu­tionär-sozia­li­sti­schen Gruppen im Kampf gegen den IS anführte.

Bakırcıyan vergleicht den jüng­sten Gefäng­nis­aus­bruch mit einer Opera­tion irgendwo in den Vororten von Raqqa, aller­dings mit wich­tigen Unter­schieden: „In Hasakah haben die IS-Kämpfer nicht aus der Ferne auf uns geschossen. Sie haben darauf gewartet, dass wir näher kommen, um uns mit Sicher­heit zu töten.“ Aber auch die SDF hätten sich im Laufe der Jahre verän­dert. „Die Soldat*innen sind viel besser ausge­rü­stet und auch viel wage­mu­tiger als früher“, sagt er und fügt an: „Ausserdem war die Unter­stüt­zung der Bevöl­ke­rung für unsere Streit­kräfte enorm.“

Die Auto­nome Verwal­tung von Nord- und Ostsy­rien ist auch unter dem kurdi­schen Namen Rojava bekannt. Die Selbst­ver­wal­tung der de facto auto­nomen Region im Nord­osten Syriens setzt sich für die Gleich­stel­lung der Geschlechter, Plura­lismus und die Betei­li­gung von Vertreter*innen aller Bevöl­ke­rungs­gruppen in der Verwal­tung ein. In ihrer jetzigen Form besteht die Auto­nome Verwal­tung seit 2018. Mit Ausnahme des kata­la­ni­schen Parla­ments  wird sie von keinem Staat offi­ziell anerkannt.

Die Syrian Demo­cratic Forces sind die bewaff­neten Kräfte der Auto­nomen Verwal­tung von Nord- und Ostsy­rien. Sie wurden im Oktober 2015 gegründet und setzen sich haupt­säch­lich aus kurdi­schen, arabi­schen und syri­schen sowie einigen klei­neren arme­ni­schen, turk­me­ni­schen und tsche­tsche­ni­schen Kräften zusammen. Den Gross­teil der SDF machen die YPG (Yekî­neyên Para­stina Gel) sowie deren Unter­gruppe YPJ (Yekî­neyên Para­stina Jin) – ausschliess­lich aus Frauen bestehende Brigaden – aus. Die Türkei betrachtet die YPG als bewaff­neten Arm der verbo­tenen Arbei­ter­partei Kurdi­stans (PKK).

Das Inter­na­tio­nale Frei­heits­ba­taillon wurde 2015 im Nord­osten Syriens gegründet, um an der Seite der SDF an der Vertei­di­gung der auto­nomen Region Nord­ost­sy­rien teil­zu­nehmen. Es setzt sich aus revo­lu­tionär-sozia­li­sti­schen Gruppen zusammen, die zumeist auslän­di­scher Herkunft sind.

Die Kräfte der Inneren Sicher­heit (Internal Secu­rity Forces) wurden 2012 gegründet. Sie setzen sich aus Einwohner*innen der Region zusammen und bilden die Polizei der Auto­nomen Verwal­tung von Nord- und Ostsyrien.

Die Bevöl­ke­rung war erschüttert

Tatsäch­lich war die Unter­stüt­zung für die Kämpfer*innen, die gegen den IS kämpften, in der Bevöl­ke­rung gross. Die Menschen hatten Angst, dass der Schrecken des IS wieder in ihre Häuser zurück­kehrt. Zivilist*innen orga­ni­sierten sich selbst und hielten Nacht­wa­chen in allen Vier­teln von Hasakah und anderen Städten im Nord­osten Syriens ab.

Talin, eine Studentin einer Univer­sität in Hasakah, lebt in der nahe­ge­le­genen Stadt Qamishlo. Sie gehörte zu den Frei­wil­ligen, die in den Strassen in Qamishlo patrouil­lierten, während die SDF in Hasakah gegen den IS kämpften. „Natür­lich haben wir uns zusam­men­ge­schlossen und die SDF unter­stützt. Was blieb uns sonst übrig?“, so Talin nach einer ihrer Patrouillen, die auch heute noch durch­ge­führt werden. „Es werden keine anderen Streit­kräfte kommen und uns vor dem IS schützen.“

Im Gegen­satz zum SDF-Kämpfer Bakırcıyan ist Talin nicht begei­stert über den Zustand und die Vorbe­rei­tungen der SDF. Mit Verbit­te­rung und Angst in der Stimme sagt sie: „Wie konnten sie so eine monströse Kata­strophe nicht vorher­sehen und verhindern?“

Während des Angriffs gab es Faktoren, die auf eine Nach­läs­sig­keit bei der Sicher­heit des Gefäng­nisses schliessen lassen. Nachdem die IS-Kämpfer aussen vor den Gefäng­nis­toren ein Auto in die Luft gesprengt hatten, zerstörten sie die Gefäng­nis­mauer mit einem Bagger. Die befreiten Kämpfer nahmen Geiseln auf dem nächst­ge­le­genen Mili­tär­stütz­punkt, ergriffen deren Waffen und besetzten inner­halb weniger Stunden zwei Häuser­blocks der Stadt.

Ein Mitglied der Kräfte der Inneren Sicher­heit in Quamishlo. (Foto: Liza Shishko)

Wer hat dem IS geholfen?

Der Angriff des IS auf die Stadt Hasakah kam über­ra­schend. Die Türkei star­tete kurz darauf mehrere Luft­an­griffe auf die Städte Derik und Amude – um die SDF davon abzu­lenken, IS-Kämpfer wieder gefangen zu nehmen, glauben viele in der Region.

Während des lang­jäh­rigen Krieges gegen den IS, der mit den Kämpfen um die Stadt Kobane im Jahr 2014 begann, wurden Bakırcıyan und seine Kamerad*innen immer wieder bestä­tigt in ihrer Annahme, dass die Türkei mit dem IS zusam­men­ar­beitet. Sie hätten bei IS-Stel­lungen regel­mässig in grossen Mengen Muni­tion und Lebens­mittel aus türki­scher Produk­tion gefunden, sagt Bakırcıyan. Der Vorwurf wurde in der inter­na­tio­nalen Presse bestätigt.

In den ersten Tagen nach dem Gefäng­nis­aus­bruch nahmen die SDF und die Kräfte der Inneren Sicher­heit mehrere IS-Kämpfer fest. Diese versuchten, über die Tel-Temir-Front in die türkisch besetzten Gebiete zu entkommen. „Natür­lich hatten diese IS-Kämpfer Kontakt in die von der Türkei besetzten Gebiete. Sie wussten, dass man sie dort aufnehmen würde“, meint Bakırcıyan.

Auch der offi­zi­elle Spre­cher der SDF, Aram Hena, erklärt sich den gelun­genen Angriff so: Der IS werde in den Gebieten, die unter der Kontrolle des syri­schen Regimes stehen oder durch die Türkei besetzt sind, zu wenig kontrol­liert. Beson­ders Zwei­teres schaffe günstige Bedin­gungen für den IS: „Terro­ri­sti­sches Personal kann sich dort frei bewegen, ein solcher Angriff kann geplant werden. Es ist ein Ort für die Rekru­tie­rung neuer Mitglieder, von wo aus diese heim­lich in unsere Kontroll­zone geschickt werden“, berichtet Aram Hena in einem von vielen Telefongesprächen.

Ein Schulbus in der Stadt Quamishlo. (Foto: Liza Shishko)

Nach dem Angriff

Nach dem Gespräch mit Bakırcıyan auf dem Mili­tär­stütz­punkt bietet einer seiner Kame­raden namens Hasan eine Stadt­füh­rung in Hasakah an. Nach den jüng­sten Kämpfen wurde dort eine Ausgangs­sperre verhängt: Nach 18 Uhr müssen Geschäfte und öffent­liche Plätze geschlossen werden.

Vor einem der Kontroll­punkte am Eingang der Stadt bewegt sich eine lange Schlange langsam fahrender Autos. Mitglieder der Kräfte der Inneren Sicher­heit über­prüfen die Doku­mente der Autofahrer*innen sorg­fältig – so auch Hasan. Nachdem sie den Stempel „SDF“ auf Hasans Doku­ment lesen, winkt ihn ein Mann mit Maschi­nen­ge­wehr lächelnd durch: „Will­kommen in Hasakah!“

Hasans betagter Vater, Abu Ahmed, hängt im Wohn­zimmer an einem Tropf. Noch im letzten Jahr wurde er aufgrund von Kompli­ka­tionen durch das Coro­na­virus an der Lunge operiert. Während des Angriffs des IS auf Hasakah war er zufällig bei einem seiner Kinder zu Hause. Zum Glück: Sein eigenes Haus befindet sich mitten im Zentrum, wo die bewaff­neten Ausein­an­der­set­zungen statt­fanden. Er hätte kaum schnell genug evaku­iert werden können, wäre er dort gewesen.

Abu Ahmed erin­nert sich an diese Tage und spricht entrü­stet über das Gesche­hene: „Wir fordern einen inter­na­tio­nalen Prozess gegen die IS-Kämpfer. Hört auf, sie hier in Gefäng­nissen wie eine tickende Zeit­bombe zu halten“, sagt er laut. „Lasst die west­li­chen Länder entweder ihre IS-Bürger*innen aus unseren Gefäng­nissen holen oder lasst uns mit ihnen fertig werden. Wir leben hier!“

Sein Sohn Hasan ist ein 25-jähriger Araber, der wie Bakırcıyan bereits an vielen Fronten im Nord­osten Syriens im Einsatz war. Mehrere seiner Brüder arbeiten für die SDF oder die Kräfte der Inneren Sicher­heit. Während der Kämpfe gegen den IS im Januar bot Hasans Vater den SDF-Kämpfer*innen das Haus im Zentrum an. Als Hasan nach dem Sieg nach Hause kehrte, fand er alles so vor, wie zuvor: „Es schien, als ob die SDF-Kämpfer*innen nichts in unserem Haus ange­rührt hatten. Sie haben sogar ein wenig aufgeräumt.“

Die Geschäfte nehmen wieder ihren Lauf: Arbeiter vor einer Werk­statt in Hasakah. (Foto: Liza Shishko)

Wieder­aufbau nach dem Krieg

Das Haus seiner Familie über­stand die Kämpfe unbe­schadet – doch nicht alle Bewohner*innen der Stadt Hasakah hatten dieses Glück. Einige Häuser wurden voll­ständig zerstört: Wände wurden zerschmet­tert, Fenster gingen zu Bruch. „Die jüng­sten Ereig­nisse haben unsere Einwohner*innen in allen Lebens­be­rei­chen negativ beein­flusst“, sagt SDF-Spre­cher Hena.

Die Besei­ti­gung der zerstö­re­ri­schen Folgen des Terro­rismus obliegt wie bisher der Auto­nomen Verwal­tung, sagt Hena: „Zwei­fellos unter­nehmen sie alles in ihrer Macht stehende, um die Opfer zu unter­stützen.“ Da es jedoch an inter­na­tio­naler Unter­stüt­zung fehlt, nimmt der wirt­schaft­liche Druck auf die Region zu. „Die syri­sche Währung verliert rapide an Wert“, fügt Hena an.

Aufgrund des von Russ­land und China einge­legten Vetos habe die UN die Liefe­rung huma­ni­tärer Hilfe über die Grenz­über­gänge, die unter der Kontrolle der SDF stehen, verboten, so Hena weiter. Das bedeutet, dass die gesamte huma­ni­täre Hilfe in die von der Assad-Regie­rung kontrol­lierten Gebiete fliesst statt in die auto­nome Region im Nord­osten Syriens.

All diese Ereig­nisse in und um Hasakah wider­legen die Aussagen vieler west­li­cher Politiker*innen, wonach der IS besiegt sei – etwa die Äusse­rung des ehema­ligen US-Präsi­denten Trump: „Wir haben gegen den IS gewonnen. Wir haben ihn besiegt und wir haben ihn schwer besiegt.“

Auch laut Aram Hena ist der IS noch nicht bezwungen: „Der IS wird von Tag zu Tag gefähr­li­cher, weil die Bedin­gungen, die seine Akti­vi­täten begün­stigen, fort­be­stehen.“ Es würde inter­na­tional an der Absicht mangeln, prak­ti­sche Schritte im Kampf gegen den Terro­rismus zu unter­nehmen. „Die inter­na­tio­nale Gemein­schaft sollte die Bemü­hungen unserer Streit­kräfte unter­stützen und bei der Aner­ken­nung der Auto­nomen Verwal­tung voran­kommen“, fordert Hena.

Liza Shishko ist russisch-ukrai­ni­sche Jour­na­li­stin und Blog­gerin. Sie lebt seit vier Jahren in Nord­sy­rien, von wo aus sie für unab­hän­gige russi­sche, ukrai­ni­sche, sowie italie­ni­sche Medien schreibt.

* Im Gegen­satz zu den SDF finden sich übli­cher­weise keine Frauen unter den Kämp­fern des IS.

Dieser Artikel wurde von Maria-Theres Schuler vom Engli­schen ins Deut­sche übersetzt.


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