Die Offensive beginnt mit einem Angriff auf das Al-Sinaa-Gefängnis. Dort sind hinter Mauern, Zäunen und Wachtürmen IS-Kämpfer* in grossen Betongebäuden untergebracht. Der Soldat Mahir Bakırcıyan und seine Kamerad*innen halten sich zu diesem Zeitpunkt auf einem Militärstützpunkt der Syrian Democratic Forces (SDF) in der Nähe der Stadt auf. Als sie vom Angriff erfahren, begeben sie sich sofort nach Hasakah, um die Stadt zu verteidigen.
Monate später ist Mahir Bakırcıyan erneut auf dem Militärstützpunkt und erzählt von den damaligen Ereignissen: „Als wir in der Stadt ankamen, hatte der IS zwei Häuserblocks der Stadt besetzt“, erinnert er sich. „IS-Kämpfer, die aus dem Gefängnis geflohen waren, drangen in die Häuser der Bewohner*innen ein und töteten diejenigen, die keine Zeit mehr hatten zu fliehen. Ich sah etwa 20 massakrierte Zivilist*innen.“ Nach diesen Worten verstummt Bakırcıyan und nimmt eine Zigarette aus der Schachtel. Die Soldat*innen, die im selben Raum sitzen, senken ihre Köpfe.
Bakırcıyan kämpfte an fast allen Fronten im Nordosten Syriens, auch während der Operation in Raqqa, der ehemaligen IS-Hauptstadt. Als die SDF damals die Stadt befreiten, war er Kommandant des Internationalen Freiheitsbataillons, unter dem er Soldat*innen verschiedenster revolutionär-sozialistischen Gruppen im Kampf gegen den IS anführte.
Bakırcıyan vergleicht den jüngsten Gefängnisausbruch mit einer Operation irgendwo in den Vororten von Raqqa, allerdings mit wichtigen Unterschieden: „In Hasakah haben die IS-Kämpfer nicht aus der Ferne auf uns geschossen. Sie haben darauf gewartet, dass wir näher kommen, um uns mit Sicherheit zu töten.“ Aber auch die SDF hätten sich im Laufe der Jahre verändert. „Die Soldat*innen sind viel besser ausgerüstet und auch viel wagemutiger als früher“, sagt er und fügt an: „Ausserdem war die Unterstützung der Bevölkerung für unsere Streitkräfte enorm.“
Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien ist auch unter dem kurdischen Namen Rojava bekannt. Die Selbstverwaltung der de facto autonomen Region im Nordosten Syriens setzt sich für die Gleichstellung der Geschlechter, Pluralismus und die Beteiligung von Vertreter*innen aller Bevölkerungsgruppen in der Verwaltung ein. In ihrer jetzigen Form besteht die Autonome Verwaltung seit 2018. Mit Ausnahme des katalanischen Parlaments wird sie von keinem Staat offiziell anerkannt.
Die Syrian Democratic Forces sind die bewaffneten Kräfte der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien. Sie wurden im Oktober 2015 gegründet und setzen sich hauptsächlich aus kurdischen, arabischen und syrischen sowie einigen kleineren armenischen, turkmenischen und tschetschenischen Kräften zusammen. Den Grossteil der SDF machen die YPG (Yekîneyên Parastina Gel) sowie deren Untergruppe YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) – ausschliesslich aus Frauen bestehende Brigaden – aus. Die Türkei betrachtet die YPG als bewaffneten Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Das Internationale Freiheitsbataillon wurde 2015 im Nordosten Syriens gegründet, um an der Seite der SDF an der Verteidigung der autonomen Region Nordostsyrien teilzunehmen. Es setzt sich aus revolutionär-sozialistischen Gruppen zusammen, die zumeist ausländischer Herkunft sind.
Die Kräfte der Inneren Sicherheit (Internal Security Forces) wurden 2012 gegründet. Sie setzen sich aus Einwohner*innen der Region zusammen und bilden die Polizei der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien.
Die Bevölkerung war erschüttert
Tatsächlich war die Unterstützung für die Kämpfer*innen, die gegen den IS kämpften, in der Bevölkerung gross. Die Menschen hatten Angst, dass der Schrecken des IS wieder in ihre Häuser zurückkehrt. Zivilist*innen organisierten sich selbst und hielten Nachtwachen in allen Vierteln von Hasakah und anderen Städten im Nordosten Syriens ab.
Talin, eine Studentin einer Universität in Hasakah, lebt in der nahegelegenen Stadt Qamishlo. Sie gehörte zu den Freiwilligen, die in den Strassen in Qamishlo patrouillierten, während die SDF in Hasakah gegen den IS kämpften. „Natürlich haben wir uns zusammengeschlossen und die SDF unterstützt. Was blieb uns sonst übrig?“, so Talin nach einer ihrer Patrouillen, die auch heute noch durchgeführt werden. „Es werden keine anderen Streitkräfte kommen und uns vor dem IS schützen.“
Im Gegensatz zum SDF-Kämpfer Bakırcıyan ist Talin nicht begeistert über den Zustand und die Vorbereitungen der SDF. Mit Verbitterung und Angst in der Stimme sagt sie: „Wie konnten sie so eine monströse Katastrophe nicht vorhersehen und verhindern?“
Während des Angriffs gab es Faktoren, die auf eine Nachlässigkeit bei der Sicherheit des Gefängnisses schliessen lassen. Nachdem die IS-Kämpfer aussen vor den Gefängnistoren ein Auto in die Luft gesprengt hatten, zerstörten sie die Gefängnismauer mit einem Bagger. Die befreiten Kämpfer nahmen Geiseln auf dem nächstgelegenen Militärstützpunkt, ergriffen deren Waffen und besetzten innerhalb weniger Stunden zwei Häuserblocks der Stadt.
Wer hat dem IS geholfen?
Der Angriff des IS auf die Stadt Hasakah kam überraschend. Die Türkei startete kurz darauf mehrere Luftangriffe auf die Städte Derik und Amude – um die SDF davon abzulenken, IS-Kämpfer wieder gefangen zu nehmen, glauben viele in der Region.
Während des langjährigen Krieges gegen den IS, der mit den Kämpfen um die Stadt Kobane im Jahr 2014 begann, wurden Bakırcıyan und seine Kamerad*innen immer wieder bestätigt in ihrer Annahme, dass die Türkei mit dem IS zusammenarbeitet. Sie hätten bei IS-Stellungen regelmässig in grossen Mengen Munition und Lebensmittel aus türkischer Produktion gefunden, sagt Bakırcıyan. Der Vorwurf wurde in der internationalen Presse bestätigt.
In den ersten Tagen nach dem Gefängnisausbruch nahmen die SDF und die Kräfte der Inneren Sicherheit mehrere IS-Kämpfer fest. Diese versuchten, über die Tel-Temir-Front in die türkisch besetzten Gebiete zu entkommen. „Natürlich hatten diese IS-Kämpfer Kontakt in die von der Türkei besetzten Gebiete. Sie wussten, dass man sie dort aufnehmen würde“, meint Bakırcıyan.
Auch der offizielle Sprecher der SDF, Aram Hena, erklärt sich den gelungenen Angriff so: Der IS werde in den Gebieten, die unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen oder durch die Türkei besetzt sind, zu wenig kontrolliert. Besonders Zweiteres schaffe günstige Bedingungen für den IS: „Terroristisches Personal kann sich dort frei bewegen, ein solcher Angriff kann geplant werden. Es ist ein Ort für die Rekrutierung neuer Mitglieder, von wo aus diese heimlich in unsere Kontrollzone geschickt werden“, berichtet Aram Hena in einem von vielen Telefongesprächen.
Nach dem Angriff
Nach dem Gespräch mit Bakırcıyan auf dem Militärstützpunkt bietet einer seiner Kameraden namens Hasan eine Stadtführung in Hasakah an. Nach den jüngsten Kämpfen wurde dort eine Ausgangssperre verhängt: Nach 18 Uhr müssen Geschäfte und öffentliche Plätze geschlossen werden.
Vor einem der Kontrollpunkte am Eingang der Stadt bewegt sich eine lange Schlange langsam fahrender Autos. Mitglieder der Kräfte der Inneren Sicherheit überprüfen die Dokumente der Autofahrer*innen sorgfältig – so auch Hasan. Nachdem sie den Stempel „SDF“ auf Hasans Dokument lesen, winkt ihn ein Mann mit Maschinengewehr lächelnd durch: „Willkommen in Hasakah!“
Hasans betagter Vater, Abu Ahmed, hängt im Wohnzimmer an einem Tropf. Noch im letzten Jahr wurde er aufgrund von Komplikationen durch das Coronavirus an der Lunge operiert. Während des Angriffs des IS auf Hasakah war er zufällig bei einem seiner Kinder zu Hause. Zum Glück: Sein eigenes Haus befindet sich mitten im Zentrum, wo die bewaffneten Auseinandersetzungen stattfanden. Er hätte kaum schnell genug evakuiert werden können, wäre er dort gewesen.
Abu Ahmed erinnert sich an diese Tage und spricht entrüstet über das Geschehene: „Wir fordern einen internationalen Prozess gegen die IS-Kämpfer. Hört auf, sie hier in Gefängnissen wie eine tickende Zeitbombe zu halten“, sagt er laut. „Lasst die westlichen Länder entweder ihre IS-Bürger*innen aus unseren Gefängnissen holen oder lasst uns mit ihnen fertig werden. Wir leben hier!“
Sein Sohn Hasan ist ein 25-jähriger Araber, der wie Bakırcıyan bereits an vielen Fronten im Nordosten Syriens im Einsatz war. Mehrere seiner Brüder arbeiten für die SDF oder die Kräfte der Inneren Sicherheit. Während der Kämpfe gegen den IS im Januar bot Hasans Vater den SDF-Kämpfer*innen das Haus im Zentrum an. Als Hasan nach dem Sieg nach Hause kehrte, fand er alles so vor, wie zuvor: „Es schien, als ob die SDF-Kämpfer*innen nichts in unserem Haus angerührt hatten. Sie haben sogar ein wenig aufgeräumt.“
Wiederaufbau nach dem Krieg
Das Haus seiner Familie überstand die Kämpfe unbeschadet – doch nicht alle Bewohner*innen der Stadt Hasakah hatten dieses Glück. Einige Häuser wurden vollständig zerstört: Wände wurden zerschmettert, Fenster gingen zu Bruch. „Die jüngsten Ereignisse haben unsere Einwohner*innen in allen Lebensbereichen negativ beeinflusst“, sagt SDF-Sprecher Hena.
Die Beseitigung der zerstörerischen Folgen des Terrorismus obliegt wie bisher der Autonomen Verwaltung, sagt Hena: „Zweifellos unternehmen sie alles in ihrer Macht stehende, um die Opfer zu unterstützen.“ Da es jedoch an internationaler Unterstützung fehlt, nimmt der wirtschaftliche Druck auf die Region zu. „Die syrische Währung verliert rapide an Wert“, fügt Hena an.
Aufgrund des von Russland und China eingelegten Vetos habe die UN die Lieferung humanitärer Hilfe über die Grenzübergänge, die unter der Kontrolle der SDF stehen, verboten, so Hena weiter. Das bedeutet, dass die gesamte humanitäre Hilfe in die von der Assad-Regierung kontrollierten Gebiete fliesst statt in die autonome Region im Nordosten Syriens.
All diese Ereignisse in und um Hasakah widerlegen die Aussagen vieler westlicher Politiker*innen, wonach der IS besiegt sei – etwa die Äusserung des ehemaligen US-Präsidenten Trump: „Wir haben gegen den IS gewonnen. Wir haben ihn besiegt und wir haben ihn schwer besiegt.“
Auch laut Aram Hena ist der IS noch nicht bezwungen: „Der IS wird von Tag zu Tag gefährlicher, weil die Bedingungen, die seine Aktivitäten begünstigen, fortbestehen.“ Es würde international an der Absicht mangeln, praktische Schritte im Kampf gegen den Terrorismus zu unternehmen. „Die internationale Gemeinschaft sollte die Bemühungen unserer Streitkräfte unterstützen und bei der Anerkennung der Autonomen Verwaltung vorankommen“, fordert Hena.
Liza Shishko ist russisch-ukrainische Journalistin und Bloggerin. Sie lebt seit vier Jahren in Nordsyrien, von wo aus sie für unabhängige russische, ukrainische, sowie italienische Medien schreibt.
* Im Gegensatz zu den SDF finden sich üblicherweise keine Frauen unter den Kämpfern des IS.
Dieser Artikel wurde von Maria-Theres Schuler vom Englischen ins Deutsche übersetzt.
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