Vor genau zehn Jahren war ich zum letzten Mal an einem Public Viewing. Männerfussball, WM-Achtelfinale, Argentinien gegen die Schweiz. Wir sitzen unter einem weissen Zelt mit Festbänken in der Provinz. Bier- und Geräuschpegel gleichauf, die Stimmung ist erhitzt, ebenso der nackte Oberkörper eines Mannes, der sich an mir vorbeischiebt.
Die Spannung ist kaum auszuhalten, das Penaltyschiessen greifbar, die Menge steht zwischen den Bänken. Und dann: Minute 28 der Nachspielzeit, Ángel Di María trifft zum 1:0 gegen die Schweiz – und die Stimmung kippt.
Ein halb voller Bierbecher verfehlt mich nur knapp; mein Nebenmann flucht unaufhörlich, packt mich dann an den Schultern, schüttelt mich und schreit in mein Ohr: „Wieso machen sie das mit uns?!“ Ich winde mich aus seinem Griff, lächle entschuldigend, als hätte ich höchstpersönlich die Niederlage zu verantworten. Heute wünschte ich mir, ich hätte ihn gefragt: „Warum machst du das mit mir?!“ Wenige Minuten später: Schlusspfiff, ein Betrunkener schreit nach Freibier. Einer meiner damaligen Kumpels weint.
Später am Abend ruft er mir ins Ohr, dass Frauen die Fussballregeln nicht kennen müssten, solange sie wegen der attraktiven Spieler geschminkt und knapp bekleidet in Stadien und Public Viewings aufkreuzten – eine „Win-win-Situation, oder?“
Die laufende Fussball-Europameisterschaft der Männer verfolge ich kaum. Wenn, dann bei Freund*innen zu Hause. Ob ich Fussball mag, weiss ich nicht. Vielleicht, denke ich mir manchmal, würde ich das gerne herausfinden und mich mit dem Männerfussball versöhnen. Aber jede Zugfahrt, in der ich zufällig in der Nähe einer Männergruppe sitze, die ins Stadion fährt, hält mich davon ab.
Zwischen Nationalismus und Zugehörigkeit
Reden Linke über Fussballländerspiele, geht es jenseits der Kommerzialisierungsdiskussion häufig um die grundsätzliche Frage: Kann man einem Team unter nationaler Flagge zujubeln, ohne sich politisch ins Abseits zu manövrieren? Und ist es nicht weird, so viele Emotionen für 22 Millionäre aufzubringen?
Das laufende Turnier zeigt gerade wieder deutlich, wie im Dunstkreis eines vordergründigen Fussballfests Nationalist*innen aller Art Auftrieb erhalten. Beim Public Viewing in Arbon zeigen Schweizerfans den Hitlergruss, im österreichischen Block prangte im Spiel gegen Polen ein Banner, auf dem „Defend Europe“ steht – der Slogan der vereinten extremen Rechten gegen einen vermeintlichen Bevölkerungsaustausch.
Der türkische Nationalspieler Merih Demiral zeigte beim Torjubel den doppelten Wolfgruss der rechtsextremistischen türkischen „Ülkücü“-Bewegung, die auch „Graue Wölfe“ genannt wird und gegen Minderheiten in der Türkei hetzt. Die UEFA sperrte Demiral, aber beim nächsten Spiel der Türkei zeigten zahlreiche Fans den Gruss in den Zuschauendenrängen, bei den Public Viewings und auf der Strasse. Unter diesen Vorzeichen sind alevitische, kurdische und armenische Personen in diesen Räumen nicht mehr sicher. Dasselbe gilt für andere Minderheiten und Geflüchtete.
Die Kritik an patriotisch-nationalistischen Tendenzen ist also wichtig. Sie wird aber da abgehoben, wo sie sich nicht mehr für die Gründe interessiert, warum sich Menschen vom Massenphänomen Fussball mitreissen lassen.
Ob migrantische Communitys, die sich von der Schweizer Nationalmannschaft besser repräsentiert fühlen als von den Parlamenten, Quartiere, die gemeinsame Public Viewings organisieren, oder Leute, die einfach gerne nach der Arbeit unterhalten werden – sie allesamt als blinde Nationalist*innen abzutun, weil sie Granit Xhaka zujubeln, greift zu kurz.
Hypermaskulinität und Machtmissbrauch
Ins Zentrum linker Diskussionen sollten vielmehr die Fragen nach Zugänglichkeit und Sicherheit rücken. Es muss darum gehen, ob der öffentliche Raum, Public Viewings und Stadien Orte sind, an denen Männerfussball Menschen ausschliesst oder gefährdet.
Das ist im Besonderen deshalb so, weil Männerfussball als kulturelles Phänomen medial und im öffentlichen Raum unfassbar viel Raum einnimmt. Dieser Raum ist von einer Hypermaskulinität geprägt, die Frauen und Personen, die von den männlichen Fans als nicht-männlich wahrgenommen werden, im harmlosesten Fall ausschliesst und im schlimmsten Fall akut gefährdet.
Während Cristiano Ronaldo uns nach einem verschossenen Penalty aus den Live-Tickern und Matchberichten entgegenweint, hat er mutmasslich 2009 eine Vergewaltigung begangen und der Klägerin 375’000 Dollar Schweigegeld bezahlt. Ex-Partner*innen von Profifussballern berichten nach und nach immer häufiger von struktureller Gewalt in ihren Beziehungen. Das Model Katarzyna Lenhardt unterzeichnet nur 15 Tage vor ihrem Suizid einen Vertrag, der sie über mutmassliche Gewalt in ihrer Beziehung zum Fussballstar Jérôme Boateng zum Schweigen bringen soll. Bis heute ermittelt die zuständige Staatsanwaltschaft wegen Körperverletzung. Boateng wurde 2021 der Körperverletzung an seiner Ex, der Mutter seiner Kinder, für schuldig befunden. Aktuell läuft der Berufungsprozess.
Doch Machtmissbrauch und Gewalt gegen Spielerfrauen sind längst nicht alles. Sexismus und Misogynie sind im Männerfussball gerade im Fanbereich allgegenwärtig. Die englische Kampagne „Her Game Too“, die sich gegen strukturellen Sexismus im Sport einsetzt, kommt nach einer Umfrage bei fast 400 weiblichen Fans zum Schluss, dass 90 Prozent von ihnen irgendeine Form von Sexismus im Zusammenhang mit Fussball erlebt hatten, sei es im Stadion, in der Kneipe oder online.
Dass der Konnex Fussball und Gewalt weniger mit dem Sport als mit Männlichkeit zu tun hat, zeigt sich im Vergleich mit Frauenfussball. In einer Untersuchung der britischen Football Supporters’ Association (FSA) zeigt sich, dass sich die Fanerfahrung mit Sexismus, Belästigung und Gewalt während Frauenfussballspielen überdeutlich von jener an Männerspielen unterscheidet: Während Dreiviertel der Befragten (Frauen und genderqueere Personen), die Frauenfussballspiele besucht haben, noch nie mit sexistischem oder übergriffigem Verhalten konfrontiert waren, sind es beim Besuch von Männerspielen nur ein Drittel.
Aber nicht nur im Stadion setzt Männerfussball Frauen einer erheblichen, ganz konkreten Gefahr aus. Längst die Runde gemacht haben Studien aus England, die einen empirischen Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und Fussballspielen belegen, sowohl während Fussballländerspielen an grossen Turnieren als auch während Spielen der nationalen Liga. Im Zusammenhang mit den untersuchten Weltmeisterschaftsspielen zeigt sich: Das Risiko für häusliche Gewalt am Spieltag des Heimteams stieg jeweils um durchschnittlich 26 Prozent bei einem Sieg oder einem Unentschieden. Bei Niederlagen stieg das Risiko gar um durchschnittlich 38 Prozent.
Natürlich beschränkt sich dieses Problem nicht nur auf die Britischen Inseln. Eine Recherche des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sexualisierter Gewalt im Zusammenhang mit Männerfussballspielen verdeutlicht die Universalität des Zusammenhangs. Dass sich die Gewalt im Frauenfussball auf den Machtmissbrauch durch männliche Trainer konzentriert, passt dabei zu zwei unabhängigen statistischen Realitäten: Geht es um Gewalt gegen Frauen und sexuelle Belästigung, sind die gewaltausübenden Personen fast ausschliesslich Männer. Und: Kommen Männer in stark männlich geprägten Räumen zusammen, bleiben sexistische Verhaltensweisen und Haltungen oft unwidersprochen.
Keine offiziellen Zahlen
Wie sieht es in der Schweiz aus? Gemäss Bundesamt für Polizei (Fedpol) liegt die Erhebung von Zahlen zu sexualisierter und häuslicher Gewalt während Fussballspielen in Kantonskompetenz. Das Lamm hat bei der Stadt- und Kantonspolizei Zürich nachgefragt, ob die Zahl der häuslichen oder sexualisierten Gewalt während der EM gesteigen sei. Ihre Antwort lautete: Es werden keine Zahlen erhoben, die die empirische Untersuchung eines Zusammenhangs zwischen Fussball und Gewalt an Frauen möglich machen würden. Die von das Lamm angefragten Opferberatungsstellen und Schutzeinrichtungen beobachten ebenfalls keinen direkten Zusammenhang, verweisen aber auf ihre hohe Auslastung.
Es bleibt also vorerst nichts anderes, als sich auf persönliche Erfahrungen von Betroffenen zu verlassen und Anlaufstellen zu stärken. Denn der „dumme“ sexistische Witz in der Männergruppe beim Public Viewing ist nur der offensichtlichste Teil der Männergewalt.
Wie die Expertin für sexualisierte Gewalt, Agota Lavoyer, in ihrem neuen Buch darlegt, findet solches Verhalten in einem gesellschaftlichen Zusammenhang statt, der Vergewaltigungen und Femizide ermöglicht und sexualisierte Gewalt normalisiert. Oder anders gesagt: Sexualisierte Gewalt braucht immer auch ein Umfeld, das sie zulässt.
Wie ich es aktuell mit Männerfussball halte? Am vergangenen Wochenende habe ich bei einer Freundin zu Hause das Viertelfinalspiel der Schweiz gesehen. Beim Tor von Embolo habe ich laut gejubelt. Und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, dass ich Männerfussball tatsächlich mögen könnte.
Bis ich ein paar Stunden später am Bahnhof auf eine Gruppe grölender Männer in Schweizer Trikots traf und mich auf dem Perron von ihnen entfernte.
Mir wurde klar: Solange Männer nicht in der Lage sind, mit ihren Emotionen umzugehen, ohne den öffentlichen Raum für Frauen und genderqueere Personen (lebens-)bedrohlich zu machen, liegt es nicht an mir, mich mit Männerfussball zu versöhnen.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 14 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 988 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 490 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 238 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?