„Politik und Regierungen meinen, sich über Naturgesetze erheben zu können. Das ist Irrsinn“, sagt Philipp Gebhardt vom Kollektiv Solidarisch aus der Krise. Mit Aktionen vor den Standorten von Impfhersteller:innen wie Pfizer in Zürich Oerlikon wollen die Aktivist:innen des Kollektivs auf die verheerenden Folgen der nationalen Impfpolitik während einer globalen Pandemie aufmerksam machen.
Sie fordern eine Abkehr von Privatisierungen im Gesundheitssektor, eine Aufhebung der geistigen Eigentumsrechte und die Verstaatlichung der Pharmakonzerne. Nur so könne die Schweiz zu einer solidarischen – also einer globalen – Pandemiebekämpfung beitragen.
Globale Pandemie, nationale Lösungen
Isoliert betrachtet steht die Schweiz nicht schlecht da: Mitte April lockerte der Bundesrat die bisherigen Pandemiemassnahmen. Trotz zu hoher Inzidenzwerte wurden Restaurant-Terrassen geöffnet und auch Sport- sowie Kulturstätten können seither wieder besucht werden.
Scheinbar bewährte sich der „Schweizer Weg“ bis zum jetzigen Zeitpunkt: Die Anzahl der Neuansteckungen sinkt trotz Öffnungen. Parallel dazu legt die Schweiz beim Impfen einen Zahn zu: 17 Prozent der Bevölkerung sind, Stand 23. Mai 2021, vollständig geimpft. Ca. 32 Prozent der Bevölkerung haben mindestens eine Impfung erhalten.
Während es in anderen europäischen Ländern ähnlich aussieht wie in der Schweiz, besteht global betrachtet ein grosses Gefälle beim Stand der Impfungen. Auf dem afrikanischen Kontinent beispielsweise sind erst 1,6 Prozent geimpft.
Intransparente Impfstoffhorterin
„Es gibt einige wenige Konzerne, die den Impfstoff produzieren dürfen. Offensichtlich können sie nicht genug und nicht genug schnell Impfstoff für die Welt produzieren“, sagt Gabriela Hertig von der Fachabteilung Gesundheitspolitik bei Public Eye. Anfang 2021 hat sie für die NGO an der Ausarbeitung des Reports „Big Pharma takes it all“ mitgewirkt. Dieser zeigt das problematische Geschäftsmodell der Pharmakonzerne auf sowie die Strategien, die diese auch während der Covid-19-Krise zur Gewinnmaximierung anwenden, und stellt Forderungen an die Schweizer Politik für eine neue Gangart im Umgang mit Pharmakonzernen.
Während ein Grossteil der Menschen ärmerer Länder noch immer auf eine erste grössere Impfstofflieferung wartet, hat sich die Schweiz schon jetzt viermal mehr Impfstoffdosen gesichert, als sie zur kompletten Durchimpfung der Bevölkerung benötigen würde. Prozentual zur Bevölkerung hat die Schweiz nach Kanada die zweitmeisten Impfstoffdosen bestellt. Damit ist sie eines von 43 Ländern, die einen Überschuss aufweisen.
Dabei ist nicht bekannt, unter welchen Konditionen und zu welchem Preis die Deals mit den Hersteller:innenfirmen ausgehandelt wurden. Es bleibt unklar, ob sich die Firmen Vorteile ausgehandelt haben und welche Haftungsklauseln Teil der Deals sind. Im Vertrag zwischen der EU und AstraZeneca beispielsweise wurde festgelegt, dass der jeweilige Mitgliedsstaat einen allfälligen Schaden übernehmen muss, sollten die Hersteller:innen dafür eingeklagt werden. Ob diese hersteller:innenfreundliche Handhabung auch im Falle der Schweiz zutrifft und inwieweit die Schweiz Verpflichtungen eingeht, die auf längere Zeit die Monopolstellung der Konzerne stärkt, bleibt offen.
Auf Anfrage von das Lamm schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) mit Verweis auf das Öffentlichkeitsgesetz: „Es handelt sich dabei um vertrauliche vertragliche Vereinbarungen mit den Impfstoffherstellern. […] Eine Offenlegung der Vertragsdetails würde die Verhandlungsposition der Schweiz in weiteren Verhandlungen schwächen.“
Die Schweiz befindet sich mit anderen reichen Ländern im Wettkampf um die grössten Vorräte und die tiefsten Preise für den Impfstoff. Intransparenz ist dabei ein Zustand, der vor allem der Pharmaindustrie in die Hände spielt. In den Verhandlungen von Pfizer mit lateinamerikanischen Staaten über Haftungsklauseln beispielsweise sollen – so eine Recherche des britischen Magazins The Bureau of Investigative Journalism – „extreme Forderungen“ unter „drangsalierenden“ Zuständen vonseiten der Impfstoffhersteller:innen gestellt worden sein. Unter Geheimhaltung setzen die Firmen die Staaten unter massiven Druck und wollen sich dadurch die grössten Vorteile aushandeln.
Weder Patentschutz noch Zwangslizenzen
Um dem Impfnationalismus grundlegend etwas entgegenwirken und einen global gerechten Zugang zum Impfstoff möglich machen zu können, fordert Public Eye deshalb in ihrem Report unter anderem die Aufhebung der geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Technologien (TRIPS Waiver). Eine Forderung, die mittlerweile auch von den USA unterstützt wird.
Gabriela Hertig bewertet den Entschluss der USA positiv: „Es ist ein wichtiger erster Schritt.“ Nun sollte man meinen, dass dieser auch die Schweiz umstimmen sollte. Doch in einer ersten Erklärung signalisierte der Bund Ablehnung.
Ebenfalls kritisch sieht die Schweiz den Vorschlag der EU-Kommission, über die Welthandelsorganisation (WTO) auf Zwangslizenzen statt auf Patentaufhebungen zu setzen, um so die Patentinhaber zu zwingen, die Patentnutzung an andere Hersteller:innenfirmen weiterzugeben. Dieser Schritt wäre laut EU ein legitimes und wirkungsvolles Mittel.
Doch statt vorwärtszugehen und sich mit konkreten Handlungen auseinanderzusetzen, beschränkt sich das BAG auf das Erklären guter Absichten. Man werde die „Weitergabe von Impfstoffen an andere Länder prüfen“, vermeldete es in einem Kommuniqué Anfang Mai. Die grossen Impfstoffproduzenten machen ähnlich vage Aussagen. So schreibt Johnson & Johnson Schweiz auf Anfrage von das Lamm:
„Im September 2020 unterzeichnete Johnson & Johnson zusammen mit anderen Life-Sciences-Unternehmen und der Bill & Melinda Gates Foundation ein beispielloses Kommuniqué, in dem ein unerschütterliches Engagement für die Erleichterung eines gerechten Zugangs zu den Innovationen, die zur Bekämpfung der Pandemie entwickelt werden, dargelegt wurde.“
Hertig ist überzeugt: Das Verstecken hinter gut klingenden Absichtserklärungen des Bundes und die Aufrechterhaltung der geistigen Eigentumsrechte der Pharmakonzerne sind Ausdruck davon, dass die Pharmaindustrie die hiesige Politik massiv prägt. Weil die Schweizer Pharmaindustrie gut an der Pandemie verdient – Novartis unterstützt BioNTech und Pfizer und bald auch Curevac bei der Impfstoffproduktion, Lonza produziert den Impf-Wirkstoff von Moderna – kann sie den Druck auf den Bund auch weiterhin hochhalten.
Beliebte Argumente
Ein beliebtes Argument der Pharmakonzerne ist, dass es anderen potenziellen Hersteller:innenfirmen an Rohmaterialien und Expertise fehlen würde, sollten die geistigen Eigentumsrechte (u. a. Patente, Copyright, Industrial Design) fallen. „Das stimmt schlichtweg nicht“, meint Hertig. „Erstens ist mRNA eine bekannte Technologie, die auch in der Krebsforschung und ‑behandlung benutzt wird.“ Die wissenschaftliche Infrastruktur dafür sei vorhanden. Zudem seien viele Impfstoffproduzenten im globalen Süden stationiert.
Dass der Transfer der Technologie und des dafür notwendigen Wissens zur Herstellung von Impfstoffen möglich ist und etwa sechs Monate dauert, zeigen Forschungsergebnisse von Knowledge Ecology International.
Des Weiteren behaupten die Pharmakonzerne, dass es ohne geistige Eigentumsrechte wie die Patente gar nicht die nötige Innovation gegeben hätte, die zur Herstellung der Impfstoffe geführt hat. So schreibt Johnson & Johnson Schweiz auf Anfrage von das Lamm:
„Geistiges Eigentum war bei jedem Schritt unserer Reaktion auf diese Pandemie ein wesentlicher Faktor. Unsere Impfstoffentwicklung und die Partnerschaften, die uns helfen, das Angebot zu erweitern, wären ohne ein zuverlässiges System für geistiges Eigentum nicht möglich.“
Doch auch dieses Argument sei klar widerlegbar, meint Hertig : „Einverstanden bin ich damit, dass es grosse Innovationen sind, die Leben retten. Doch tun die Pharmakonzerne die Forschung dazu nicht selbst, sondern diese geschieht durch öffentliche Finanzierung an Universitäten (Grundlagenforschung zu mRNA-Technologie). Je nach Pharmaprodukt beträgt die öffentliche Finanzierung für Forschung- und Entwicklung bis zu 60 Prozent. Das sind riesige Summen an öffentlichen Geldern. Dass es ein Produkt gibt, ist also nicht nur der Verdienst der Pharmakonzerne.“
Wie viele Gelder die hiesigen Pharmakonzerne wirklich in Innovation investieren, bleibt offen. Deshalb fordert Public Eye, dass die Pharmakonzerne ihre tatsächlichen Forschungs- und Entwicklungskosten offenlegen sollen. „Ihre Selbstdeklarationen sind verglichen mit unabhängigen Schätzungen – nicht irgendwelche Meinungen, sondern solide wissenschaftliche Berechnungen – bis zu 40 Prozent höher. Das brauchen sie natürlich, um rechtfertigen zu können, weshalb die Preise so hoch sind.“
Auch Covax ist keine echte Lösung
Klar ist: Solange die geistigen Eigentumsrechte stehen, ändern auch Initiativen wie Covax nicht viel an der ungerechten globalen Verteilung der Impfstoffe.
Die Covax-Initiative, die im April 2020 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Europäischen Kommission und Frankreich ins Leben gerufen wurde und Teil der ACTA-Initiative (Access to Covid-19-Tools Accelerator) ist, funktioniert über Spenden der Mitgliedsländer. Dabei werden Impfstoffdosen bei den Konzernen gekauft, um dann in ärmere Länder verteilt zu werden.
Da die Schweiz und andere Länder ihre Prioritäten bei der nationalen Versorgung setzen, ist Covax unterfinanziert.
Doch mit Covax löse man das Problem des ungerechten Zugangs nicht, meint Gabriela Hertig: „Covax geht das Grundproblem der künstlichen Knappheit nicht an, die verursacht wird durch die geistigen Eigentumsrechte. Covax ist eigentlich in derselben Lage wie die Schweiz, die USA oder ein anderes reiches Land, weil es im Moment nicht mehr Produktionskapazitäten gibt. Das heisst, auch Covax muss auf Lieferungen warten.“
Da Covax wahrscheinlich tiefere Preise bezahle als reiche Länder, sei es für die Impfstoffhersteller:innen lukrativer, Deals mit reichen Ländern abzuschliessen, und diese werden wohl auch bevorzugt beliefert. Doch darüber gebe es keine transparenten Informationen, sagt Hertig.
Da Covax Philanthropie und einen von einigen wenigen Pharmakonzernen kontrollierten Markt aneinanderkoppelt, sei die Initiative keine echte Lösung. Trotzdem gelte es, Covax zu unterstützen.
Wirklich etwas bringen könnten aber zwei andere Initiativen, die das System ändern würden. Einerseits der sogenannte C‑Tap, ein Technologie-Transfer-Pool, der an die WHO angesiedelt ist. „Es gibt schon heute Technologie-Transfer-Pools für andere Krankheiten, zum Beispiel für HIV/AIDS, Hepatitis C und Tuberkulose. Es ist bekannt, dass dies möglich ist. Diejenigen, die das Wissen haben, würden es in diesen Pool geben und andere Produzent:innen könnten darauf zugreifen. Dabei handelt es sich nicht nur um Patente, sondern auch um anderes geistiges Eigentum und bisher unveröffentlichte Daten“, meint Hertig dazu.
Die Schweiz ist der Initiative bisher allerdings nicht beigetreten.
Die zweite Initiative ist der TRIPS Waiver, der von der WTO lanciert wurde. Mit diesem würden alle geistigen Eigentumsrechte für Covid-19-Technologien (Tests, Behandlungen, Impfungen) vorübergehend aufgehoben werden. Um nicht von der WTO sanktioniert zu werden, haben Südafrika und Indien schon im Oktober beantragt, dass für die Zeit der Pandemie die geistigen Eigentumsrechte ausgesetzt werden.
Darauf bezieht sich auch die von der USA Anfang Mai eingebrachte Forderung. Für die Schweiz kommt dies allerdings nicht infrage. Zu wichtig ist ihr die Monopolstellung der Pharmakonzerne.
Damit die geistigen Eigentumsrechte vorübergehend aufgehoben werden können, müssten die WTO-Mitglieder zu einem konsensualen Entschluss kommen. Der Schweiz als Pharmastandort kommt dabei grosse Verantwortung zu. Doch die Reaktionen auf den US-Entscheid zeigen einmal mehr, dass von der Schweiz in dieser Hinsicht nicht viel zu erwarten ist.
Auch von den von der EU vorgeschlagenen Zwangslizenzen, die die Firmen verpflichten würden, die Produktion in andere Länder auszuweiten, hält die Schweiz wenig. Stattdessen hält sie die freiwillige Vergabe von Lizenzen für den besseren Weg.
Was gilt es also zu tun?
Erstens: Aufklärungsarbeit leisten. Dazu bedarf es der Recherchen von NGOs wie Public Eye und deren Verbreitung.
Zweitens: Transparenz fordern. Ein erster Schritt dazu wäre, dass im Parlament ein Antrag auf Änderung des Öffentlichkeitsgesetzes gestellt würde. Dazu braucht es die politische Linke.
Drittens: Aufzeigen, dass die Schweiz Handlungsspielraum hätte. Zum Beispiel über die Patentaufhebung oder aber mit den Zwangslizenzen über die WTO. Oder indem sie eigene Impfstoffe Ländern mit wenig Bestand gratis zur Verfügung stellt. Welches der bessere Weg wäre, darüber muss eine Debatte geführt werden. Auch dafür braucht es die politische Linke.
Damit sich diese bewegt, muss – viertens – Druck von der Strasse über Aktionen vor den Standorten der Pharmakonzerne ausgeübt werden. Diese Strategie hat sich das Kollektiv Solidarisch aus der Krise auf die Fahnen geschrieben: „Wir haben uns als Kollektiv zusammengeschlossen, da es die Linke bis jetzt nicht geschafft hat, auf die grossen Missstände eine solidarische Antwort zu finden.“
Eine solidarische Antwort auf die Krise zu geben – die Schweiz hätte es in der Hand.
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