Globale Unter­stüt­zung für Geflüch­tete kollabiert

Welt­weit sind immer mehr Menschen auf der Flucht. Die gespro­chenen Hilfs­gelder reichen längst nicht mehr aus. Auch Ugandas inter­na­tional gelobte Politik für Geflüch­tete droht zu schei­tern. Gleich­zeitig ist die Aussicht, in einem Dritt­land in Sicher­heit zu gelangen, schlechter denn je. 
Die knappen Ressourcen für Geflüchtete in Uganda wirken sich auch auf die Unterkünfte im Camp Kyangwali aus. (Foto: Maria-Theres Schuler)

2015: Chri­stine Furaha stapelt Tomaten und Zwie­beln auf einer Plane. Wenn sie einen Verkauf abschliesst, nimmt sie mit ihrer von Brand­narben über­säten Hand eine kleine, durch­sich­tige Plastik­tüte, reibt sie an dem um ihre Taille gewickelten Tuch, öffnet sie mit den Lippen und bläst sie voll­ständig auf. Dann drückt sie die Tüte den Kund*innen in die Hand und füllt sie mit dem Gemüse.

Viele der Bewe­gungen, die Furaha am wöchent­li­chen Markttag im Camp für Geflüch­tete in Kyang­wali braucht, musste sie neu erlernen, nachdem sie bei einem bewaff­neten Über­fall in ihrem Herkunfts­land, der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kongo, ihren rechten Arm verloren hatte. Aber es war nicht nur die körper­liche Einschrän­kung, die ihr Leben verän­derte: „Ich wusste nicht, wie man einen Acker bebaut, aber als ich hierher ins Camp kam, musste ich es lernen.“ 

Dass Fuhara wöchent­lich auf dem Markt ihre Produkte verkaufen konnte, hat mit Ugandas Politik für Geflüch­tete zu tun – vor allem mit der Sied­lungs­po­litik: In 13 Sied­lungen stellt die ugan­di­sche Regie­rung Geflüch­teten Land zu Verfü­gung und ermög­licht den Menschen damit, sich selbst zu versorgen, sich wirt­schaft­lich zu inte­grieren und unab­hängig von huma­ni­tärer Hilfe zu werden.

Mitt­ler­weile hat sich das aber geän­dert. Für Fuhara zwei­fellos zum Schlech­teren: Heute haben sie und ihr Mann kein Land mehr.

Denn seit 2015 ist die Zahl der Geflüch­teten in Kyang­wali von 40’000 auf 130’000 Menschen ange­stiegen; in ganz Uganda von 500’000 auf über 1.5 Millionen. Was bedeutet das für Menschen wie Furaha und ganz allge­mein für Ugandas Politik gegen­über Geflüchteten?

Knappes Land

2023: Furaha sitzt im Schatten ihrer Lehm­hütte, während sie erzählt, dass sie ihr Feld vor fünf Jahren abgeben mussten. „Die neuen Geflüch­teten haben Armut gebracht“, sagt sie. Denn ohne Land könne sie auf dem Markt kein Geld mehr verdienen. Genau wie Furaha berichten auch andere Menschen in Kyang­wali davon, dass sie ihr Land ganz oder teil­weise aufgeben mussten.

Die Stimme von Tophious Chali dröhnt laut durch das Telefon, als das Lamm sie mit den Vorwürfen der Land­ab­gabe konfron­tiert: „Wer nimmt ihnen ihr Land weg? Alle Geflüch­teten haben das Recht auf 100 Prozent freien Zugang zu Land.“ Chali ist Komman­dantin der Sied­lung Kyang­wali. Ihr zufolge kann Kyang­wali zusätz­lich zu den rund 130’000 Geflüch­teten mehr als 70’000 Menschen beher­bergen. „Aber die Land­flä­chen, die wir vergeben, sind kleiner als früher“, fügt sie an.

Chri­stine Furaha im Jahr 2015 auf dem wöchent­li­chen Markt im Camp Kyang­wali. (Foto: Maria-Theres Schuler)

In der Zeit, in der in Kyang­wali weniger Geflüch­tete lebten und Land brachlag, bear­bei­teten manche auch Flächen, die ihnen nicht offi­ziell zuge­wiesen waren. “Es handelt sich dabei viel­leicht um Land, das sich die Leute einfach ange­eignet hatten”, meint Chali zu den Vorwürfen, dass Leute ihr Land abgeben mussten. 

Chali gibt am Telefon Auskunft, da sie die Land­ver­teil­ak­tion für neu ange­kom­mene Geflüch­tete, die an diesem Janu­artag seit fünf Uhr morgens in Kyang­wali läuft, bereits verlassen hat. Noch immer stehen Hunderte von Menschen in der Mittags­sonne Schlange, während Mitarbeiter*innen von huma­ni­tären Orga­ni­sa­tionen ihnen verschie­dene Güter aushän­digen: graue Decken, weisse Planen und gelbe Wasser­ka­ni­ster mit dem Logo des UNHCR, der UN-Agentur für Geflüch­tete; eine solar­be­trie­bene Taschen­lampe, eine Pfanne, eine Machete, Moski­to­netze, Seife, Matten, Becken und Kübel; für die Frauen zusätz­lich Hygie­ne­binden. Das alles stecken die Empfänger*innen in einen grossen Sack – sie sollen damit ihr neues Leben beginnen.

Die grössten Geldgeber*innen des UNHCR Uganda können mit dieser Erfolgs­ge­schichte ihre Ausla­ge­rungs­po­litik des Schutzes für Geflüch­tete recht­fer­tigen – und somit verhin­dern, dass mehr Menschen in Gebieten ausser­halb Afrikas Schutz beantragen.

Für diesen Neube­ginn steht ihnen jedoch viel weniger Land zu Verfü­gung, als das früher der Fall war: Sie erhalten eine Fläche von acht auf 15 Meter, während die zuge­teilten Grund­stücke 2015 noch 50 auf 100 Meter betrugen. 

Die aktu­ellen Grund­stücke sind laut der Bewer­tung einer huma­ni­tären Initia­tive zu klein, um auf ihnen ausrei­chend Lebens­mittel anbauen zu können. Eine Umfrage von WFP und UNHCR atte­stiert zudem, dass Geflüch­tete Teile ihres Landes an neu ange­kom­mene Geflüch­tete abtreten mussten. Ausserdem haben laut einem Früh­warn­sy­stem für Hungersnot insge­samt nur etwa 40 Prozent aller Geflüch­teten in den ugan­di­schen Sied­lungen über­haupt Zugang zu Anbau­flä­chen. Das ist umso proble­ma­ti­scher, seit das WFP die Lebens­mit­tel­ra­tionen für alle Geflüch­teten redu­ziert hat – auch für dieje­nigen ohne Zugang zu Land.

Seit dem Zweiten Welt­krieg waren noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Davon finden 74 Prozent Zuflucht in Ländern des Globalen Südens – also in Ländern, die deut­lich weniger Ressourcen haben als etwa die Schweiz. 

Uganda nimmt mit 1.5 Millionen die meisten Geflüch­teten unter afri­ka­ni­schen Ländern auf; welt­weit liegt das Land an fünfter Stelle. Gleich­zeitig haben huma­ni­täre Orga­ni­sa­tionen zu wenig Geld, um Menschen auf der Flucht zu unterstützen.

Was bedeutet diese Situa­tion für Menschen, die aufgrund einer Poli­o­er­kran­kung im Roll­stuhl sitzen oder die wegen Kriegs­hand­lungen Glied­massen verloren haben?

In einer drei­tei­ligen Serie geht das Lamm der Frage nach, wie Menschen mit körper­li­chen Beein­träch­ti­gungen – beson­ders verletz­liche Personen unter den Geflüch­teten – die aktu­elle Situa­tion im Kyang­wali Refugee Camp* in Uganda erleben, wo die Zahl der Geflüch­teten stetig steigt, während die Hilfs­gelder schwinden.

Die Recherche wurde finan­ziell durch den Medi­en­fonds „real21 — die Welt verstehen“ unter­stützt. Sie fand im Januar 2023 statt, die Autorin bezieht sich aber auch auf die Jahre 2015 und 2016, als sie zu diesem Thema im Kyang­wali Refugee Camp forschte.

* In Uganda wird zwischen Lagern (Camps) und Sied­lungen für Geflüch­tete unter­schieden: Erstere bieten keinen Zugang zu land­wirt­schaft­li­chen Flächen und in der Regel weniger Bewe­gungs­frei­heit. Da aber beide Struk­turen in der Art und Weise, wie sie Menschen orga­ni­sieren und kontrol­lieren, sehr ähnlich sind, verwenden wir in diesen Arti­keln beide Begriffe.

Ausla­ge­rungs­po­litik ohne genü­gend Unterstützung

„Is Uganda the best place to be a refugee?“, titelte der Guar­dian im Jahr 2016. Aber bereits damals, als es viel weniger Geflüch­tete und mehr finan­zi­elle Mittel gab, konnten sich Geflüch­tete in Uganda nicht wie vorge­sehen ohne huma­ni­täre Hilfe durch­schlagen. Nichts­de­sto­trotz steht Ugandas Modell, wo Geflüch­tete theo­re­tisch arbeiten, sich frei bewegen und selbst versorgen können, bis heute als Vorbild – auch aus Sicht des UNHCR.

Denn es ist eine poli­ti­sche Win-win-Situa­tion: Die grössten Geldgeber*innen des UNHCR Uganda, zu denen die USA und euro­päi­sche Länder zählen, können mit dieser Erfolgs­ge­schichte ihre Ausla­ge­rungs­po­litik des Schutzes für Geflüch­tete recht­fer­tigen – und somit verhin­dern, dass mehr Menschen in Gebieten ausser­halb Afrikas Schutz bean­tragen. Die ugan­di­sche Regie­rung hingegen kann von innen­po­li­ti­schen Problemen und Menschen­rechts­ver­let­zungen wie etwa dem harten Durch­greifen gegen Oppo­si­tio­nelle während der Wahl­kampf­zeit ablenken.

Hinzu kommt: Als das UNHCR sein ursprüng­li­ches Mandat des Rechts­schutzes für Geflüch­tete des Zweiten Welt­krieges geogra­fisch auswei­tete, verla­gerte sich auch der Fokus: Die Sied­lungs­po­litik war etwa begleitet von der Vorstel­lung, dass die „tradi­tio­nelle afri­ka­ni­sche Gast­freund­schaft“ zu „spon­taner“ lokaler Inte­gra­tion führen würde.

Auch nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs, der mehr als 11 Millionen Menschen in Europa zur Flucht zwang, finden noch immer 76 Prozent der welt­weit Geflüch­teten in Ländern des Globalen Südens Zuflucht. Fast die Hälfte der Menschen, die das UNHCR betreut, leben in nur 12 Ländern – darunter sind sechs afri­ka­ni­sche Staaten: Uganda, Demo­kra­ti­sche Repu­blik Kongo, Sudan, Äthio­pien, Südsudan und Tschad. 

Der Globale Norden wird aber nicht nur von einer sehr beschei­denen Zahl von Geflüch­teten aufge­sucht und erreicht, er unter­nimmt auch nur wenig, sie anderswo genü­gend zu unter­stützen: Denn in den oben genannten 12 Ländern waren die Programme des UNHCR im Jahr 2022 zu höch­stens 40 Prozent finan­ziert.

Das UNHCR schützt welt­weit Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Zurzeit geht man von mehr als 108.4 Millionen gewaltsam vertrie­benen Menschen aus. Das bedeutet, dass einer von 78 Menschen auf der Erde seinen gewöhn­li­chen Aufent­haltsort wegen bewaff­neter Konflikte, Gewalt, Menschen­rechts­ver­let­zungen oder Natur­ka­ta­stro­phen verlassen musste.

Darunter sind:

Binnen­ver­trie­bene: 62.5 Millionen. Menschen, die inner­halb inter­na­tional aner­kannter Staats­grenzen auf der Flucht sind.

Geflüch­tete: 35.3 Millionen. Menschen, die die Voraus­set­zungen einer geltenden Defi­ni­tion von Geflüch­teten erfüllen (Konven­tion für Geflüch­tete von 1951, andere inter­na­tio­nale oder regio­nale Instru­mente, UNHCR-Mandat, natio­nale Gesetz­ge­bungen).

Asyl­su­chende: 5.4 Millionen. Menschen, die inter­na­tio­nalen Schutz suchen und einen Antrag gestellt haben, als Geflüch­tete aner­kannt zu werden. 

Andere Personen, die inter­na­tio­nalen Schutzes bedürfen: 5.2 Millionen. Menschen, die gewaltsam vertrieben, aber nicht unter anderen Kate­go­rien (Asyl­su­chende, Geflüch­tete, Binnen­ver­trie­bene) gemeldet wurden.

„Es mangelt an allem“, sagt Tophious Chali, die Komman­dantin der Sied­lung Kyang­wali. Es würden anstatt dem Stan­dard von 20 Litern Wasser pro Person und Tag nur 13.5 Liter bereit­ge­stellt, erklärt sie. Und es fehle an Latrinen und Unter­künften für Menschen mit Behin­de­rungen, die diese nicht selbst bauen können.

„Uganda hat sich zur Aufnahme von Geflüch­teten bereit erklärt. Wir geben ihnen einen Ort, an dem sie bleiben können“, sagt Chali. Wegen der gekürzten Mittel könnten aber sowohl das World Food Program als auch das UNHCR nicht genü­gend Unter­stüt­zung leisten.

Wie das World Food Programme finan­ziert sich das UNHCR nicht durch Pflicht­bei­träge der UN-Mitglieds­länder, sondern durch frei­wil­lige Unter­stüt­zungs­gelder. Jahr um Jahr muss die Agentur um Mittel für ihre Arbeit bitten. In Uganda waren Ende Oktober 2023 nur 39 Prozent des vom UNHCR benö­tigten jähr­li­chen Landes­bud­gets verfügbar.

Während der Globale Norden Ugandas Politik gegen­über Geflüch­teten weiterhin roman­ti­siert, droht sie wegen fehlender inter­na­tio­naler Unter­stüt­zung zu zerbrechen.

Auch Frank Walus­imbi, Pres­se­spre­cher vom UNHCR Uganda, betont eine von vielen konkreten Auswir­kungen davon: „Wegen der Unter­fi­nan­zie­rung wurden seit dem 1. Juli 2022 keine Seifen- und Hygie­ne­kits mehr bereit­ge­stellt. Die wach­sende Lücke in der Hygiene- und Sani­tär­ver­sor­gung erhöht das Risiko, dass Menschen krank werden und sterben.“

Die offene Politik Ugandas gegen­über Geflüch­teten kann nur funk­tio­nieren, wenn die inter­na­tio­nale Gemein­schaft ihren Teil der Verant­wor­tung erfüllt. „Eine erhöhte gesi­cherte finan­zi­elle Unter­stüt­zung ist uner­läss­lich, um den wach­senden Bedarf zu decken“, sagt Walus­imbi. Er erwähnt den jüng­sten Konflikt im Sudan, wegen dem bereits über 10’000 Menschen in Uganda Zuflucht gesucht haben.

Obwohl Uganda zu den am wenig­sten wohl­ha­benden Ländern der Welt gehört: Kein anderes Land in Afrika nimmt so viele Geflüch­tete auf und kaum ein anderes welt­weit. Aber während der Globale Norden Ugandas Politik gegen­über Geflüch­teten weiterhin roman­ti­siert, droht sie wegen fehlender inter­na­tio­naler Unter­stüt­zung zu zerbrechen.

Das UNHCR und seine Part­ner­or­ga­ni­sa­tionen sind nicht mehr in der Lage, lebens­ret­tende Hilfe zu leisten, geschweige denn wirt­schaft­liche Möglich­keiten für die Geflüch­teten zu schaffen. Umso mehr wollen die Menschen in Kyang­wali vor allem eins: in die USA, nach Schweden oder Australien.

„Sieh dir mein Alter an, meine Behin­de­rung und das Essen, das ich zu mir nehme“, sagt Pierre Kare­mera, ein Mann aus Burundi, der seit seiner Kind­heit mit einer Gehbe­hin­de­rung lebt. „Wenn Gott mir hilft, komme ich hier raus. Damit ich wieder gesund werde.“ Kare­mera sitzt auf einer Bank vor seiner Hütte. Die drei Kinder, die sein drei­räd­riges Gefährt, ein Tricycle, zu seinem Haus geschoben haben, hat Kare­mera bereits wieder wegge­schickt. „Ich habe mich so lange um Resett­le­ment bemüht“, sagt er. „Aber die Vorgänge haben mich im Stich gelassen. Ich weiss nicht, was ich tun soll.“

Mit Resett­le­ment meint Kare­mera die Umsied­lung von beson­ders schutz­be­dürf­tigen Geflüch­teten in Länder des Globalen Nordens. Dieses Programm wird vom UNHCR in Zusam­men­ar­beit mit der Inter­na­tional Orga­nization of Migra­tion (IOM) und den Aufnah­me­län­dern orga­ni­siert. Damit gelangen die Geflüch­teten legal und sicher mit dem Flug­zeug anstatt unter Lebens­ge­fahr durch die Wüste oder in einem Schlauch­boot in das Aufnahmeland.

Die meisten Menschen, die wie Kare­mera aus Burundi geflohen sind, haben eigent­lich keine Chance auf Umsied­lung. In Uganda steht diese Möglich­keit haupt­säch­lich Kongoles*innen offen, die während einer bestimmten Zeit aus spezi­fi­schen Regionen des Kongo geflohen sind und sich deshalb in einer „lang anhal­tenden Situa­tion für Geflüch­tete“ befinden – also nicht bald in ihre Heimat zurück­zu­kehren können, sich aber auch im Aufnah­me­land nicht lang­fri­stig inte­grieren sollen. Denn selbst in Uganda mit einer der fort­schritt­lich­sten Politik ist nicht vorge­sehen, dass Geflüch­tete die ugan­di­sche Staatsbürger*innenschaft erhalten.

Es sind aber nur die wenig­sten, die von Resett­le­ment profi­tieren können. Im Jahr 2022 und in den Vorjahren hat das UNHCR gerade mal 0.2 Prozent der welt­weit Geflüch­teten durch dieses Programm neu ange­sie­delt. In Uganda erhielten letztes Jahr 1747 von rund 1.5 Millionen Geflüch­teten einen Resett­le­ment-Platz. Die Chance darauf lag also bei 0.1 Prozent.

Die Land­flä­chen, die Geflüch­tete im Sinne der Selbst­ver­sor­gung bewirt­schaften sollen, werden in Kyang­wali immer kleiner. (Foto: Maria-Theres Schuler)

Der fragile Traum vom besseren Leben

Nebst einer „lang anhal­tenden Situa­tion“ können auch andere Gründe die Tür für Resett­le­ment öffnen: bestimmte Schutz­be­lange, Heirat und Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung, medi­zi­ni­sche Gründe oder Diskri­mi­nie­rung. Vor allem aus medi­zi­ni­schen Gründen haben Menschen mit Behin­de­rungen eher die Chance, einen der raren Resett­le­ment-Plätze zu ergattern.

Ihre Hoff­nungen auf ein Leben in einem Land wie den USA oder der Schweiz drehen sich entspre­chend stark um ihre Behin­de­rung: Sie erwarten eine bessere medi­zi­ni­sche Versor­gung und tech­ni­sche Hilfs­mittel wie Prothesen, um arbeiten und sich ein besseres Leben aufbauen zu können. Und ein besseres Leben kann nur schon bedeuten, Strom zu haben.

„Wenn ich keine Nach­richten hören kann, fällt es mir schwer, einzu­schlafen“, sagt Kare­mera. Oft kann er sich die Batte­rien für sein Radio nicht leisten. Ihm liegt es aber sehr am Herzen, sich über die poli­ti­sche Lage in der Region der Grossen Seen zu infor­mieren. Denn sein ganzes Leben lang war er immer wieder auf der Flucht: erst aus Burundi, dann aus Ruanda, später aus dem Kongo.

Seit er 2003 im Camp Kyang­wali ange­kommen ist, hat er alles versucht, um in einem anderen Land ange­sie­delt zu werden. Er erzählt von einem UNHCR-Mitar­beiter, der seine Resett­le­ment-Akte betreut, ihn aber ange­logen hätte. Dieser Mitar­beiter sei versetzt worden und habe Kare­meras Akte an eine neue Person weiter­ge­geben. „Danach habe ich gewartet. Bis 2007.“  Kare­meras Kontakt­person wurde wieder versetzt, neue kamen und gingen. „Ich habe mich wieder darum bemüht, fragte nach meiner Akte und wir haben sie erneut eingereicht.“

Es sind Mitar­bei­tende des UNHCR, die entscheiden, wer auf den Resett­le­ment-Listen landet. Aber der Prozess ist lang­wierig, die Mitarbeiter*innen wech­seln wie in Kare­meras Fall häufig. Und es sind nicht nur die Krite­rien des UNHCR, die bestimmen, welche Geflüch­teten für die Umsied­lung in Erwä­gung kommen. Auch die Aufnah­me­länder legen fest, welche Kate­go­rien von Geflüch­teten sie akzep­tieren. Manche Länder wollen zum Beispiel nur gefähr­dete Minder­jäh­rige, Über­le­bende von Gewalt und Folter oder schutz­be­dürf­tige Frauen und Mädchen aufnehmen.

Für die Betrof­fenen ist der Prozess enorm undurch­sichtig. „Jetzt bin ich hier und weiss nicht, was los ist. Ich bin einfach hier“, sagt Kare­mera. Seine Skepsis gegen­über den Verant­wort­li­chen beim UNHCR kommt aber nicht von unge­fähr. Immer wieder kamen in den vergan­genen Jahren Fälle ans Licht, bei denen Geflüch­tete mit anderen Natio­na­li­täten sowie Ugander*innen sich falsche Iden­ti­täten oder neue Biogra­fien kauften und dafür Tausende von Dollars an UNHCR-Mitar­bei­tende und die Vermittler*innen zahlten.

Die Schweiz hat das UNHCR in den letzten Jahren mit zwischen 40 und 60 Millionen Dollar unter­stützt. Als Vergleich: Norwegen, Monaco, Luxem­burg und Däne­mark gaben pro Kopf jeweils mehr als das Drei- oder Vier­fache davon aus, Schweden und Lich­ten­stein mehr als das Doppelte.

Seit 2013 betei­ligt sich die Schweiz zudem am Resett­le­ment-Programm des UNHCR – und nahm zwischen 500 und 1000 Menschen pro Jahr auf. Für 2022 und 2023 hat sie sich dazu verpflichtet, 1’820 Geflüch­tete aufzu­nehmen. Es handelt sich dabei vor allem um Frauen, Kinder oder Menschen mit gesund­heit­li­chen Einschrän­kungen, die aus Afgha­ni­stan, Syrien und dem Sudan kommen.

Ende letzten Jahres hat das Justiz­de­par­te­ment unter Karin Keller-Sutter jedoch entschieden, das Resett­le­ment-Programm ab 2023 April zu sistieren, weil das Asyl­sy­stem wegen der rund 74’000 ukrai­ni­schen Geflüch­teten über­la­stet sei. Unter Justiz­mi­ni­sterin Elisa­beth Baume-Schneider hat der Bundesrat im Juni 2023 grünes Licht gegeben, das Resett­le­ment-Programm in den Jahren 2024 und 2025 im bishe­rigen Umgang fort­zu­setzen – solange ausrei­chend Kapa­zi­täten vorhanden sind. Im Moment ist das anschei­nend nicht der Fall, die Sistie­rung ist bislang noch nicht aufgehoben.

Hoff­nung in einem Umschlag

Resett­le­ment ermög­licht es Staaten wie der Schweiz oder Irland, die Verant­wor­tung mit denje­nigen Ländern zu teilen, die eine grosse Zahl von Geflüch­teten aufnehmen. Doch die Bereit­schaft, diese Verant­wor­tung wahr­zu­nehmen, nimmt drastisch ab, obwohl mit 108.4 Millionen noch nie so viele Menschen auf der Flucht waren wie heute: Zwischen 2013 und 2017 wurden welt­weit knapp 420’000 Geflüch­tete umge­sie­delt, zwischen 2018 und 2022 waren es knapp 240’000.

Auch wenn die Möglich­keiten schwinden, über Resett­le­ment legal und sicher in ein anderes Land zu gelangen: Die Hoff­nung von Menschen wie Kare­mera hält an.

Er berichtet, wie im Rahmen eines Hilfs­pro­jekts Besucher*innen aus Finn­land vorbei­kamen, um sich die Auffüh­rungen einer Projekt­thea­ter­gruppe von Menschen mit Behin­de­rungen anzu­sehen und Videos und Fotos zu machen. „Zwei dieser Frauen inter­viewten mich und fragten, welche Hilfe ich am ehesten bräuchte. Ich sagte ihnen, wenn sie mir helfen wollen, sollen sie mich nach Europa bringen. Später kamen zwei andere weisse Männer und brachten mir ein Geschenk aus Finn­land in diesem Umschlag. Sie sagten mir, ich solle diese Papiere behalten. Ich weiss nicht, ob diese Papiere mich nach Europa bringen.“

Kare­mera zieht einen braunen Umschlag aus einem Stapel von Papieren neben seiner Matratze hervor und nimmt einen Zeitungs­ar­tikel in finni­scher Sprache und einige Fotos von sich selbst heraus. Offen­kundig haben ihm diese Blätter bisher nicht dabei geholfen, in ein euro­päi­sches Land umge­sie­delt zu werden.

Diese Recherche wurde finan­ziell durch den Medi­en­fonds „real21 — die Welt verstehen“ unter­stützt. Wir danken!


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 72 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 4004 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel