2015: Christine Furaha stapelt Tomaten und Zwiebeln auf einer Plane. Wenn sie einen Verkauf abschliesst, nimmt sie mit ihrer von Brandnarben übersäten Hand eine kleine, durchsichtige Plastiktüte, reibt sie an dem um ihre Taille gewickelten Tuch, öffnet sie mit den Lippen und bläst sie vollständig auf. Dann drückt sie die Tüte den Kund*innen in die Hand und füllt sie mit dem Gemüse.
Viele der Bewegungen, die Furaha am wöchentlichen Markttag im Camp für Geflüchtete in Kyangwali braucht, musste sie neu erlernen, nachdem sie bei einem bewaffneten Überfall in ihrem Herkunftsland, der Demokratischen Republik Kongo, ihren rechten Arm verloren hatte. Aber es war nicht nur die körperliche Einschränkung, die ihr Leben veränderte: „Ich wusste nicht, wie man einen Acker bebaut, aber als ich hierher ins Camp kam, musste ich es lernen.“
Dass Fuhara wöchentlich auf dem Markt ihre Produkte verkaufen konnte, hat mit Ugandas Politik für Geflüchtete zu tun – vor allem mit der Siedlungspolitik: In 13 Siedlungen stellt die ugandische Regierung Geflüchteten Land zu Verfügung und ermöglicht den Menschen damit, sich selbst zu versorgen, sich wirtschaftlich zu integrieren und unabhängig von humanitärer Hilfe zu werden.
Mittlerweile hat sich das aber geändert. Für Fuhara zweifellos zum Schlechteren: Heute haben sie und ihr Mann kein Land mehr.
Denn seit 2015 ist die Zahl der Geflüchteten in Kyangwali von 40’000 auf 130’000 Menschen angestiegen; in ganz Uganda von 500’000 auf über 1.5 Millionen. Was bedeutet das für Menschen wie Furaha und ganz allgemein für Ugandas Politik gegenüber Geflüchteten?
Knappes Land
2023: Furaha sitzt im Schatten ihrer Lehmhütte, während sie erzählt, dass sie ihr Feld vor fünf Jahren abgeben mussten. „Die neuen Geflüchteten haben Armut gebracht“, sagt sie. Denn ohne Land könne sie auf dem Markt kein Geld mehr verdienen. Genau wie Furaha berichten auch andere Menschen in Kyangwali davon, dass sie ihr Land ganz oder teilweise aufgeben mussten.
Die Stimme von Tophious Chali dröhnt laut durch das Telefon, als das Lamm sie mit den Vorwürfen der Landabgabe konfrontiert: „Wer nimmt ihnen ihr Land weg? Alle Geflüchteten haben das Recht auf 100 Prozent freien Zugang zu Land.“ Chali ist Kommandantin der Siedlung Kyangwali. Ihr zufolge kann Kyangwali zusätzlich zu den rund 130’000 Geflüchteten mehr als 70’000 Menschen beherbergen. „Aber die Landflächen, die wir vergeben, sind kleiner als früher“, fügt sie an.
In der Zeit, in der in Kyangwali weniger Geflüchtete lebten und Land brachlag, bearbeiteten manche auch Flächen, die ihnen nicht offiziell zugewiesen waren. “Es handelt sich dabei vielleicht um Land, das sich die Leute einfach angeeignet hatten”, meint Chali zu den Vorwürfen, dass Leute ihr Land abgeben mussten.
Chali gibt am Telefon Auskunft, da sie die Landverteilaktion für neu angekommene Geflüchtete, die an diesem Januartag seit fünf Uhr morgens in Kyangwali läuft, bereits verlassen hat. Noch immer stehen Hunderte von Menschen in der Mittagssonne Schlange, während Mitarbeiter*innen von humanitären Organisationen ihnen verschiedene Güter aushändigen: graue Decken, weisse Planen und gelbe Wasserkanister mit dem Logo des UNHCR, der UN-Agentur für Geflüchtete; eine solarbetriebene Taschenlampe, eine Pfanne, eine Machete, Moskitonetze, Seife, Matten, Becken und Kübel; für die Frauen zusätzlich Hygienebinden. Das alles stecken die Empfänger*innen in einen grossen Sack – sie sollen damit ihr neues Leben beginnen.
Für diesen Neubeginn steht ihnen jedoch viel weniger Land zu Verfügung, als das früher der Fall war: Sie erhalten eine Fläche von acht auf 15 Meter, während die zugeteilten Grundstücke 2015 noch 50 auf 100 Meter betrugen.
Die aktuellen Grundstücke sind laut der Bewertung einer humanitären Initiative zu klein, um auf ihnen ausreichend Lebensmittel anbauen zu können. Eine Umfrage von WFP und UNHCR attestiert zudem, dass Geflüchtete Teile ihres Landes an neu angekommene Geflüchtete abtreten mussten. Ausserdem haben laut einem Frühwarnsystem für Hungersnot insgesamt nur etwa 40 Prozent aller Geflüchteten in den ugandischen Siedlungen überhaupt Zugang zu Anbauflächen. Das ist umso problematischer, seit das WFP die Lebensmittelrationen für alle Geflüchteten reduziert hat – auch für diejenigen ohne Zugang zu Land.
Seit dem Zweiten Weltkrieg waren noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Davon finden 74 Prozent Zuflucht in Ländern des Globalen Südens – also in Ländern, die deutlich weniger Ressourcen haben als etwa die Schweiz.
Uganda nimmt mit 1.5 Millionen die meisten Geflüchteten unter afrikanischen Ländern auf; weltweit liegt das Land an fünfter Stelle. Gleichzeitig haben humanitäre Organisationen zu wenig Geld, um Menschen auf der Flucht zu unterstützen.
Was bedeutet diese Situation für Menschen, die aufgrund einer Polioerkrankung im Rollstuhl sitzen oder die wegen Kriegshandlungen Gliedmassen verloren haben?
In einer dreiteiligen Serie geht das Lamm der Frage nach, wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen – besonders verletzliche Personen unter den Geflüchteten – die aktuelle Situation im Kyangwali Refugee Camp* in Uganda erleben, wo die Zahl der Geflüchteten stetig steigt, während die Hilfsgelder schwinden.
Die Recherche wurde finanziell durch den Medienfonds „real21 — die Welt verstehen“ unterstützt. Sie fand im Januar 2023 statt, die Autorin bezieht sich aber auch auf die Jahre 2015 und 2016, als sie zu diesem Thema im Kyangwali Refugee Camp forschte.
* In Uganda wird zwischen Lagern (Camps) und Siedlungen für Geflüchtete unterschieden: Erstere bieten keinen Zugang zu landwirtschaftlichen Flächen und in der Regel weniger Bewegungsfreiheit. Da aber beide Strukturen in der Art und Weise, wie sie Menschen organisieren und kontrollieren, sehr ähnlich sind, verwenden wir in diesen Artikeln beide Begriffe.
Auslagerungspolitik ohne genügend Unterstützung
„Is Uganda the best place to be a refugee?“, titelte der Guardian im Jahr 2016. Aber bereits damals, als es viel weniger Geflüchtete und mehr finanzielle Mittel gab, konnten sich Geflüchtete in Uganda nicht wie vorgesehen ohne humanitäre Hilfe durchschlagen. Nichtsdestotrotz steht Ugandas Modell, wo Geflüchtete theoretisch arbeiten, sich frei bewegen und selbst versorgen können, bis heute als Vorbild – auch aus Sicht des UNHCR.
Denn es ist eine politische Win-win-Situation: Die grössten Geldgeber*innen des UNHCR Uganda, zu denen die USA und europäische Länder zählen, können mit dieser Erfolgsgeschichte ihre Auslagerungspolitik des Schutzes für Geflüchtete rechtfertigen – und somit verhindern, dass mehr Menschen in Gebieten ausserhalb Afrikas Schutz beantragen. Die ugandische Regierung hingegen kann von innenpolitischen Problemen und Menschenrechtsverletzungen wie etwa dem harten Durchgreifen gegen Oppositionelle während der Wahlkampfzeit ablenken.
Hinzu kommt: Als das UNHCR sein ursprüngliches Mandat des Rechtsschutzes für Geflüchtete des Zweiten Weltkrieges geografisch ausweitete, verlagerte sich auch der Fokus: Die Siedlungspolitik war etwa begleitet von der Vorstellung, dass die „traditionelle afrikanische Gastfreundschaft“ zu „spontaner“ lokaler Integration führen würde.
Auch nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs, der mehr als 11 Millionen Menschen in Europa zur Flucht zwang, finden noch immer 76 Prozent der weltweit Geflüchteten in Ländern des Globalen Südens Zuflucht. Fast die Hälfte der Menschen, die das UNHCR betreut, leben in nur 12 Ländern – darunter sind sechs afrikanische Staaten: Uganda, Demokratische Republik Kongo, Sudan, Äthiopien, Südsudan und Tschad.
Der Globale Norden wird aber nicht nur von einer sehr bescheidenen Zahl von Geflüchteten aufgesucht und erreicht, er unternimmt auch nur wenig, sie anderswo genügend zu unterstützen: Denn in den oben genannten 12 Ländern waren die Programme des UNHCR im Jahr 2022 zu höchstens 40 Prozent finanziert.
Das UNHCR schützt weltweit Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Zurzeit geht man von mehr als 108.4 Millionen gewaltsam vertriebenen Menschen aus. Das bedeutet, dass einer von 78 Menschen auf der Erde seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort wegen bewaffneter Konflikte, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen oder Naturkatastrophen verlassen musste.
Darunter sind:
Binnenvertriebene: 62.5 Millionen. Menschen, die innerhalb international anerkannter Staatsgrenzen auf der Flucht sind.
Geflüchtete: 35.3 Millionen. Menschen, die die Voraussetzungen einer geltenden Definition von Geflüchteten erfüllen (Konvention für Geflüchtete von 1951, andere internationale oder regionale Instrumente, UNHCR-Mandat, nationale Gesetzgebungen).
Asylsuchende: 5.4 Millionen. Menschen, die internationalen Schutz suchen und einen Antrag gestellt haben, als Geflüchtete anerkannt zu werden.
Andere Personen, die internationalen Schutzes bedürfen: 5.2 Millionen. Menschen, die gewaltsam vertrieben, aber nicht unter anderen Kategorien (Asylsuchende, Geflüchtete, Binnenvertriebene) gemeldet wurden.
„Es mangelt an allem“, sagt Tophious Chali, die Kommandantin der Siedlung Kyangwali. Es würden anstatt dem Standard von 20 Litern Wasser pro Person und Tag nur 13.5 Liter bereitgestellt, erklärt sie. Und es fehle an Latrinen und Unterkünften für Menschen mit Behinderungen, die diese nicht selbst bauen können.
„Uganda hat sich zur Aufnahme von Geflüchteten bereit erklärt. Wir geben ihnen einen Ort, an dem sie bleiben können“, sagt Chali. Wegen der gekürzten Mittel könnten aber sowohl das World Food Program als auch das UNHCR nicht genügend Unterstützung leisten.
Wie das World Food Programme finanziert sich das UNHCR nicht durch Pflichtbeiträge der UN-Mitgliedsländer, sondern durch freiwillige Unterstützungsgelder. Jahr um Jahr muss die Agentur um Mittel für ihre Arbeit bitten. In Uganda waren Ende Oktober 2023 nur 39 Prozent des vom UNHCR benötigten jährlichen Landesbudgets verfügbar.
Auch Frank Walusimbi, Pressesprecher vom UNHCR Uganda, betont eine von vielen konkreten Auswirkungen davon: „Wegen der Unterfinanzierung wurden seit dem 1. Juli 2022 keine Seifen- und Hygienekits mehr bereitgestellt. Die wachsende Lücke in der Hygiene- und Sanitärversorgung erhöht das Risiko, dass Menschen krank werden und sterben.“
Die offene Politik Ugandas gegenüber Geflüchteten kann nur funktionieren, wenn die internationale Gemeinschaft ihren Teil der Verantwortung erfüllt. „Eine erhöhte gesicherte finanzielle Unterstützung ist unerlässlich, um den wachsenden Bedarf zu decken“, sagt Walusimbi. Er erwähnt den jüngsten Konflikt im Sudan, wegen dem bereits über 10’000 Menschen in Uganda Zuflucht gesucht haben.
Obwohl Uganda zu den am wenigsten wohlhabenden Ländern der Welt gehört: Kein anderes Land in Afrika nimmt so viele Geflüchtete auf und kaum ein anderes weltweit. Aber während der Globale Norden Ugandas Politik gegenüber Geflüchteten weiterhin romantisiert, droht sie wegen fehlender internationaler Unterstützung zu zerbrechen.
Das UNHCR und seine Partnerorganisationen sind nicht mehr in der Lage, lebensrettende Hilfe zu leisten, geschweige denn wirtschaftliche Möglichkeiten für die Geflüchteten zu schaffen. Umso mehr wollen die Menschen in Kyangwali vor allem eins: in die USA, nach Schweden oder Australien.
Resettlement: Legal und sicher in ein Drittland
„Sieh dir mein Alter an, meine Behinderung und das Essen, das ich zu mir nehme“, sagt Pierre Karemera, ein Mann aus Burundi, der seit seiner Kindheit mit einer Gehbehinderung lebt. „Wenn Gott mir hilft, komme ich hier raus. Damit ich wieder gesund werde.“ Karemera sitzt auf einer Bank vor seiner Hütte. Die drei Kinder, die sein dreirädriges Gefährt, ein Tricycle, zu seinem Haus geschoben haben, hat Karemera bereits wieder weggeschickt. „Ich habe mich so lange um Resettlement bemüht“, sagt er. „Aber die Vorgänge haben mich im Stich gelassen. Ich weiss nicht, was ich tun soll.“
Mit Resettlement meint Karemera die Umsiedlung von besonders schutzbedürftigen Geflüchteten in Länder des Globalen Nordens. Dieses Programm wird vom UNHCR in Zusammenarbeit mit der International Organization of Migration (IOM) und den Aufnahmeländern organisiert. Damit gelangen die Geflüchteten legal und sicher mit dem Flugzeug anstatt unter Lebensgefahr durch die Wüste oder in einem Schlauchboot in das Aufnahmeland.
Die meisten Menschen, die wie Karemera aus Burundi geflohen sind, haben eigentlich keine Chance auf Umsiedlung. In Uganda steht diese Möglichkeit hauptsächlich Kongoles*innen offen, die während einer bestimmten Zeit aus spezifischen Regionen des Kongo geflohen sind und sich deshalb in einer „lang anhaltenden Situation für Geflüchtete“ befinden – also nicht bald in ihre Heimat zurückzukehren können, sich aber auch im Aufnahmeland nicht langfristig integrieren sollen. Denn selbst in Uganda mit einer der fortschrittlichsten Politik ist nicht vorgesehen, dass Geflüchtete die ugandische Staatsbürger*innenschaft erhalten.
Es sind aber nur die wenigsten, die von Resettlement profitieren können. Im Jahr 2022 und in den Vorjahren hat das UNHCR gerade mal 0.2 Prozent der weltweit Geflüchteten durch dieses Programm neu angesiedelt. In Uganda erhielten letztes Jahr 1747 von rund 1.5 Millionen Geflüchteten einen Resettlement-Platz. Die Chance darauf lag also bei 0.1 Prozent.
Der fragile Traum vom besseren Leben
Nebst einer „lang anhaltenden Situation“ können auch andere Gründe die Tür für Resettlement öffnen: bestimmte Schutzbelange, Heirat und Familienzusammenführung, medizinische Gründe oder Diskriminierung. Vor allem aus medizinischen Gründen haben Menschen mit Behinderungen eher die Chance, einen der raren Resettlement-Plätze zu ergattern.
Ihre Hoffnungen auf ein Leben in einem Land wie den USA oder der Schweiz drehen sich entsprechend stark um ihre Behinderung: Sie erwarten eine bessere medizinische Versorgung und technische Hilfsmittel wie Prothesen, um arbeiten und sich ein besseres Leben aufbauen zu können. Und ein besseres Leben kann nur schon bedeuten, Strom zu haben.
„Wenn ich keine Nachrichten hören kann, fällt es mir schwer, einzuschlafen“, sagt Karemera. Oft kann er sich die Batterien für sein Radio nicht leisten. Ihm liegt es aber sehr am Herzen, sich über die politische Lage in der Region der Grossen Seen zu informieren. Denn sein ganzes Leben lang war er immer wieder auf der Flucht: erst aus Burundi, dann aus Ruanda, später aus dem Kongo.
Seit er 2003 im Camp Kyangwali angekommen ist, hat er alles versucht, um in einem anderen Land angesiedelt zu werden. Er erzählt von einem UNHCR-Mitarbeiter, der seine Resettlement-Akte betreut, ihn aber angelogen hätte. Dieser Mitarbeiter sei versetzt worden und habe Karemeras Akte an eine neue Person weitergegeben. „Danach habe ich gewartet. Bis 2007.“ Karemeras Kontaktperson wurde wieder versetzt, neue kamen und gingen. „Ich habe mich wieder darum bemüht, fragte nach meiner Akte und wir haben sie erneut eingereicht.“
Es sind Mitarbeitende des UNHCR, die entscheiden, wer auf den Resettlement-Listen landet. Aber der Prozess ist langwierig, die Mitarbeiter*innen wechseln wie in Karemeras Fall häufig. Und es sind nicht nur die Kriterien des UNHCR, die bestimmen, welche Geflüchteten für die Umsiedlung in Erwägung kommen. Auch die Aufnahmeländer legen fest, welche Kategorien von Geflüchteten sie akzeptieren. Manche Länder wollen zum Beispiel nur gefährdete Minderjährige, Überlebende von Gewalt und Folter oder schutzbedürftige Frauen und Mädchen aufnehmen.
Für die Betroffenen ist der Prozess enorm undurchsichtig. „Jetzt bin ich hier und weiss nicht, was los ist. Ich bin einfach hier“, sagt Karemera. Seine Skepsis gegenüber den Verantwortlichen beim UNHCR kommt aber nicht von ungefähr. Immer wieder kamen in den vergangenen Jahren Fälle ans Licht, bei denen Geflüchtete mit anderen Nationalitäten sowie Ugander*innen sich falsche Identitäten oder neue Biografien kauften und dafür Tausende von Dollars an UNHCR-Mitarbeitende und die Vermittler*innen zahlten.
Die Schweiz hat das UNHCR in den letzten Jahren mit zwischen 40 und 60 Millionen Dollar unterstützt. Als Vergleich: Norwegen, Monaco, Luxemburg und Dänemark gaben pro Kopf jeweils mehr als das Drei- oder Vierfache davon aus, Schweden und Lichtenstein mehr als das Doppelte.
Seit 2013 beteiligt sich die Schweiz zudem am Resettlement-Programm des UNHCR – und nahm zwischen 500 und 1000 Menschen pro Jahr auf. Für 2022 und 2023 hat sie sich dazu verpflichtet, 1’820 Geflüchtete aufzunehmen. Es handelt sich dabei vor allem um Frauen, Kinder oder Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, die aus Afghanistan, Syrien und dem Sudan kommen.
Ende letzten Jahres hat das Justizdepartement unter Karin Keller-Sutter jedoch entschieden, das Resettlement-Programm ab 2023 April zu sistieren, weil das Asylsystem wegen der rund 74’000 ukrainischen Geflüchteten überlastet sei. Unter Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider hat der Bundesrat im Juni 2023 grünes Licht gegeben, das Resettlement-Programm in den Jahren 2024 und 2025 im bisherigen Umgang fortzusetzen – solange ausreichend Kapazitäten vorhanden sind. Im Moment ist das anscheinend nicht der Fall, die Sistierung ist bislang noch nicht aufgehoben.
Hoffnung in einem Umschlag
Resettlement ermöglicht es Staaten wie der Schweiz oder Irland, die Verantwortung mit denjenigen Ländern zu teilen, die eine grosse Zahl von Geflüchteten aufnehmen. Doch die Bereitschaft, diese Verantwortung wahrzunehmen, nimmt drastisch ab, obwohl mit 108.4 Millionen noch nie so viele Menschen auf der Flucht waren wie heute: Zwischen 2013 und 2017 wurden weltweit knapp 420’000 Geflüchtete umgesiedelt, zwischen 2018 und 2022 waren es knapp 240’000.
Auch wenn die Möglichkeiten schwinden, über Resettlement legal und sicher in ein anderes Land zu gelangen: Die Hoffnung von Menschen wie Karemera hält an.
Er berichtet, wie im Rahmen eines Hilfsprojekts Besucher*innen aus Finnland vorbeikamen, um sich die Aufführungen einer Projekttheatergruppe von Menschen mit Behinderungen anzusehen und Videos und Fotos zu machen. „Zwei dieser Frauen interviewten mich und fragten, welche Hilfe ich am ehesten bräuchte. Ich sagte ihnen, wenn sie mir helfen wollen, sollen sie mich nach Europa bringen. Später kamen zwei andere weisse Männer und brachten mir ein Geschenk aus Finnland in diesem Umschlag. Sie sagten mir, ich solle diese Papiere behalten. Ich weiss nicht, ob diese Papiere mich nach Europa bringen.“
Karemera zieht einen braunen Umschlag aus einem Stapel von Papieren neben seiner Matratze hervor und nimmt einen Zeitungsartikel in finnischer Sprache und einige Fotos von sich selbst heraus. Offenkundig haben ihm diese Blätter bisher nicht dabei geholfen, in ein europäisches Land umgesiedelt zu werden.
Diese Recherche wurde finanziell durch den Medienfonds „real21 — die Welt verstehen“ unterstützt. Wir danken!
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 72 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 4004 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 2520 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 1224 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?