Zum Glück war Wilhelm Tell bewaffnet. Mit seiner Armbrust schoss er Sohn Walterli den Apfel vom Kopf, stellte den Gessler bloss, bevor er ihn etwas später — ebenfalls per Armbrust — richtete. So machte Tell die Schweizerinnen und Schweizer zu freien Bürger*innen — besagt die Legende. Heute steht eine Organisation im Namen des mythischen Freiheitskämpfers für ein liberales Waffenrecht in der Schweiz ein.
Pro Tell kämpft an vorderster Front gegen jede geplante oder potenzielle Verschärfung des Waffenrechts in der Schweiz. Der Mythos Tell hat Ableger, der fremde Vogt wurde durch die EU abgelöst — und diese gilt es eines Besseren zu belehren. Nicht mittels Armbrust, sondern mittels Referendum.
Die Abstimmung hinsichtlich der Übernahme der EU-Waffenrichtlinien vom 19. Mai ist schon längst keine Abstimmung über ein relativ einfaches Sachgeschäft mehr. Vielmehr handelt es sich um eine Abstimmung über vermeintliche Urschweizer Werte wie die Freiheit und eben — damit einhergehend — den Waffenbesitz. Zumindest, wenn es nach den Gegner*innen der Vorlage geht. Waffen, so liest man in den letzten Wochen immer wieder, sind Teil der Schweizer Identität. Daraus folgt: Wer den Waffenbesitz antastet, begeht somit einen direkten Angriff auf die Demokratie und auf die Wehrhaftigkeit der freien Bürger*innen.
„[Nein am 19. Juni,] weil wir als mündige und verantwortungsvolle Bürger diskreditiert und eines zentralen Freiheitsrechts beraubt werden”, schreibt etwa das von Pro Tell geleitete Komitee EU-Diktat-Nein auf dessen Website und weiter: „Schengen ist nicht in Gefahr, deine Freiheit hingegen schon.” Harter Tobak.
Doch sind Waffen wirklich Teil der Urschweizer Identität? Nein, sagt der Historiker Matthieu Leimgruber dezidiert und fügt an: „Die Bewaffnung der Zivilbevölkerung war zu jedem Zeitpunkt eine politische Entscheidung, Teil des staatspolitischen Konzepts und auch nicht so alt, wie manchmal suggeriert wird.”
Die bewaffnete Bevölkerung also nicht als Gegengewicht zur Elite samt Machtmonopol? Richtig, sagt Leimgruber: „Die Bewaffnung war top-down orchestriert und staatspolitisch geplant.”
Mit der Waffe in der Hand für das und dank dem Vaterland
Die Geschichte der Eidgenossenschaft gibt dem Historiker recht: Seinen frühsten, dokumentierten Beginn hat das Schützenwesen in der Schweiz im Spätmittelalter. Adelige und Gutbetuchte führten Schützenveranstaltungen und Übungen mit Bogen und Armbrust durch — für die Bauern und das Fussvolk waren Waffen weder erschwinglich noch zugänglich. Mit dem Aufkommen von Feuerwaffen im 15. Jahrhundert wechselte die Verantwortung für die Organisation solcher Anlässe vom Adel zur Staatsobrigkeit. Sie entschied nun über Planung und Durchführung von Schiessübungen und Veranstaltungen, an der wiederum nur ein kleiner, reicher Teil der Zivilbevölkerung teilnehmen durfte. Schiessveranstaltungen wurden auch als Teil der Bündnis- und Versöhnungspolitik genutzt und dienten in seltenen Fällen, etwa im Rahmen von Paraden, der Demonstration von militärischer Stärke in den Städten.
Mit der wachsenden kriegstechnischen Bedeutung von Feuerwaffen ab dem 16. Jahrhundert begann wiederum die Regierung mit dem Aufbau von Milizen, für deren Schiessausbildung zunehmend die Schützenverbände in die Pflicht genommen wurden — sie handelten also im Auftrag des Staates, erhielten dafür aber weitreichende Privilegien und Sonderrechte, sowie eigene Lokalitäten, die Schützenhäuser, und geeignete Schiessplätze.
Mit dem Untergang der alten Eidgenossenschaft erfuhr auch das organisierte Schützenwesen einen Unterbruch, gewann aber Anfang des 19. Jahrhunderts wieder an Bedeutung. Nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1848 wurde in der Militärreorganisation von 1874 auch die ausserdienstliche Schiesspflicht durchgesetzt und die Schützenvereine mit der Durchführung der Schiessübungen betraut. Den Schützenvereinen kam dabei eine staatspolitische und paramilitärische, delegierte Position zu. „Diese Traditionen werden als organisch verkauft — aber sie existieren nicht aus dem Nichts, sondern sind staatsorganisiert. Es ist paradox, denn ohne denn Staat keine Waffentradition”, so Leimgruber.
Die vielbeschworene Volksbewaffnung oder bewaffnete Zivilbevölkerung, der wehrhafte Kern, bestand zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Während des ersten Weltkrieges hatte der Schweizer Staat angefangen, Taschenmunition an die Bevölkerung zu verteilen, um diese wehrhaft zu machen. Mit den verschärften sozialen Konflikten, die nach dem Krieg entbrannten und im Landesstreik 1918 ihre Entladung fanden, wurde diese Staatsausgabe jedoch wiedereingestellt, wie Historiker Leimgruber erklärt: „Eine bewaffnete Zivilbevölkerung erschien nun gefährlich.”
Mit dem Koreakrieg 1951 und den steigenden Spannungen des Kalten Kriegs fand die Volksbewaffnung als staatspolitisches Sicherheitskonzept wieder Anklang. „Die beiden Weltkriege und die Bedrohung im Kalten Krieg haben weniger das Bedürfnis nach einer bewaffneten Zivilbevölkerung wachgerufen, als vielmehr den Sinn für eine strikte Neutralität und eine entsprechend starke militärische Verteidigung geschärft”, sagt der Militärhistoriker Bruno Lezzi. Die Idee war also, mithilfe einer bewaffneten Zivilbevölkerung unangreifbar und dennoch bündnisfrei zu bleiben — eine rein illusorische Idee.
„Die amerikanischen Geheimdienstberichte von 1950 sagen, die Schweiz würde vielleicht zehn Tage kämpfen gegen die Russen, dann würden sie fallen”, erzählt Leimgruber. Ähnlich verhält es sich mit den sicherheitspolitischen Einschätzungen anderer Geheimdienste. „Aber man hatte die Idee dieser Insel in Mitteleuropa, die sich selber verteidigen könnte — das war eine staatstragende Idee” — für manche bis heute.
In dieser Hinsicht ist die bewaffnete Bevölkerung also durchaus etwas Mythenhaftes, vergleichbar etwa mit dem Kriegsplan rund um das Réduit im zweiten Weltkrieg: „Das Réduit hat nie eine strategische Rolle gespielt”, sagt Leimgruber. „Aber es war ein Teil der Geschichte der Schweiz im zweiten Weltkrieg, die Idee, dass man sich retten könnte. Realpolitisch wurde jedoch ganz anders agiert.” — „Der Volksbewaffnung kam aus sicherheitspolitischer Sicht keine Bedeutung zu”, sagt auch der Militärhistoriker und Generalstabsoffizier Bruno Lezzi.
So gingen mit dem Ende des Kalten Kriegs auch die Mitgliederzahlen der Schiessverbände zurück. Ab den 1970er Jahren fand diese männlich bestimmte Vorstellung einer Einheit von Bürger und Soldat immer weniger Widerhall. Nachdem der Bundesrat die Pflichtmitgliedschaft in einem Schützenverein 1996 aufgehoben hatte, fielen die Mitgliederzahlen endgültig auf ein bis heute bestehendes tiefes Level. Ähnlich erging es entsprechend der Anzahl Waffen.
Die Zeiten, in denen die meisten Männer in der Schweiz eine Dienstwaffe zu Hause hatten, sind nun endgültig vorbei. Doch noch immer sind mehr als 2,5 Millionen Gewehre und Pistolen im Privatbesitz. Auf 100 Einwohner*innen kommen rund 25 Waffen, diese sind jedoch nicht gleichmässig verteilt. In den meisten Schweizer Haushalten hat es keine Waffen, in wenigen dafür umso mehr. „Generell ist der Waffenbesitz stark milieuabhängig”, sagt Leimgruber.
Anfang des Jahrhunderts hatten noch 40% der Männer in der Schweiz die Militärwaffe zuhause, heute sind es noch 10%. Die Parameter ändern sich schnell. „Die Menschen sehen die Waffe zuhause mehr als ein Problem denn als eine Chance”, sagt Leimgruber, und: „Daraus ergibt sich dann die Folgerung: Auch wer hobbymässig schiesst, muss die Waffe ja nicht zwingend bei sich aufbewahren.”
Geschichtsromantisierung und überholte Männerbilder
Die beiden Schlagworte im Abstimmungskampf lauten „freiheitsfeindlich” und „antischweizerisch”. Beides ist Augenwischerei. Leimgruber: „Man hat in der Schweizer Waffendiskussion der letzten Jahre die individuelle Freiheit in den Vordergrund gestellt, aber das ist ein absolutes Novum, es war bis Ende des 20. Jahrhunderts kein Thema — Waffen waren staatstragend Pflicht, nicht mehr und nicht weniger. Das ist jetzt aber plötzlich nicht mehr so.” Was soll denn die Identifizierung mit dem Waffenbesitz? „Es ist eine Mythologie der Selbstverteidigung. Aber für innenpolitische Zwecke war es wichtig, es hat die Gesellschaft strukturiert, auch die Männlichkeit in der Schweiz ein Stück weit mitdefiniert”, sagt der Historiker. Und Bruno Lezzi resümiert: „Im Vordergrund steht ein Freiheits- und Souveränitätsverständnis, das mit einem möglichst freien Zugang zu Waffen verbunden wird. In den gleichen Zusammenhang gehören aber auch überholte Bilder von der Geschichte der Entstehung der Eidgenossenschaft. Vielfach wollen gewisse Teile der Gegnerschaft Fakten, die ihre Vorurteile ins Wanken brächte, einfach nicht zur Kenntnis nehmen.”
Aufgrund der herrschenden Differenzen um ein Rahmenabkommen mit der EU würde von den Gegner*innen einer Waffenrechtsrevision jede von der EU initiierte Regelung als willkommenes Argument für ihre Ziele eingesetzt, sagt Letzi.
Gut möglich also, dass sich diejenigen, die sich heute für den Erhalt freiheitlicher Waffenrechte einsetzen — allen Statistiken und Fakten zu Schusswaffentoten, Schaden und Nutzen einer bewaffneten Bevölkerung zum Trotz — auf etwas ganz anderes beziehen als auf die Waffen per se. Pro Tell hat einem Interview zwar zuerst zugesagt, entsprechende E‑Mails und Anrufe dann jedoch ignoriert beziehungsweise weggedrückt. Eine Stellungnahme von Seiten der Organisation steht bis dato aus.
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