Helvetia, deine Waffen: Zwischen Mytho­logie und Staatsverdikt

Am 19. Mai stimmt die Schweizer Stimm­be­völ­ke­rung über die Ände­rung der Waffen­rechts­richt­li­nien im Sinne des Schengen-Abkom­mens mit der EU ab. Obwohl die geplanten Ände­rungen nur minimal sind, beschwören die Gegner*innen der Geset­zes­än­de­rung ein dysto­pi­sches Szenario der Volks­ent­waff­nung und Frei­heits­be­rau­bung herauf. Dabei vergessen sie, dass Waffen in der Schweiz noch nie ein Instru­ment der wehr­haften Massen darge­stellt haben. 
Wilhelm Tell als Urschweizer Ikone der Volksbewaffnung? Ob es den wehrhaften Schützen so überhaupt gegeben hat, ist eher unwahrscheinlich. Klar dagegen ist: Bei der Abstimmung vom 19. Mai steht mehr auf dem Spiel - etwa der automatische Informationsaustausch mit Schengen. ((c) Wikicommons)

Zum Glück war Wilhelm Tell bewaffnet. Mit seiner Armbrust schoss er Sohn Walterli den Apfel vom Kopf, stellte den Gessler bloss, bevor er ihn etwas später — eben­falls per Armbrust — rich­tete. So machte Tell die Schwei­ze­rinnen und Schweizer zu freien Bürger*innen — besagt die Legende. Heute steht eine Orga­ni­sa­tion im Namen des mythi­schen Frei­heits­kämp­fers für ein libe­rales Waffen­recht in der Schweiz ein.

Pro Tell kämpft an vorder­ster Front gegen jede geplante oder poten­zi­elle Verschär­fung des Waffen­rechts in der Schweiz. Der Mythos Tell hat Ableger, der fremde Vogt wurde durch die EU abge­löst — und diese gilt es eines Besseren zu belehren. Nicht mittels Armbrust, sondern mittels Referendum.

Die Abstim­mung hinsicht­lich der Über­nahme der EU-Waffen­richt­li­nien vom 19. Mai ist schon längst keine Abstim­mung über ein relativ einfa­ches Sach­ge­schäft mehr. Viel­mehr handelt es sich um eine Abstim­mung über vermeint­liche Urschweizer Werte wie die Frei­heit und eben — damit einher­ge­hend — den Waffen­be­sitz. Zumin­dest, wenn es nach den Gegner*innen der Vorlage geht. Waffen, so liest man in den letzten Wochen immer wieder, sind Teil der Schweizer Iden­tität. Daraus folgt: Wer den Waffen­be­sitz anta­stet, begeht somit einen direkten Angriff auf die Demo­kratie und auf die Wehr­haf­tig­keit der freien Bürger*innen.

„[Nein am 19. Juni,] weil wir als mündige und verant­wor­tungs­volle Bürger diskre­di­tiert und eines zentralen Frei­heits­rechts beraubt werden”, schreibt etwa das von Pro Tell gelei­tete Komitee EU-Diktat-Nein auf dessen Website und weiter: „Schengen ist nicht in Gefahr, deine Frei­heit hingegen schon.” Harter Tobak.

Doch sind Waffen wirk­lich Teil der Urschweizer Iden­tität? Nein, sagt der Histo­riker Matthieu Leim­gruber dezi­diert und fügt an: „Die Bewaff­nung der Zivil­be­völ­ke­rung war zu jedem Zeit­punkt eine poli­ti­sche Entschei­dung, Teil des staats­po­li­ti­schen Konzepts und auch nicht so alt, wie manchmal sugge­riert wird.”

Die bewaff­nete Bevöl­ke­rung also nicht als Gegen­ge­wicht zur Elite samt Macht­mo­nopol? Richtig, sagt Leim­gruber: „Die Bewaff­nung war top-down orche­striert und staats­po­li­tisch geplant.”

Mit der Waffe in der Hand für das und dank dem Vaterland

Die Geschichte der Eidge­nos­sen­schaft gibt dem Histo­riker recht: Seinen früh­sten, doku­men­tierten Beginn hat das Schüt­zen­wesen in der Schweiz im Spät­mit­tel­alter. Adelige und Gutbe­tuchte führten Schüt­zen­ver­an­stal­tungen und Übungen mit Bogen und Armbrust durch — für die Bauern und das Fuss­volk waren Waffen weder erschwing­lich noch zugäng­lich. Mit dem Aufkommen von Feuer­waffen im 15. Jahr­hun­dert wech­selte die Verant­wor­tung für die Orga­ni­sa­tion solcher Anlässe vom Adel zur Staats­ob­rig­keit. Sie entschied nun über Planung und Durch­füh­rung von Schiess­übungen und Veran­stal­tungen, an der wiederum nur ein kleiner, reicher Teil der Zivil­be­völ­ke­rung teil­nehmen durfte. Schiess­ver­an­stal­tungen wurden auch als Teil der Bündnis- und Versöh­nungs­po­litik genutzt und dienten in seltenen Fällen, etwa im Rahmen von Paraden, der Demon­stra­tion von mili­tä­ri­scher Stärke in den Städten.

Mit der wach­senden kriegs­tech­ni­schen Bedeu­tung von Feuer­waffen ab dem 16. Jahr­hun­dert begann wiederum die Regie­rung mit dem Aufbau von Milizen, für deren Schiess­aus­bil­dung zuneh­mend die Schüt­zen­ver­bände in die Pflicht genommen wurden — sie handelten also im Auftrag des Staates, erhielten dafür aber weit­rei­chende Privi­le­gien und Sonder­rechte, sowie eigene Loka­li­täten, die Schüt­zen­häuser, und geeig­nete Schiessplätze.

Mit dem Unter­gang der alten Eidge­nos­sen­schaft erfuhr auch das orga­ni­sierte Schüt­zen­wesen einen Unter­bruch, gewann aber Anfang des 19. Jahr­hun­derts wieder an Bedeu­tung. Nach Einfüh­rung der allge­meinen Wehr­pflicht 1848 wurde in der Mili­tär­re­or­ga­ni­sa­tion von 1874 auch die ausser­dienst­liche Schiess­pflicht durch­ge­setzt und die Schüt­zen­ver­eine mit der Durch­füh­rung der Schiess­übungen betraut. Den Schüt­zen­ver­einen kam dabei eine staats­po­li­ti­sche und para­mi­li­tä­ri­sche, dele­gierte Posi­tion zu. „Diese Tradi­tionen werden als orga­nisch verkauft — aber sie existieren nicht aus dem Nichts, sondern sind staats­or­ga­ni­siert. Es ist paradox, denn ohne denn Staat keine Waffen­tra­di­tion”, so Leimgruber.

Die viel­be­schwo­rene Volks­be­waff­nung oder bewaff­nete Zivil­be­völ­ke­rung, der wehr­hafte Kern, bestand zu diesem Zeit­punkt noch nicht.

Während des ersten Welt­krieges hatte der Schweizer Staat ange­fangen, Taschen­mu­ni­tion an die Bevöl­ke­rung zu verteilen, um diese wehr­haft zu machen. Mit den verschärften sozialen Konflikten, die nach dem Krieg entbrannten und im Landes­streik 1918 ihre Entla­dung fanden, wurde diese Staats­aus­gabe jedoch wieder­ein­ge­stellt, wie Histo­riker Leim­gruber erklärt: „Eine bewaff­nete Zivil­be­völ­ke­rung erschien nun gefährlich.”

Mit dem Korea­krieg 1951 und den stei­genden Span­nungen des Kalten Kriegs fand die Volks­be­waff­nung als staats­po­li­ti­sches Sicher­heits­kon­zept wieder Anklang. „Die beiden Welt­kriege und die Bedro­hung im Kalten Krieg haben weniger das Bedürfnis nach einer bewaff­neten Zivil­be­völ­ke­rung wach­ge­rufen, als viel­mehr den Sinn für eine strikte Neutra­lität und eine entspre­chend starke mili­tä­ri­sche Vertei­di­gung geschärft”, sagt der Mili­tär­hi­sto­riker Bruno Lezzi. Die Idee war also, mithilfe einer bewaff­neten Zivil­be­völ­ke­rung unan­greifbar und dennoch bünd­nis­frei zu bleiben — eine rein illu­so­ri­sche Idee.

„Die ameri­ka­ni­schen Geheim­dienst­be­richte von 1950 sagen, die Schweiz würde viel­leicht zehn Tage kämpfen gegen die Russen, dann würden sie fallen”, erzählt Leim­gruber. Ähnlich verhält es sich mit den sicher­heits­po­li­ti­schen Einschät­zungen anderer Geheim­dienste. „Aber man hatte die Idee dieser Insel in Mittel­eu­ropa, die sich selber vertei­digen könnte — das war eine staats­tra­gende Idee” — für manche bis heute.

In dieser Hinsicht ist die bewaff­nete Bevöl­ke­rung also durchaus etwas Mythen­haftes, vergleichbar etwa mit dem Kriegs­plan rund um das Réduit im zweiten Welt­krieg: „Das Réduit hat nie eine stra­te­gi­sche Rolle gespielt”, sagt Leim­gruber. „Aber es war ein Teil der Geschichte der Schweiz im zweiten Welt­krieg, die Idee, dass man sich retten könnte. Real­po­li­tisch wurde jedoch ganz anders agiert.” — „Der Volks­be­waff­nung kam aus sicher­heits­po­li­ti­scher Sicht keine Bedeu­tung zu”, sagt auch der Mili­tär­hi­sto­riker und Gene­ral­stabs­of­fi­zier Bruno Lezzi.

So gingen mit dem Ende des Kalten Kriegs auch die Mitglie­der­zahlen der Schiess­ver­bände zurück. Ab den 1970er Jahren fand diese männ­lich bestimmte Vorstel­lung einer Einheit von Bürger und Soldat immer weniger Wider­hall. Nachdem der Bundesrat die Pflicht­mit­glied­schaft in einem Schüt­zen­verein 1996 aufge­hoben hatte, fielen die Mitglie­der­zahlen endgültig auf ein bis heute bestehendes tiefes Level. Ähnlich erging es entspre­chend der Anzahl Waffen.

Die Zeiten, in denen die meisten Männer in der Schweiz eine Dienst­waffe zu Hause hatten, sind nun endgültig vorbei. Doch noch immer sind mehr als 2,5 Millionen Gewehre und Pistolen im Privat­be­sitz. Auf 100 Einwohner*innen kommen rund 25 Waffen, diese sind jedoch nicht gleich­mässig verteilt. In den meisten Schweizer Haus­halten hat es keine Waffen, in wenigen dafür umso mehr. „Gene­rell ist der Waffen­be­sitz stark milieu­ab­hängig”, sagt Leimgruber.

Anfang des Jahr­hun­derts hatten noch 40% der Männer in der Schweiz die Mili­tär­waffe zuhause, heute sind es noch 10%. Die Para­meter ändern sich schnell. „Die Menschen sehen die Waffe zuhause mehr als ein Problem denn als eine Chance”, sagt Leim­gruber, und: „Daraus ergibt sich dann die Folge­rung: Auch wer hobby­mässig schiesst, muss die Waffe ja nicht zwin­gend bei sich aufbewahren.”

Geschichts­ro­man­ti­sie­rung und über­holte Männerbilder

Die beiden Schlag­worte im Abstim­mungs­kampf lauten „frei­heits­feind­lich” und „anti­schwei­ze­risch”. Beides ist Augen­wi­scherei. Leim­gruber: „Man hat in der Schweizer Waffen­dis­kus­sion der letzten Jahre die indi­vi­du­elle Frei­heit in den Vorder­grund gestellt, aber das ist ein abso­lutes Novum, es war bis Ende des 20. Jahr­hun­derts kein Thema — Waffen waren staats­tra­gend Pflicht, nicht mehr und nicht weniger. Das ist jetzt aber plötz­lich nicht mehr so.” Was soll denn die Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Waffen­be­sitz? „Es ist eine Mytho­logie der Selbst­ver­tei­di­gung. Aber für innen­po­li­ti­sche Zwecke war es wichtig, es hat die Gesell­schaft struk­tu­riert, auch die Männ­lich­keit in der Schweiz ein Stück weit mitde­fi­niert”, sagt der Histo­riker. Und Bruno Lezzi resü­miert: „Im Vorder­grund steht ein Frei­heits- und Souve­rä­ni­täts­ver­ständnis, das mit einem möglichst freien Zugang zu Waffen verbunden wird. In den glei­chen Zusam­men­hang gehören aber auch über­holte Bilder von der Geschichte der Entste­hung der Eidge­nos­sen­schaft. Viel­fach wollen gewisse Teile der Gegner­schaft Fakten, die ihre Vorur­teile ins Wanken brächte, einfach nicht zur Kenntnis nehmen.”

Aufgrund der herr­schenden Diffe­renzen um ein Rahmen­ab­kommen mit der EU würde von den Gegner*innen einer Waffen­rechts­re­vi­sion jede von der EU initi­ierte Rege­lung als will­kom­menes Argu­ment für ihre Ziele einge­setzt, sagt Letzi.

Gut möglich also, dass sich dieje­nigen, die sich heute für den Erhalt frei­heit­li­cher Waffen­rechte einsetzen — allen Stati­stiken und Fakten zu Schuss­waf­fen­toten, Schaden und Nutzen einer bewaff­neten Bevöl­ke­rung zum Trotz —  auf etwas ganz anderes beziehen als auf die Waffen per se. Pro Tell hat einem Inter­view zwar zuerst zuge­sagt, entspre­chende E‑Mails und Anrufe dann jedoch igno­riert bezie­hungs­weise wegge­drückt. Eine Stel­lung­nahme von Seiten der Orga­ni­sa­tion steht bis dato aus.


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