Mein Büchervorrat neigte sich langsam dem Ende zu. Ich brauchte also neuen Stoff, das Portemonnaie war aber wieder mal leer. So machte ich mich auf den Weg ins Brockenhaus Hiob zwischen der malerischen Altstadt Murtens und dem Auspuff der Nation, der A1. Gleich dort, wo 1476 Karl der Kühne angeblich seinen Mut verlor, als die Berner die Burgunder blau und grün schlugen.
Der geneigte Bücher-Recycler findet darin so einiges, was er gar nicht sucht: Geschirr, Gläser und Elektrogerät reihen sich an Wasserskis, Plastikpflanzen und Campingstühle. Ich teste gerade die Funktionstüchtigkeit eines Walkmans WM F204, als ich die Bibliothek entdecke: Stiller, Faust, Hiob – Hiob? Verdutzt greife ich nach dem Buch, 1930 verfasst von Joseph Roth. Roth ist mir ein Begriff. Hiob ebenfalls. Aber die Kombination dieser beiden ist mir neu. Und da das Werk den gleichen Namen trägt wie das Brockenhaus, kaufe ich es unverzüglich. Für einen Franken.
Eine teuflische Provokation
Hiob ist ursprünglich die biblische Geschichte eines wohlhabenden und frommen Familienvaters aus dem Land Uz. Der Teufel zweifelt vor Gott dessen Frömmigkeit an. Einzig Hiobs bekömmliche Lebensumstände würden es ihm erlauben, sich so fromm zu geben. Diese Provokation lässt Gott nicht auf sich sitzen. Kurzerhand gewährt er dem Teufel, Hiob zu prüfen. So nimmt der Teufel dessen Besitz, Kinder und Gesundheit. Doch anstatt Gott aufgrund der Schicksalsschläge zu verteufeln, hält Hiob ihm die Treue. Folglich wird Hiob wieder gesund und Vater von sieben weiteren Kindern. So der Urstoff von Roths Erzählung.
Der österreichische Autor verpflanzt diese alttestamentarische Überlieferung an den Anfang des 20. Jahrhunderts. Sein Hiob lebt in einem kleinen Dorf im zaristischen Russland und heisst Mendel Singer. „Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude.“ Zu gewöhnlich für seine Frau Deborah, die ihn verachtet: „Viel zu gering war Mendel Singer in ihren Augen. Die Kinder warf sie ihm vor, die Schwangerschaft, die Teuerung, die niedrigen Honorare und oft sogar das schlechte Wetter.“
Die ehelichen Streitigkeiten bleiben aber nicht lange Mendels grösste Sorgen. In kurzen Abständen ereilt ihn eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Sein neugeborener Sohn, Menuchim, leidet an Epilepsie. Sein ältester Sohn wird entgegen den Glaubensvorstellungen der Familie ins Militär eingezogen. Sein zweitältester Sohn entrinnt diesem Schicksal nur, indem er nach Amerika flieht.
Und als sich seine Tochter dann noch mit einem Kosaken einlässt, beschliesst Mendel, ebenfalls in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Der Preis für die Überfahrt ist jedoch hoch. Denn aus Angst, der gebrechliche Menuchim könnte die Strapazen der Überfahrt nicht überleben, lassen Mendel und Deborah ihn in der Heimat zurück.
Amerika als Ausweg?
Schon die Ankunft im Hafen von New York deutet an, dass sie die Schicksalsschläge nicht würden hinter sich lassen können: „Alle Gerüche vermengten sich im heissen Brodem, der ihm entgegenschlug, mit dem Lärm, der seine Ohren erfüllte und seinen Schädel sprengen wollte. Bald wusste er nicht mehr, was zu hören, zu sehen, zu riechen war. Er lächelte immer noch und nickte mit dem Kopfe. Amerika drang auf ihn ein, Amerika zerbrach ihn, Amerika zerschmetterte ihn. Nach einigen Minuten wurde er ohnmächtig.“
Schliesslich verliert er seine beiden ältesten Söhne im Ersten Weltkrieg und seine Tochter an den Wahnsinn. Zu viel für seine Frau, die ebenfalls stirbt. Anders als der ‚richtige‘ Hiob kehrt sich Mendel in seiner Verzweiflung von Gott ab: „Mendel hat den Tod, Mendel hat den Wahnsinn, Mendel hat den Hunger, alle Gaben Gottes hat Mendel. Aus, aus, aus ist es mit Mendel Singer.“ Und doch wendet sich das Schicksal noch zum Guten: Der von ihm zurückgelassene Sohn Menuchim, mittlerweile ein erfolgreicher Dirigent, sucht seinen Vater in New York auf und nimmt ihn in seine Arme.
Amerika damals – und heute?
Roth zeigt uns ein Amerika, das endlos weit von den heutigen USA entfernt scheint. Keine Spur von einem Toupet, welches die Welt über Twitter teilt und in Moskau sein Geschäft verrichtet. Klar: Das Amerika des Fortschritts kommt uns auch heute noch reichlich bekannt vor – mit all dem Leistungsdruck, dem oberflächlichen Glanz und der Angepasstheit: „Die Amerikaner waren gesund, die Amerikanerinnen schön, der Sport wichtig, die Zeit kostbar, die Armut ein Laster, der Reichtum ein Verdienst, die Tugend der halbe Erfolg, der Glaube an sich selbst ein ganzer, [...] Anarchismus ein Verbrechen, [...] moderne Maschinen Segen des Himmels [...]. Bald werden die Menschen fliegen wie Vögel, schwimmen wie Fische, die Zukunft sehn wie Propheten, im ewigen Frieden leben und in vollkommener Eintracht bis zu den Sternen Wolkenkratzer bauen.“
Aber: Da war eben auch das Amerika als Land der AuswandererInnen. Es bot Leuten auf der Flucht vor Armut und Verfolgung eine neue Heimat, die sie in Europa nicht mehr hatten. Anders als mit den USA der amerikanischen Träumereien ist damit in Zeiten von travel bans und der border wall definitiv Schluss.
So gesehen hatte der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig leider Unrecht, als er über das Buch seines Kollegen bemerkte, Roth habe es verstanden, „die schlichteste aller Geschichten“ zu erzählen; eine Geschichte, die zeitlose Gültigkeit besässe: „Mir und dir und jedermann kann diese wahre und klare Jedermannsgeschichte heute oder morgen oder übermorgen geschehen.“
Das mag hinsichtlich der Schicksalsschläge stimmen. Etwas anders sieht es aber mit der Gnade aus, wenn diese nicht mehr wie beim biblischen Hiob von einem Gott, sondern von Menschen kommt. Während der verstossene Menuchim seinem Vater verzieh und für seine Schwester die besten Ärzte aufsuchte, erweisen sich gegenwärtig etliche Menschen selbst in Anbetracht von Krieg, Ausgrenzung und Vertreibung als erschreckend ungnädig.
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