Hiobs­bot­schaften aus Russ­land und Amerika

Wie gehen wir mit einem Schick­sals­schlag um? Beim Recy­clen von Joseph Roths Roman Hiob, der Geschichte eines einfa­chen Mannes von 1930, stellte sich mir die Frage, wie wir heut­zu­tage mit Leuten umgehen, die vom Schicksal gebeu­telt wurden. 
Symbolbild (Foto: Philipp Krauer)

Mein Bücher­vorrat neigte sich langsam dem Ende zu. Ich brauchte also neuen Stoff, das Porte­mon­naie war aber wieder mal leer. So machte ich mich auf den Weg ins Brocken­haus Hiob zwischen der male­ri­schen Altstadt Murtens und dem Auspuff der Nation, der A1. Gleich dort, wo 1476 Karl der Kühne angeb­lich seinen Mut verlor, als die Berner die Burgunder blau und grün schlugen.

Der geneigte Bücher-Recy­cler findet darin so einiges, was er gar nicht sucht: Geschirr, Gläser und Elek­tro­gerät reihen sich an Wasser­skis, Plastik­pflanzen und Camping­stühle. Ich teste gerade die Funk­ti­ons­tüch­tig­keit eines Walk­mans WM F204, als ich die Biblio­thek entdecke: Stiller, Faust, Hiob – Hiob? Verdutzt greife ich nach dem Buch, 1930 verfasst von Joseph Roth. Roth ist mir ein Begriff. Hiob eben­falls. Aber die Kombi­na­tion dieser beiden ist mir neu. Und da das Werk den glei­chen Namen trägt wie das Brocken­haus, kaufe ich es unver­züg­lich. Für einen Franken.

Eine teuf­li­sche Provokation

Hiob ist ursprüng­lich die bibli­sche Geschichte eines wohl­ha­benden und frommen Fami­li­en­va­ters aus dem Land Uz. Der Teufel zwei­felt vor Gott dessen Fröm­mig­keit an. Einzig Hiobs bekömm­liche Lebens­um­stände würden es ihm erlauben, sich so fromm zu geben. Diese Provo­ka­tion lässt Gott nicht auf sich sitzen. Kurzer­hand gewährt er dem Teufel, Hiob zu prüfen. So nimmt der Teufel dessen Besitz, Kinder und Gesund­heit. Doch anstatt Gott aufgrund der Schick­sals­schläge zu verteu­feln, hält Hiob ihm die Treue. Folg­lich wird Hiob wieder gesund und Vater von sieben weiteren Kindern. So der Urstoff von Roths Erzählung.

Der öster­rei­chi­sche Autor verpflanzt diese altte­sta­men­ta­ri­sche Über­lie­fe­rung an den Anfang des 20. Jahr­hun­derts. Sein Hiob lebt in einem kleinen Dorf im zari­sti­schen Russ­land und heisst Mendel Singer. „Er war fromm, gottes­fürchtig und gewöhn­lich, ein ganz alltäg­li­cher Jude.“ Zu gewöhn­lich für seine Frau Deborah, die ihn verachtet: „Viel zu gering war Mendel Singer in ihren Augen. Die Kinder warf sie ihm vor, die Schwan­ger­schaft, die Teue­rung, die nied­rigen Hono­rare und oft sogar das schlechte Wetter.“

Die eheli­chen Strei­tig­keiten bleiben aber nicht lange Mendels grösste Sorgen. In kurzen Abständen ereilt ihn eine Hiobs­bot­schaft nach der anderen. Sein neuge­bo­rener Sohn, Menuchim, leidet an Epilepsie. Sein älte­ster Sohn wird entgegen den Glau­bens­vor­stel­lungen der Familie ins Militär einge­zogen. Sein zweit­äl­te­ster Sohn entrinnt diesem Schicksal nur, indem er nach Amerika flieht.

Und als sich seine Tochter dann noch mit einem Kosaken einlässt, beschliesst Mendel, eben­falls in die Verei­nigten Staaten auszu­wan­dern. Der Preis für die Über­fahrt ist jedoch hoch. Denn aus Angst, der gebrech­liche Menuchim könnte die Stra­pazen der Über­fahrt nicht über­leben, lassen Mendel und Deborah ihn in der Heimat zurück.

Amerika als Ausweg?

Schon die Ankunft im Hafen von New York deutet an, dass sie die Schick­sals­schläge nicht würden hinter sich lassen können: „Alle Gerüche vermengten sich im heissen Brodem, der ihm entge­gen­schlug, mit dem Lärm, der seine Ohren erfüllte und seinen Schädel sprengen wollte. Bald wusste er nicht mehr, was zu hören, zu sehen, zu riechen war. Er lächelte immer noch und nickte mit dem Kopfe. Amerika drang auf ihn ein, Amerika zerbrach ihn, Amerika zerschmet­terte ihn. Nach einigen Minuten wurde er ohnmächtig.“

Schliess­lich verliert er seine beiden älte­sten Söhne im Ersten Welt­krieg und seine Tochter an den Wahn­sinn. Zu viel für seine Frau, die eben­falls stirbt. Anders als der ‚rich­tige‘ Hiob kehrt sich Mendel in seiner Verzweif­lung von Gott ab: „Mendel hat den Tod, Mendel hat den Wahn­sinn, Mendel hat den Hunger, alle Gaben Gottes hat Mendel. Aus, aus, aus ist es mit Mendel Singer.“ Und doch wendet sich das Schicksal noch zum Guten: Der von ihm zurück­ge­las­sene Sohn Menuchim, mitt­ler­weile ein erfolg­rei­cher Diri­gent, sucht seinen Vater in New York auf und nimmt ihn in seine Arme.

Amerika damals – und heute?

Roth zeigt uns ein Amerika, das endlos weit von den heutigen USA entfernt scheint. Keine Spur von einem Toupet, welches die Welt über Twitter teilt und in Moskau sein Geschäft verrichtet. Klar: Das Amerika des Fort­schritts kommt uns auch heute noch reich­lich bekannt vor – mit all dem Leistungs­druck, dem ober­fläch­li­chen Glanz und der Ange­passt­heit: „Die Ameri­kaner waren gesund, die Ameri­ka­ne­rinnen schön, der Sport wichtig, die Zeit kostbar, die Armut ein Laster, der Reichtum ein Verdienst, die Tugend der halbe Erfolg, der Glaube an sich selbst ein ganzer, [...] Anar­chismus ein Verbre­chen, [...] moderne Maschinen Segen des Himmels [...]. Bald werden die Menschen fliegen wie Vögel, schwimmen wie Fische, die Zukunft sehn wie Propheten, im ewigen Frieden leben und in voll­kom­mener Eintracht bis zu den Sternen Wolken­kratzer bauen.“

Aber: Da war eben auch das Amerika als Land der Auswan­de­re­rInnen. Es bot Leuten auf der Flucht vor Armut und Verfol­gung eine neue Heimat, die sie in Europa nicht mehr hatten. Anders als mit den USA der ameri­ka­ni­schen Träu­me­reien ist damit in Zeiten von travel bans und der border wall defi­nitiv Schluss.

So gesehen hatte der öster­rei­chi­sche Schrift­steller Stefan Zweig leider Unrecht, als er über das Buch seines Kollegen bemerkte, Roth habe es verstanden, „die schlich­teste aller Geschichten“ zu erzählen; eine Geschichte, die zeit­lose Gültig­keit besässe: „Mir und dir und jeder­mann kann diese wahre und klare Jeder­manns­ge­schichte heute oder morgen oder über­morgen geschehen.“

Das mag hinsicht­lich der Schick­sals­schläge stimmen. Etwas anders sieht es aber mit der Gnade aus, wenn diese nicht mehr wie beim bibli­schen Hiob von einem Gott, sondern von Menschen kommt. Während der verstos­sene Menuchim seinem Vater verzieh und für seine Schwe­ster die besten Ärzte aufsuchte, erweisen sich gegen­wärtig etliche Menschen selbst in Anbe­tracht von Krieg, Ausgren­zung und Vertrei­bung als erschreckend ungnädig.


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