Zusam­men­schluss ohne auto­ri­täres Zentrum

In ihrem Buch „Frühe Pflan­zung“ erzählt Anna Ospelt in poeti­schen Bildern von Schwan­ger­schaft und Mutter­sein. Dabei findet sie eine neuar­tige Prosa jenseits der patri­ar­chalen Ich-Erzählung. 
"Frühe Pflanzung": ein Text wie ein Rhizom (Foto: Shu Quian / Unsplash)

Auf manchen Seiten stehen nur wenige Sätze, durch Leer­zeilen vonein­ander getrennt. Manchmal haben die Sätze ein Vers­mass – oder scheinen eines zu haben. Manchmal sind es kleine Prosano­tizen ohne bestimmten Rhythmus. Oft mischen sich direkte Zitate anderer Autor*innen darunter. Und verstreut: Foto­gra­fien, Skizzen, Bilder. „Frühe Pflan­zung“ ist ein lichtes Buch. Keine hundert Seiten lang. Die Worte und Sätze bekommen ihren Raum, dazwi­schen viel Weiss wie Luft zum Atmen.

Die Verse, Pros­ami­nia­turen und Bilder folgen der Autorin durch die Schwan­ger­schaft und das erste Jahr nach der Geburt ihres Kindes – grob unter­teilt in Früh­ling, Sommer, Herbst und Winter. Und in diese Rich­tung gelesen und mitge­dacht, entwickeln sie sogar so etwas wie eine strin­gente Erzäh­lung. Das Ich im Text, das sich als Frau defi­niert, sucht und findet poeti­sche Meta­phern und Vergleiche – meist findet sie diese im Garten vor dem Haus – für die physi­schen Prozesse von Geburt und Mutterschaft.

„Ich habe Blumen­zwie­beln gesetzt“, heisst es. „Blumen, die blühen, wenn das Baby geboren wird.“ Hier nennt sich der Text selbst: „Eine poeti­sche Bepflan­zung der Schwan­ger­schaft.“ Und das trifft es recht genau. Poetisch ist die Art, wie von leichter Hand und spürbar unbe­müht Natur, Mensch und Lite­ratur inein­an­der­greifen, ohne sich gegen­seitig zu erklären oder auszu­er­zählen. Viel­mehr ergänzen sich die Bilder und Meta­phern gegen­seitig und öffnen neue gedank­liche Räume.

Keine einfache Politisierung

Damit entgeht Anna Ospelt zwei Gefahren, die in der Natur­me­ta­phorik stecken. Auf der einen Seite lauert die Roman­ti­sie­rung, auf der anderen – wenn man so will – die Biolo­gi­sie­rung. Beides Stol­per­fallen, die gesell­schaft­liche und poli­ti­sche Zusam­men­hänge um das Thema Mutter­schaft eher verschleiern als begreifen helfen. Anna Ospelts poeti­sche Bepflan­zung ist so ambi­va­lent und bedeu­tungs­offen, dass sie von derlei einfa­cher Poli­ti­sie­rung nicht berührt wird.

Ein wich­tiges Stil­mittel sind die zahl­rei­chen inter­tex­tu­ellen Bezüge, die Ospelt gezielt einstreut. Sie helfen ihr, sich aus der Natur­me­ta­phorik zu lösen und lassen kultu­relle und poli­ti­sche Kontexte wiederum aufblühen. Zwischen eigenen Beob­ach­tungen und „Bepflan­zungen“ sät Ospelt Zitate anderer Autor*innen, kommen­tiert sie manchmal, lässt sie oft auch einfach für sich stehen.

Anna Ospelt wurde 1987 in Vaduz geboren. Sie studierte Sozio­logie, Medien- und Erzie­hungs­wis­sen­schaften in Basel und publi­ziert Lyrik und Kurz­ge­schichten in Lite­ra­tur­ma­ga­zinen und Antho­lo­gien. Für ihren Erst­ling „Wurzel­stu­dien“ erhielt sie ein Stipen­dium der Stif­tung Kunst und Kultur im Rahmen des Deut­schen Preises für Nature Writing und war für den Clemens-Bren­tano-Preis nomi­niert. „Frühe Pflan­zung“ ist Anna Ospelts zweite Buchveröffentlichung.

Da finden sich Dichter*innen wie Frie­de­rike Mayröcker, Prosaautor*innen wie Sylvia Plath und Julia Weber – aber auch explizit poli­ti­sche Autor*innen, zum Beispiel Audre Lorde, Fran­ziska Schutz­bach und Antonia Baum. Sie alle bekommen einen Platz einge­räumt in Anna Ospelts Werk. Ihre Gedanken werden in Sätzen verteilt wie kleine verkap­selte Samen.

Und im Text­ge­flecht von „Frühe Pflan­zung“ fallen sie auf frucht­baren Boden. Die Kapseln treiben aus und schlagen Wurzeln, die Politik blüht als Poesie. Was ein biss­chen verschwur­belt klingt, entspricht recht genau dem Lese­ge­fühl: Durch die kunst­volle Verflech­tung von poli­ti­schem Zitat und eigenen poeti­schen Bildern, immer wieder leise kommen­tiert, auch infrage gestellt und kriti­siert, wird die expli­zite Politik – die sich auf Themen wie Mutter­schaft, Femi­nismus, Care­ar­beit bezieht – zu einem Möglich­keits­raum. Hier wird gedacht und weiter­ge­dacht, nicht in Parolen agitiert.

„Ich lese in einem Zeit­schrif­ten­ar­tikel von einem Wech­sel­spiel zwischen Über- und Unter­for­de­rung mit Babys und Kleinkindern.

Ich lese in Marie Darrieus­s­ecqs Buch ‚Das Baby‘ von einer ‚Ich-Schmelze‘ in der frühen Elternschaft.

Es ist warm, und ich lasse E. morgens auf einem Hand­tuch robben.“

Poesie im Zitatgeflecht

So geschickt werden eigene und fremde Texte inein­ander verwoben, dass der Text beim Lesen wie eine orga­ni­sche Einheit erscheint – zu wachsen beginnt, lebendig wird. Oder anders ausge­drückt: Anna Ospelt schafft mit „Frühe Pflan­zung“ ein Poesie- und Zitat­ge­flecht, das seinen Sinn nicht von der leitenden Hand einer aukt­orialen Erzäh­lerin bekommt, die alles um den Kern einer inten­dierten Bedeu­tung versam­meln könnte, sondern viele einzelne, für sich stehende Sinn­zen­tren hat. Durch den Bezug unter­ein­ander laden sie sich mit Bedeu­tungen auf, fangen an zu schil­lern und zu leuchten.

Tatsäch­lich kann man „Frühe Pflan­zung“ von verschie­denen Seiten lesen, kann am Anfang beginnen oder am Ende, oder einfach irgendwo in der Mitte. Das Ergebnis ist jedes Mal das gleiche kleine poeti­sche Buch – aber jedes Mal mit ganz anderen Gedanken. Um wieder in den Meta­phern der poli­ti­schen Natur zu spre­chen: „Frühe Pflan­zung“ ist ein Text, der dem sehr nahe­kommt, was man in Anar­cho­kreisen gerne als Rhizom bezeichnet, ein Zusam­men­schluss ohne auto­ri­täres Zentrum.

Dass Ospelt einen solchen Text schafft, ohne sich explizit auf anar­chi­sti­sche Theorie zu beziehen, ist die grosse Stärke von „Frühe Pflan­zung“ und gleich­zeitig seine einzige Schwäche. Stark, weil Ospelt es gar nicht nötig hat, zu erklären, was sie tut – sie tut es einfach, und es gelingt. Die Schwäche liegt darin, dass man ihr gewisse poli­tisch aufge­la­dene Zitate dann doch nicht abnimmt. Es schleicht sich der Verdacht ein, dass sie manchmal doch nur heran­zi­tiert werden, um dem Ganzen Bedeu­tung zu geben. Wäre es nicht auch ohne sie gegangen?

Loslassen statt aukt­orial erzählen

Wahr­schein­lich. Denn im grossen Ganzen erhält „Frühe Pflan­zung“ seine Bedeu­tung gar nicht aus der konkreten Politik, sondern aus einer neuar­tigen Text­gat­tung, die Ospelt hier erfindet. Es ist eine poeti­sche Prosa, die sich ganz entschieden gegen ein uraltes Konzept aukt­orialen Erzäh­lens wendet. In der Art, wie Ospelt Worten, Text­fetzen, Sätzen ihre Eigen­stän­dig­keit lässt – sie nicht in das Konzept einer forcierten Erzäh­lung presst – wird beim Lesen spürbar, was es heisst zum Beispiel die Care Arbeit einer Mutter zu leisten.

Es heisst, den Mut zu haben, loszu­lassen, das Kind wie den Text als eigen­stän­diges Wesen zu akzep­tieren – ihnen zum Leben zu verhelfen, statt sie in ein vorge­se­henes Leben zu pressen. Dass Kind und Text auf einer Bedeu­tungs­ebene stehen, ist für Ospelt klar:

„Ich führe mich unter­stüt­zende Bücher im Kinder­wagen spazieren.“

In diesem Bild gespro­chen, ist Ospelts Prosa radikal anti­pa­tri­ar­chal. Sie zwingt die Worte nicht in eine wuch­tige Erzäh­lung, in der sich am Ende der*die Autor*in selbst gespie­gelt sehen könnte, wie sich der Patri­arch in seinen Nach­kommen erkennen will – sie lässt die Worte gehen für ein neues Konzept von Prosa. Man könnte sagen: freie Prosa, nicht patri­ar­chal dominant.

Auf der anderen Seite macht „Frühe Pflan­zung“ ein Problem erfahrbar, von dem andere Autor*innen meist „nur“ erzählen: den Konflikt zwischen dem Dasein als freie Autorin und der Mutter­schaft. Direkt auf das voran­ge­gan­gene Zitat folgen die Sätze:

„einen ersten Sprung in der Schale

eidot­ter­gelbe Blumen im Haar

diktiert mir das Kind

wann ich schreiben kann“

Statt sich gegen dieses „Diktat“ zu wehren, lässt Ospelt es einfach geschehen. Eine aus klas­si­scher Autor*innen-Perspektive selt­same Verwei­ge­rungs­hal­tung: kein Kampf mit den Umständen der Mutter­schaft, kein Regret­ting und kein Heli­ko­ptern (und was sonst noch in aktu­ellen Diskursen an Begriffen fallen müsste). Sondern viel­leicht eine Art Gene­ral­streik gegen eine Kultur, die letzt­lich auch von Müttern – egal welchen Geschlechts – erwartet, dass sie sich verhalten wie patri­ar­chale Macker. Und das heisst: immer nur und auschliess­lich sich selbst in den Text (in das Kind) einzuschreiben.

„Frühe Pflan­zung“ lässt geschehen und ringt seinem Thema damit einen Text ab, der tatsäch­lich ein tieferes Verständnis von Mutter­schaft – im Poli­ti­schen wie im Biolo­gi­schen – ermög­licht: das Fühlen und Akzep­tieren eines gewissen Kontroll­ver­lu­stes, der allein neues Leben sein kann.

Anna Ospelt: Frühe Pflan­zung, Limmat Verlag Zürich, 2023


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