Die Sonntagszeitung gab am vergangenen Wochenende Tipps, wie sich Frauen vor Übergriffen schützen können. Ein „Spezialist“ fürs Thema, der 64-jährige Präventionsberater und Sicherheitstrainer Markus Atzenweiler, deckte im Artikel von Chris Winteler auf, dass sich Frauen davor fürchten, abends alleine unterwegs zu sein. Und er schlug gleich noch verschiedene Formen vor, wie Frauen Übergriffe vermeiden könnten.
Laut Atzenweiler gelingt ihnen das am besten, indem sie etwa keine hohen Schuhe tragen. Denn mit hohen Absätzen lasse sich nun mal schlecht flüchten. Er rät Frauen ausserdem, Angreifer wenn möglich zu ignorieren und einfach „energisch“ weiterzugehen. Man solle stets „einen Plan haben und für alles gewappnet sein“ und es „dem Täter so schwer wie möglich machen“. Etwa indem man den Schlüsselbund auf dem Nachhauseweg bereits in der Hand hält, um wenn nötig damit anzugreifen.
No Shit Sherlock. Diese Tipps müssen die Frauen nicht in der Zeitung lesen. Die allermeisten von uns machen das alles schon lange automatisch, dieses Verhalten gehört quasi zu unserer DNA. Bloss: Es nützt nichts.
Wir ignorieren den Typen im Zug, der uns aus dem anderen Abteil anstarrt und sich dabei zwischen die Beine fasst. Wir ignorieren die sexistischen Zurufe von Männergruppen auf dem Nachhauseweg. Wir ignorieren sie so lange, bis wir begrabscht werden. Wir laufen schneller. So lange, bis wir rennen müssen. Wir tragen Kopfhörer, ohne wirklich Musik zu hören, damit wir trotzdem alles um uns herum wahrnehmen können. Wir wählen beleuchtete Plätze für den Heimweg. Und wir werden dort trotzdem vergewaltigt.
Diese Woche bestätigte eine neue Studie zu sexualisierten Übergriffen, dass in Zürich neun von zehn jungen Frauen belästigt werden. Die Studie erschien im Rahmen der Kampagne „Zürich schaut hin – gemeinsam gegen Sexismus, Homo- und Transphobie“ zur Sensibilisierung bezüglich Belästigungen im öffentlichen Raum, die auch der Artikel in der Sonntagszeitung erwähnt. Es ist offenbar nötig, es wieder einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Wer uns angreifen will, wird uns angreifen – früher oder später. Und es ist nicht die Aufgabe der potenziellen Opfer, sich davor zu schützen.
Die Studie zeigt auch: Praktisch alle Angriffe auf Frauen gehen von Männern aus. Bei ihnen sollten Tipps von Präventionsberatern ansetzen, bei ihnen muss der gesellschaftliche Wandel anfangen. Der Artikel in der Sonntagszeitung geht zwar kurz darauf ein, was Männer tun können – im Text, der sich über eine Doppelseite erstreckt, nimmt dieses Thema mit ein paar wenigen Sätzen aber viel zu wenig Platz ein.
Die „Tipps“ an Frauen führen dazu, dass es weiterhin in Ordnung ist, dem Opfer die Schuld zu geben. Hätte sie halt keine hohen Schuhe getragen! Hätte sie halt mit ihrem Schlüssel dem Typen das Gesicht zerkratzt! Wäre sie halt schneller gegangen, hätte sie ihn halt einfach ignoriert!
Damit muss endlich Schluss sein. Und hier sind die Männer gefordert: Nicht Frauen müssen sich vor Angriffen schützen, Männer müssen aufhören, anzugreifen. Denn von ihnen gehen die Übergriffe aus. Vor allem im öffentlichen Raum, weil dort die meisten Reizfaktoren zusammenkommen: Alkohol und Drogen, aufgeheizte Stimmung, vermeintliche Anonymität. Gerade in der Pandemie stellten Opferberatungsstellen aber immer wieder fest, dass die Übergriffe auch dort zunehmen, wo man sich eigentlich wohlfühlen sollte: bei Freund:innen zuhause, an WG-Partys, beim gemeinsamen Trinken in Parks.
Frauen zu belästigen muss endlich richtig, richtig uncool werden. Dazu gehört, nicht mehr zu tolerieren, wenn Freunde sexistisch über Frauen sprechen und ihnen im Ausgang etwas Dummes hinterherrufen. Etwas zu sagen, wenn der Arbeitskollege meint, die Frau habe ihre Vergewaltigung doch einfach erfunden. Immer wieder zu betonen, dass ein kurzer Rock absolut nichts mit einem Übergriff zu tun hat. Dass es nicht darum geht, dass sich das Opfer nicht genug gewehrt hat. Sondern darum, was der Täter getan hat.
Und dazu gehört auch, dass die Schweiz endlich eine nationale Strategie gegen die Gewalt an Frauen verfolgt. Immerhin: Derzeit werden im Parlament verschiedene Vorstösse für eine telefonische 24-Stunden-Beratung für Betroffene von häuslicher Gewalt diskutiert (kurzer Reminder für die nächsten Wahlen: Gegen die Motionen war die überwiegende Mehrheit der SVP-Fraktion).
Und übrigens: Atzenweiler bildet unter anderem Polizist:innen aus. Man kann sich ungefähr vorstellen, welche Grundhaltung von jemandem transportiert wird, der Frauen solche „Tipps“ gibt. Gegenvorschlag: Diese Aufgabe wird in Zukunft übernommen von einem Kollektiv aus Queers, People of Colour und Flint*-Personen. Von Menschen, die wissen, wie es ist, Meilen in unseren Schuhen zu laufen. Egal mit welchen Absätzen.
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