Hurra, sie arbeiten immer noch!

Heute ist der Tag der Arbeit, doch das tradi­tio­nelle 1.-Mai-Fest fällt aus. Über Arbeit, Klas­sen­kampf und Revo­lu­tion sollten wir trotzdem sprechen. 
Die 1. Mai-Feier fällt zum zweiten Mal aus (Illustration: Alain Schwerzmann)

Seit dem Jahr 1890 weist die Schweiz eine unge­bro­chene Tradi­tion der 1.-Mai-Feiern auf. Diese Konti­nuität geriet letztes Jahr ins Wanken und auch dieses Jahr ist aufgrund der pande­mi­schen Situa­tion an keine Feier im herkömm­li­chen Sinn zu denken. Trotzdem – oder genau deswegen – ist es jetzt beson­ders wichtig, über die verschärfte Lage der Arbeit­neh­menden zu sprechen.

Der Zustand wäre für viele Lohn­ab­hän­gige auch ohne Pandemie schon schwer genug: Die Anzahl der unbe­zahlten Über­stunden hat in den letzten Jahren erheb­lich zuge­nommen, die Arbeits­be­la­stung auch. Die Digi­ta­li­sie­rung hat ihre Verspre­chen der Arbeits­zeit­re­du­zie­rung nicht gehalten, statt­dessen leiden viele Menschen unter dem Zwang der stän­digen Verfüg­bar­keit. Die fort­schrei­tende Auto­ma­ti­sie­rung macht die Leute austauschbar, viele von ihnen stecken in Bull­shit-Jobs fest. Arbeit und Frei­zeit verschmelzen immer mehr, im Home­of­fice sowieso. Wo übri­gens – kontrain­tuitiv – mehr gear­beitet wird als an den herkömm­li­chen Arbeitsplätzen.

Die Folgen davon zeich­neten sich schon vor der Pandemie ab: psychi­sche und physi­sche Krank­heiten durch Stress und Über­be­la­stung. Moderne Formen der Arbeit entla­sten unser Leben bislang nicht, sie machen heute nur anders krank. Da wundert es kaum, dass viele Menschen seit der Pandemie sogar bereit dazu sind, ihre gelei­stete Arbeit nicht etwa in Lohn, sondern in Zeit vergütet zu kriegen. Das wäre unnötig, wenn endlich aner­kannt würde, dass der Acht­stun­dentag schon längst ausge­dient hat und die Produk­ti­vität nicht weiter steigt.

Es wird noch schlimmer

In der Pandemie poten­zierte sich dieser Zustand. „Wer es ohne Kündi­gung durch den bishe­rigen Verlauf der Corona-Pandemie geschafft hat, gehört zu den Glück­li­chen“, schreibt die Handels­zei­tung. Wer noch nicht arbeitslos geworden oder in der Isola­tion des Home­of­fice verküm­mert ist, setzt sich „an der Front“ höch­stem gesund­heit­li­chen Risiko aus und arbeitet seit Monaten über jegli­chem Limit.

Durch die Lohn­ein­bussen der Kurz­ar­beit rutschen immer mehr Menschen in die Armut ab. In einem der reich­sten Länder der Welt, der Schweiz, ist ein immer grös­serer Teil der Bevöl­ke­rung auf Essens­aus­gaben angewiesen.

170 000 Personen sind im Januar arbeitslos gemeldet, über­durch­schnitt­lich stark betroffen sind Jugend­liche und Personen ohne Schweizer Pass. Das sind 50 000 Arbeits­lose mehr als vor der Pandemie, beschreibt aber ledig­lich dieje­nigen, welche auch auf dem RAV gemeldet sind. Viele müssen auf Sozi­al­hilfe verzichten, weil sie eine Ausschaf­fung zu befürchten haben. Die gesamte Erwerbs­lo­sen­quote wird auf 246 000 Menschen geschätzt und zählen wir alle Arbeits­losen und Unter­be­schäf­tigten zusammen, haben wir rund 630 000 Personen, die keine oder zu wenig Arbeit haben. Das ist jede achte Erwerbs­person in der Schweiz.

Wer nicht Gold, Kunst oder Immo­bi­lien besitzt, hat also schlechte Karten. Gute Karten haben dieje­nigen, die es ins Ranking der „300 Reich­sten trotz Corona“ geschafft haben. Fünf Milli­arden Franken Zuwachs erwirt­schaf­teten sie gemeinsam im letzten Jahr. Das ist mit 0.7 % Zuwachs ein Klacks für ihre Verhält­nisse. Doch über genau diese Rela­tionen sollten wir spre­chen. Was liesse sich mit fünf Milli­arden Franken nicht alles anstellen?

Zum Beispiel könnten wir den 50 000 „Corona-Erwerbs­losen“ damit zwei Jahre lang den theo­re­ti­schen Mindest­lohn von 4 000 Franken pro Monat zahlen. Oder wir könnten endlich immerhin einen Sech­zehntel aller unbe­zahlter Sorge- und Pfle­ge­ar­beit vergüten. Auch im bezahlten Betreu­ungs- und Gesund­heits­be­reich könnte dieses Sümm­chen sicher­lich einige Leben retten.

Im Jahr 1989, fast hundert Jahre nach der ersten 1.-Mai-Feier in der Schweiz, war das Vermögen der 100 reich­sten Personen der Schweiz zusammen 66  Milli­arden Franken, was 660 Millionen pro Kopf entspricht. Heute besitzen alleine die zwei vermö­gend­sten Parteien, die Gebrüder Kamprad sowie die Fami­lien Hoff­mann und Oeri, weitaus mehr als damals sämt­liche 100 zusammen.

Das wissen wir doch alles

Das alles geschieht, obwohl wir in der Pandemie mit aller Deut­lich­keit gesehen haben, welche Arbeiten wirk­lich wichtig sind: die kaputt­ge­sparte oder gänz­lich unbe­zahlte Pflege von Menschen, der wenig monetär geschätzte Verkauf und die Produk­tion von Lebens­mit­teln, die immer wieder ange­zwei­felte wissen­schaft­liche Arbeit. Was wir in der Pandemie auch gesehen haben, ist, wie das Home­of­fice die Arbeit in den privaten Raum verschoben hat. Ähnlich wie die 8.7 Milli­arden Stunden unbe­zahlte Care-Arbeit ist sie somit mehr­heit­lich unsichtbar.

Wenn wir also über die Zukunft der Arbeit spre­chen, nützt ein verklärter Blick auf die Digi­ta­li­sie­rung und die vermeint­liche Befreiung von und durch Arbeit wenig. Die Revo­lu­tion der Arbeit kommt nicht durchs Home­of­fice, flexible Arbeits­zeiten oder digi­tales Noma­dentum. Was wir brau­chen, ist die Verge­sell­schaf­tung der Produk­ti­ons­mittel und dafür müssen wir uns orga­ni­sieren. Heraus zum 1. Mai!

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