Hunderte illegalisierte Menschen leben in den vier sogenannten Rückkehrzentren – früher nannte man sie Nothilfeunterkünfte – des Kantons Zürich. Der Schweizer Staat hat ihre Asylgesuche abgewiesen oder ihnen die Aufenthaltsbewilligung entzogen. Alle, die ausgeschafft werden können, warten darauf, dass es passiert. Die anderen verbringen Jahre im Camp ohne jegliche Perspektive auf ein anderes Leben. Die Bedingungen in den Camps sind gewollt unmenschlich und sollen die Menschen zur Ausreise in ihr Herkunftsland bewegen. Wer nicht bereits psychisch krank ist, wird es spätestens in den sogenannten Rückkehrzentren, wie beispielsweise eine Studie von Terre des Hommes zeigt.
Klaus, Momo und Said – deren Namen von der Redaktion geändert wurden – berichten von Drogen und Medikamenten in den Zentren, von Zwangsmassnahmen, die sie am eigenen Körper erfahren haben, und von ihren Gefängnis- und Klinikaufenthalten.
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Stimmen aus den Camps“.
Klaus, Nothilfecamp Glattbrugg-Rohr
Im Bunker sind alle drogensüchtig. Dort kannst du es sonst nicht aushalten. Ich schwöre es dir. Versuch mal, eine Woche lang einfach dort zu schlafen. Nur schon das Brummen der Lüftung zu hören, macht dich verrückt. Selbst ohne alles andere. Dazu kommen dann Schlägereien. Durchgehend will wer was von dir: „Gib Papier, gib Tabak, hast du dies, hast du das, gib mir Essen, gib mir das“.
In der Nacht wird es laut. Man hört Musik und nimmt Drogen. Raucht Zigaretten, raucht Heroin, schnupft Kokain, raucht einen Joint im Zimmer – alles mögliche.
Als ich in die Schweiz gekommen bin mit 22, habe ich nicht mal Zigaretten geraucht. Jetzt habe ich offiziell eine Diagnose für Polytoxikomanie. Das bedeutet, ich nehme alles, was mir in die Hände kommt.
Klaus wurde vor langer Zeit durch die Zürcher Stadtpolizei dem Umfeld der Zürcher Drogenszene zugeordnet. 2006 hat sie ihn aus dem Zürcher Stadtgebiet verbannt – für immer. Die Behörden begründeten dies damit, dass seine Anwesenheit an Orten mit Drogenhandel ihre Massnahmen gegen den illegalen Betäubungsmittelhandel störe. Später folgte die Ausgrenzung aus dem Gebiet der Stadt Winterthur – ebenfalls zeitlich unbegrenzt.
Diese Ausgrenzungen gehen auf die 1995 eingeführten „Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht“ zurück. In den frühen 90er Jahren erklärten Polizei und Politik, begleitet von einem medialen Schauerspiel, den „illegalen ausländischen Drogendealer“ zum Sündenbock der Drogenkrise. Mit rassistischen Feindbildern lenkten die Behörden von ihrem eigenen Versagen ab und sorgten dafür, dass die 18-monatigen Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft eingeführt wurde. Zusätzlich können die Kantone Menschen seither „ein-“ oder „ausgrenzen“, wie im Fall von Klaus und Said. Wer sich widersetzt, riskiert bis zu drei Jahre Haft.
Im Gefängnis hat man wenigstens eine Privatsphäre. Man hat ein eigenes Zimmer. Man beschäftigt sich und hat nicht so viele Gedanken. Es gibt einen strukturierten Tagesablauf: Man steht auf und geht arbeiten. Man hat Taschengeld für Schokolade, kann spazieren gehen und Sport treiben. Mir ging es immer gut im Gefängnis. Ich war zwei Wochen im Gefängnis und brauchte kein Methadon mehr. Ich kam mit so einer Freude zurück, obwohl ich im Gefängnis war.
„Nicht die Gesundheit ist das Problem, sondern die fehlende Möglichkeit, zu leben.“
Klaus, Asylsuchender Kanton Zürich
Doch nachher draussen, manchmal nicht einmal eine Woche später, kann ich es nicht aushalten. Dann gehe ich sofort zum Arzt und sage: „Gib mir wieder Methadon zum Beruhigen.“ Wenn ich zurück in den Bunker komme, sehe ich sofort, dass es hier anders ist. Die Leute kommen mir vor wie Zombies. Ich sage „Hallo“, sie schauen mich nur komisch an. Dabei kennen sie mich noch von früher. Sie wirken wie gestört, sagen nicht mal „Hallo“. Sie unterschreiben im Büro, erhalten ihre täglichen 10.50 Franken Nothilfe und gehen sofort wieder schlafen. Man fühlt sich, als sei man in der Psychiatrie.
Nicht die Gesundheit ist das Problem, sondern die fehlende Möglichkeit, zu leben. Es gibt keine Zukunft, keinen Job, keine Privatsphäre, keine gute Umgebung, keine guten Leute. Alle sind depressiv und viele noch aggressiv dazu. Sie wissen nicht, wohin mit ihrer Energie. Sie sind jung, sie sind gesund, sie könnten etwas erreichen und wollen das auch. Doch sie dürfen nicht, und das macht sie verrückt.
Früher, als ich jung war, hat mich das auch verrückt gemacht. Jetzt machen mich andere Sachen verrückt. Respektlosigkeit, Unkorrektheit und wie soll ich das sagen… Verarschung. Das nervt mich. Alles andere erwarte ich nicht von der Schweiz. Ich sehe hier keine Zukunft für mich. Ich erwarte nur Respekt, mehr brauche ich nicht.
„Ich war sozusagen überall. Vierzehn Mal im Gefängnis, sieben Mal in der Psychiatrie. Wo kann man sonst noch sein?“
Klaus, Asylsuchender Kanton Zürich
Ich lebte sechs Jahre im Bunker in Urdorf, vorher in Kemptthal. In Rohr bin ich nun zum dritten Mal. In Uster habe ich weitere sechs Jahre unterirdisch im Bunker gelebt. Ich war in verschiedenen Camps in Winterthur, Oerlikon, Wetzikon, Gossau und Triemli. Ich war sozusagen überall. Vierzehn Mal im Gefängnis, sieben Mal in der Psychiatrie. Wo kann man sonst noch sein?
Ich habe kein anderes Ziel als Überleben. Kein Papa, keine Mama. Kein Vermögen. Ich habe alles verloren. Wo bleibt der Sinn meines Lebens? Vielleicht nur, um euch zu zeigen, dass ich ein Mensch bin wie alle anderen – nicht schlimmer und nicht besser. Und deswegen bleibe ich noch am Leben. Keine Sorge.
Aufgezeichnet im April 2024 von Annika Lutzke
Momo, Nothilfecamp Urdorf
Ich lebte viereinhalb Jahre im Bunker Urdorf. In dieser Zeit betete und fastete ich regelmässig und lernte ununterbrochen. Mein Ziel war es, den Koran auswendig zu lernen und mir eine Zukunft in der Schweiz aufzubauen. Der Stress verhinderte zwar, dass ich mein Ziel erreichte. Doch das Beten und Lernen half mir, nicht aufzugeben und gesund zu bleiben.
„Sie brachten mich in eine Zelle, die nur mit einer Decke am Boden und einer Kamera ausgestattet war, die mich ständig überwachte.“
Momo, Asylsuchender Kanton Zürich
Aber viele Leute im Camp sind verrückt geworden. Sie kommen aus ihrer Heimat hierher und haben dort weder geraucht noch getrunken. Im Bunker kommen sie zum ersten Mal mit Drogen in Kontakt. Ihnen werden anfangs Medikamente gegeben und danach nichts mehr. Dann suchen sie sich andere Drogen. Nach zwei, drei, vier Monaten trinken sie, rauchen sie, machen alles, um mit dem Stress klarzukommen.
Zuerst denken sie, ihr Leben könnte besser werden. Sie hätten ihre Schwierigkeiten hinter sich gelassen. Für sie war es sehr hart, hierher zu kommen. Wenn sie ankommen, haben sie Pläne. Wenn sie dann aber nach Urdorf kommen, gibt es nur noch Probleme und Stress für sie. Sie verstehen ihr Leben nicht mehr und wissen nicht, warum sie hier sind. Dann geben sie alle Pläne auf, leben nur noch vor sich hin und machen nichts mehr. Sie verlieren ihre Hoffnung.
Das sogenannte Rückkehrzentrum (RKZ) Urdorf ist eines der vier Nothilfecamps im Kanton Zürich. Es ist ein alter Zivilschutzbunker am Waldrand von Urdorf, umgeben von einem Polizeistützpunkt, einer Autobahn, einem Schiessplatz und einer Weihnachtsbaum-Plantage. Im Bunker sind 10 bis 30 alleinstehende Männer auf unbestimmte Zeit untergebracht. Brummende Lüftungsanlagen rauben den Menschen den Schlaf, frische Luft bringen sie jedoch nicht. Je sechs Männer teilen sich ein kleines Zimmer. Privatsphäre gibt es keine, Schlägereien dafür viele.
Untergebracht würden hier nur „straffällig gewordene“ abgewiesene Asylsuchende, behauptet der Zürcher Regierungsrat Mario Fehr wiederholt. Die Biografien der Bewohnenden beweisen jedoch das Gegenteil, immer wieder sind Asylsuchende über Jahre im Bunker, ohne jemals eine Straftat begangen zu haben. Trotzdem hat der Bunker in Urdorf eine Disziplinierungsrolle innerhalb des Campsystems. Wer in einem anderen Camp Stress macht oder ein Hausverbot kassiert, wird nach Urdorf unter die Erde verlegt.
Eine Übersichtskarte zu allen Camps im Kanton Zürich findest du hier.
Viele bitten um Hilfe und kommen trotzdem ins Gefängnis. Wenn sie zu Psychiater*innen gehen, werden sie in die Klinik geschickt. Die Klinik war für mich schlimmer als ein Gefängnis. Sie brachten mich in eine Zelle, die nur mit einer Decke am Boden und einer Kamera ausgestattet war, die mich ständig überwachte. Um die Toilette zu spülen, bekam ich nur einen Becher Wasser.
Als ich einen kleinen Fehler machte, gaben sie mir eine Spritze, die mich kaputt machte. Ich war ein Störfaktor für sie und machte Probleme, weil ich aus der Klinik wegwollte. Dann gaben sie mir nochmals eine Spritze. Später kam ich wieder ins Gefängnis. Dort sagte ich einem Beamten, dass ich mich schlecht fühle. Er gab mir ein kleines rotes Medikament und dann ging es mir wieder besser.
Die Leute hier suchen Psychiater*innen auf, um ruhig zu werden. Dort werden ihnen Medikamente und auch Spritzen verabreicht. Medikamente sind genauso wie Drogen, nur bekommt man sie von Psychiater*innen. Die Menschen im Bunker nehmen Rivotril, Lyrica, alle verschiedenen Medikamente. Mit der Zeit werden sie reglos wie Gemüse.
Pregabalin ist ein Antiepileptikum, das unter dem Handelsnamen Lyrica bekannt ist. Pregabalin wird bei Anpassungsstörungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen verschreiben. Es hilft gegen Schmerzen, wirkt muskel- und angstlösend und somit entspannend. In Algerien wird das Medikament wegen seiner Wirkung auch als „Madame Courage“ bezeichnet.
Pregabalin macht durch seine entspannende Wirkung psychisch abhängig. Viele Konsument*innen nehmen mit der Zeit immer höhere Dosen, weil ihre Toleranz steigt. Dies kann dazu führen, dass sie täglich bis zu 3’000 Milligram oder mehr einnehmen, was dem Fünffachen der empfohlenen Höchstdosierung entspricht. Um den richtigen Kick zu bekommen, brechen sie die Pregabalin-Kapseln auf und schlucken das enthaltene Pulver direkt oder ziehen es mit Kokain gemischt durch die Nase. Die Grenze zwischen hilfreicher Medikamentenwirkung und einem Gebrauch als Droge verläuft oft fliessend. Besonders wenn sowohl Pregabalin als auch andere Drogen in den Camps, den Unterbringungsumständen zu verdanken, rege konsumiert werden.
Aufgezeichnet im April 2024 von Annika Lutzke
Said, Nothilfecamp Urdorf
Mein Tag im Bunker beginnt um 17 Uhr. Ich stehe auf und gehe einkaufen. Etwas Kleines zum Essen und Bier. Die nächsten zwölf Stunden trinke ich. Manchmal 20 Dosen Bier an einem Tag. Danach gehe ich wieder schlafen und fange von vorne an.
„Was bleibt mir anderes übrig, als zu trinken?“
Said, Asylsuchender Kanton Zürich
Neulich erzählte ich das einem Arzt im Gefängnis. Der glaubte mir nicht und sagte, bei so viel Alkohol müsste ich schon lange tot sein. Jahrelang im Bunker unter der Erde zu liegen und tot zu sein, ist für mich fast das Gleiche. Es gibt nichts, was mich bewegt. Selbst wenn ich rausgehe, darf ich die Gemeinde Urdorf nicht verlassen. Es ist wie ein Gefängnis.
Tausende Menschen befinden sich in der Schweiz in Asylverfahren und sind in verschiedenen Arten von Unterkünften untergebracht. Ein grosser Teil der Bevölkerung hört von diesen Orten nur dann, wenn es zu Konflikten kommt oder wenn Missstände aufgedeckt werden. Das Lamm will dem etwas entgegensetzen: In der Reihe „Stimmen aus den Camps“ stehen die Menschen in den Asylunterkünften im Zentrum. Dabei sollen insbesondere diejenigen zu Wort kommen, deren Asylgesuch abgelehnt wurde. Sie leben in sogenannten Rückkehrzentren oder Camps, wie sie sie selbst oft nennen. Die Beiträge stellen jeweils ein Thema in den Fokus und lassen die Bewohner*innen selbst zu Wort kommen.
Früher konnte ich arbeiten und habe ein richtiges Leben geführt, hatte eine Zukunft. Das ist jetzt schon sieben Jahre her. Ich bin zwar immer noch jung, doch die Schweiz gibt mir keine zweite Chance. Ich habe einmal Probleme gemacht und jetzt bin ich für immer bestraft. Was bleibt mir anderes übrig, als zu trinken?
Aufgezeichnet im Februar 2025 von Annika Lutzke
Die Reihe „Stimmen aus den Camps“ wird finanziell unterstützt von Migros Engagement („ici. gemeinsam hier“), von der Stiftung Mercator Schweiz, von der Landis & Gyr Stiftung und von der Stiftung Corymbo.




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