“Im Bunker kannst du es ohne Drogen nicht aushalten”

Viele abge­wie­sene Asyl­su­chende erhalten Psycho­phar­maka oder greifen zu Drogen, um die Perspek­tiv­lo­sig­keit ihres Lebens in der Schweiz zu ertragen. Drei Betrof­fene erzählen von ihrem Alltag in den Zürcher Rückkehrzentren. 
Viele abgewiesene Asylsuchende kommen im Schweizer Asylsystem zum ersten Mal in Kontakt mit Drogen. (Bild: Alain Schwerzmann)

Hunderte ille­ga­li­sierte Menschen leben in den vier soge­nannten Rück­kehr­zen­tren – früher nannte man sie Nothil­fe­un­ter­künfte – des Kantons Zürich. Der Schweizer Staat hat ihre Asyl­ge­suche abge­wiesen oder ihnen die Aufent­halts­be­wil­li­gung entzogen. Alle, die ausge­schafft werden können, warten darauf, dass es passiert. Die anderen verbringen Jahre im Camp ohne jegliche Perspek­tive auf ein anderes Leben. Die Bedin­gungen in den Camps sind gewollt unmensch­lich und sollen die Menschen zur Ausreise in ihr Herkunfts­land bewegen. Wer nicht bereits psychisch krank ist, wird es späte­stens in den soge­nannten Rück­kehr­zen­tren, wie beispiels­weise eine Studie von Terre des Hommes zeigt.

Klaus, Momo und Said – deren Namen von der Redak­tion geän­dert wurden – berichten von Drogen und Medi­ka­menten in den Zentren, von Zwangs­mass­nahmen, die sie am eigenen Körper erfahren haben, und von ihren Gefängnis- und Klinikaufenthalten.

Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Stimmen aus den Camps“.

Klaus, Nothilfe­camp Glattbrugg-Rohr

Im Bunker sind alle drogen­süchtig. Dort kannst du es sonst nicht aushalten. Ich schwöre es dir. Versuch mal, eine Woche lang einfach dort zu schlafen. Nur schon das Brummen der Lüftung zu hören, macht dich verrückt. Selbst ohne alles andere. Dazu kommen dann Schlä­ge­reien. Durch­ge­hend will wer was von dir: „Gib Papier, gib Tabak, hast du dies, hast du das, gib mir Essen, gib mir das“.
In der Nacht wird es laut. Man hört Musik und nimmt Drogen. Raucht Ziga­retten, raucht Heroin, schnupft Kokain, raucht einen Joint im Zimmer – alles mögliche.

Als ich in die Schweiz gekommen bin mit 22, habe ich nicht mal Ziga­retten geraucht. Jetzt habe ich offi­ziell eine Diagnose für Poly­to­xi­ko­manie. Das bedeutet, ich nehme alles, was mir in die Hände kommt.

Klaus wurde vor langer Zeit durch die Zürcher Stadt­po­lizei dem Umfeld der Zürcher Drogen­szene zuge­ordnet. 2006 hat sie ihn aus dem Zürcher Stadt­ge­biet verbannt – für immer. Die Behörden begrün­deten dies damit, dass seine Anwe­sen­heit an Orten mit Drogen­handel ihre Mass­nahmen gegen den ille­galen Betäu­bungs­mit­tel­handel störe. Später folgte die Ausgren­zung aus dem Gebiet der Stadt Winter­thur – eben­falls zeit­lich unbegrenzt. 

Diese Ausgren­zungen gehen auf die 1995 einge­führten „Zwangs­mass­nahmen im Auslän­der­recht“ zurück. In den frühen 90er Jahren erklärten Polizei und Politik, begleitet von einem medialen Schau­er­spiel, den „ille­galen auslän­di­schen Drogen­dealer“ zum Sünden­bock der Drogen­krise. Mit rassi­sti­schen Feind­bil­dern lenkten die Behörden von ihrem eigenen Versagen ab und sorgten dafür, dass die 18-mona­tigen Ausschaf­fungs- und Durch­set­zungs­haft einge­führt wurde. Zusätz­lich können die Kantone Menschen seither „ein-“ oder „ausgrenzen“, wie im Fall von Klaus und Said. Wer sich wider­setzt, riskiert bis zu drei Jahre Haft.

Im Gefängnis hat man wenig­stens eine Privat­sphäre. Man hat ein eigenes Zimmer. Man beschäf­tigt sich und hat nicht so viele Gedanken. Es gibt einen struk­tu­rierten Tages­ab­lauf: Man steht auf und geht arbeiten. Man hat Taschen­geld für Scho­ko­lade, kann spazieren gehen und Sport treiben. Mir ging es immer gut im Gefängnis. Ich war zwei Wochen im Gefängnis und brauchte kein Methadon mehr. Ich kam mit so einer Freude zurück, obwohl ich im Gefängnis war.

„Nicht die Gesund­heit ist das Problem, sondern die fehlende Möglich­keit, zu leben.“

Klaus, Asyl­su­chender Kanton Zürich 

Doch nachher draussen, manchmal nicht einmal eine Woche später, kann ich es nicht aushalten. Dann gehe ich sofort zum Arzt und sage: „Gib mir wieder Methadon zum Beru­higen.“ Wenn ich zurück in den Bunker komme, sehe ich sofort, dass es hier anders ist. Die Leute kommen mir vor wie Zombies. Ich sage „Hallo“, sie schauen mich nur komisch an. Dabei kennen sie mich noch von früher. Sie wirken wie gestört, sagen nicht mal „Hallo“. Sie unter­schreiben im Büro, erhalten ihre tägli­chen 10.50 Franken Nothilfe und gehen sofort wieder schlafen. Man fühlt sich, als sei man in der Psychiatrie.

Nicht die Gesund­heit ist das Problem, sondern die fehlende Möglich­keit, zu leben. Es gibt keine Zukunft, keinen Job, keine Privat­sphäre, keine gute Umge­bung, keine guten Leute. Alle sind depressiv und viele noch aggressiv dazu. Sie wissen nicht, wohin mit ihrer Energie. Sie sind jung, sie sind gesund, sie könnten etwas errei­chen und wollen das auch. Doch sie dürfen nicht, und das macht sie verrückt. 

Früher, als ich jung war, hat mich das auch verrückt gemacht. Jetzt machen mich andere Sachen verrückt. Respekt­lo­sig­keit, Unkor­rekt­heit und wie soll ich das sagen… Verar­schung. Das nervt mich. Alles andere erwarte ich nicht von der Schweiz. Ich sehe hier keine Zukunft für mich. Ich erwarte nur Respekt, mehr brauche ich nicht.

„Ich war sozu­sagen überall. Vier­zehn Mal im Gefängnis, sieben Mal in der Psych­ia­trie. Wo kann man sonst noch sein?“

Klaus, Asyl­su­chender Kanton Zürich

Ich lebte sechs Jahre im Bunker in Urdorf, vorher in Kempt­thal. In Rohr bin ich nun zum dritten Mal. In Uster habe ich weitere sechs Jahre unter­ir­disch im Bunker gelebt. Ich war in verschie­denen Camps in Winter­thur, Oerlikon, Wetzikon, Gossau und Triemli. Ich war sozu­sagen überall. Vier­zehn Mal im Gefängnis, sieben Mal in der Psych­ia­trie. Wo kann man sonst noch sein?

Ich habe kein anderes Ziel als Über­leben. Kein Papa, keine Mama. Kein Vermögen. Ich habe alles verloren. Wo bleibt der Sinn meines Lebens? Viel­leicht nur, um euch zu zeigen, dass ich ein Mensch bin wie alle anderen – nicht schlimmer und nicht besser. Und deswegen bleibe ich noch am Leben. Keine Sorge.

Aufge­zeichnet im April 2024 von Annika Lutzke

Momo, Nothilfe­camp Urdorf

Ich lebte vier­ein­halb Jahre im Bunker Urdorf. In dieser Zeit betete und fastete ich regel­mässig und lernte unun­ter­bro­chen. Mein Ziel war es, den Koran auswendig zu lernen und mir eine Zukunft in der Schweiz aufzu­bauen. Der Stress verhin­derte zwar, dass ich mein Ziel erreichte. Doch das Beten und Lernen half mir, nicht aufzu­geben und gesund zu bleiben.

„Sie brachten mich in eine Zelle, die nur mit einer Decke am Boden und einer Kamera ausge­stattet war, die mich ständig überwachte.“

Momo, Asyl­su­chender Kanton Zürich

Aber viele Leute im Camp sind verrückt geworden. Sie kommen aus ihrer Heimat hierher und haben dort weder geraucht noch getrunken. Im Bunker kommen sie zum ersten Mal mit Drogen in Kontakt. Ihnen werden anfangs Medi­ka­mente gegeben und danach nichts mehr. Dann suchen sie sich andere Drogen. Nach zwei, drei, vier Monaten trinken sie, rauchen sie, machen alles, um mit dem Stress klarzukommen.

Zuerst denken sie, ihr Leben könnte besser werden. Sie hätten ihre Schwie­rig­keiten hinter sich gelassen. Für sie war es sehr hart, hierher zu kommen. Wenn sie ankommen, haben sie Pläne. Wenn sie dann aber nach Urdorf kommen, gibt es nur noch Probleme und Stress für sie. Sie verstehen ihr Leben nicht mehr und wissen nicht, warum sie hier sind. Dann geben sie alle Pläne auf, leben nur noch vor sich hin und machen nichts mehr. Sie verlieren ihre Hoffnung.

Das soge­nannte Rück­kehr­zen­trum (RKZ) Urdorf ist eines der vier Nothilfe­camps im Kanton Zürich. Es ist ein alter Zivil­schutz­bunker am Wald­rand von Urdorf, umgeben von einem Poli­zei­stütz­punkt, einer Auto­bahn, einem Schiess­platz und einer Weih­nachts­baum-Plan­tage. Im Bunker sind 10 bis 30 allein­ste­hende Männer auf unbe­stimmte Zeit unter­ge­bracht. Brum­mende Lüftungs­an­lagen rauben den Menschen den Schlaf, frische Luft bringen sie jedoch nicht. Je sechs Männer teilen sich ein kleines Zimmer. Privat­sphäre gibt es keine, Schlä­ge­reien dafür viele. 

Unter­ge­bracht würden hier nur „straf­fällig gewor­dene“ abge­wie­sene Asyl­su­chende, behauptet der Zürcher Regie­rungsrat Mario Fehr wieder­holt. Die Biogra­fien der Bewoh­nenden beweisen jedoch das Gegen­teil, immer wieder sind Asyl­su­chende über Jahre im Bunker, ohne jemals eine Straftat begangen zu haben. Trotzdem hat der Bunker in Urdorf eine Diszi­pli­nie­rungs­rolle inner­halb des Camp­sy­stems. Wer in einem anderen Camp Stress macht oder ein Haus­verbot kassiert, wird nach Urdorf unter die Erde verlegt.

Eine Über­sichts­karte zu allen Camps im Kanton Zürich findest du hier. 

Viele bitten um Hilfe und kommen trotzdem ins Gefängnis. Wenn sie zu Psychiater*innen gehen, werden sie in die Klinik geschickt. Die Klinik war für mich schlimmer als ein Gefängnis. Sie brachten mich in eine Zelle, die nur mit einer Decke am Boden und einer Kamera ausge­stattet war, die mich ständig über­wachte. Um die Toilette zu spülen, bekam ich nur einen Becher Wasser. 

Als ich einen kleinen Fehler machte, gaben sie mir eine Spritze, die mich kaputt machte. Ich war ein Stör­faktor für sie und machte Probleme, weil ich aus der Klinik wegwollte. Dann gaben sie mir noch­mals eine Spritze. Später kam ich wieder ins Gefängnis. Dort sagte ich einem Beamten, dass ich mich schlecht fühle. Er gab mir ein kleines rotes Medi­ka­ment und dann ging es mir wieder besser.

Die Leute hier suchen Psychiater*innen auf, um ruhig zu werden. Dort werden ihnen Medi­ka­mente und auch Spritzen verab­reicht. Medi­ka­mente sind genauso wie Drogen, nur bekommt man sie von Psychiater*innen. Die Menschen im Bunker nehmen Rivo­tril, Lyrica, alle verschie­denen Medi­ka­mente. Mit der Zeit werden sie reglos wie Gemüse.

Prega­balin ist ein Anti­epi­lep­tikum, das unter dem Handels­namen Lyrica bekannt ist. Prega­balin wird bei Anpas­sungs­stö­rungen oder post­trau­ma­ti­schen Bela­stungs­stö­rungen verschreiben. Es hilft gegen Schmerzen, wirkt muskel- und angst­lö­send und somit entspan­nend. In Alge­rien wird das Medi­ka­ment wegen seiner Wirkung auch als „Madame Courage“ bezeichnet.

Prega­balin macht durch seine entspan­nende Wirkung psychisch abhängig. Viele Konsument*innen nehmen mit der Zeit immer höhere Dosen, weil ihre Tole­ranz steigt. Dies kann dazu führen, dass sie täglich bis zu 3’000 Milli­gram oder mehr einnehmen, was dem Fünf­fa­chen der empfoh­lenen Höchst­do­sie­rung entspricht. Um den rich­tigen Kick zu bekommen, brechen sie die Prega­balin-Kapseln auf und schlucken das enthal­tene Pulver direkt oder ziehen es mit Kokain gemischt durch die Nase. Die Grenze zwischen hilf­rei­cher Medi­ka­men­ten­wir­kung und einem Gebrauch als Droge verläuft oft flies­send. Beson­ders wenn sowohl Prega­balin als auch andere Drogen in den Camps, den Unter­brin­gungs­um­ständen zu verdanken, rege konsu­miert werden.

Aufge­zeichnet im April 2024 von Annika Lutzke

Said, Nothilfe­camp Urdorf

Mein Tag im Bunker beginnt um 17 Uhr. Ich stehe auf und gehe einkaufen. Etwas Kleines zum Essen und Bier. Die näch­sten zwölf Stunden trinke ich. Manchmal 20 Dosen Bier an einem Tag. Danach gehe ich wieder schlafen und fange von vorne an.

„Was bleibt mir anderes übrig, als zu trinken?“

Said, Asyl­su­chender Kanton Zürich

Neulich erzählte ich das einem Arzt im Gefängnis. Der glaubte mir nicht und sagte, bei so viel Alkohol müsste ich schon lange tot sein. Jahre­lang im Bunker unter der Erde zu liegen und tot zu sein, ist für mich fast das Gleiche. Es gibt nichts, was mich bewegt. Selbst wenn ich raus­gehe, darf ich die Gemeinde Urdorf nicht verlassen. Es ist wie ein Gefängnis.

Tausende Menschen befinden sich in der Schweiz in Asyl­ver­fahren und sind in verschie­denen Arten von Unter­künften unter­ge­bracht. Ein grosser Teil der Bevöl­ke­rung hört von diesen Orten nur dann, wenn es zu Konflikten kommt oder wenn Miss­stände aufge­deckt werden. Das Lamm will dem etwas entge­gen­setzen: In der Reihe „Stimmen aus den Camps“ stehen die Menschen in den Asyl­un­ter­künften im Zentrum. Dabei sollen insbe­son­dere dieje­nigen zu Wort kommen, deren Asyl­ge­such abge­lehnt wurde. Sie leben in soge­nannten Rück­kehr­zen­tren oder Camps, wie sie sie selbst oft nennen. Die Beiträge stellen jeweils ein Thema in den Fokus und lassen die Bewohner*innen selbst zu Wort kommen. 

Früher konnte ich arbeiten und habe ein rich­tiges Leben geführt, hatte eine Zukunft. Das ist jetzt schon sieben Jahre her. Ich bin zwar immer noch jung, doch die Schweiz gibt mir keine zweite Chance. Ich habe einmal Probleme gemacht und jetzt bin ich für immer bestraft. Was bleibt mir anderes übrig, als zu trinken?

Aufge­zeichnet im Februar 2025 von Annika Lutzke

Die Reihe „Stimmen aus den Camps“ wird finan­ziell unter­stützt von Migros Enga­ge­ment („ici. gemeinsam hier“), von der Stif­tung Mercator Schweiz, von der Landis & Gyr Stif­tung und von der Stif­tung Corymbo.


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