Im poli­ti­schen Verteidigungskampf

Die stadt­po­li­ti­sche Bewe­gung in Vene­zuela hat unter Präsi­dent Hugo Chávez viel erreicht. Heute muss sie sich neu defi­nieren – und versucht, den Kurs der Regie­rung wieder nach links zu verschieben. 
Das Barrio San Agustín Sur in Venezuelas Hauptstadt Caracas. 60 Prozent der städtischen Bevölkerung lebt in informellen Siedlungen. (Foto: Tobias Lambert)

Tropi­scher Regen pras­selt auf die Brach­fläche, die sich hinter einem breiten Metalltor verbirgt. Rechts ein über­dachter Bereich, darunter Stühle, Tische und einige Nähma­schinen. Von der Wand lächelt Vene­zuelas 2013 verstor­bener Ex-Präsi­dent Hugo Chávez. Eigent­lich sollten auf dem Grund­stück im innen­städ­ti­schen Bezirk La Candel­aria in Caracas längst Wohn­häuser stehen.

Doch aufgrund der seit Jahren andau­ernden heftigen Wirt­schafts­krise domi­niert hier vor allem die Leere. „2017 haben wir das Gelände besetzt“, erzählt Sergio González. „Es ist ein staat­li­ches Grund­stück, doch eine Privat­person hat hier einfach einen kommer­zi­ellen Park­platz betrieben, ohne dass dies den Staat inter­es­siert hat.“

Also kümmerten sich González und seine Mitstreiter*innen selbst darum. Sie gehören den Campa­mentos de Pioneros an, die Teil des Movi­mi­ento de Pobla­dores y Pobla­doras (Siedler*innen-Bewegung) sind, in dem sich Bewohner*innen der Armen­viertel, Mieter*innen und Wohnungs­lose organisieren.

Die Pioneros machen unge­nutzte Grund­stücke ausfindig. Der Staat stellt finan­zi­elle Mittel, Mate­ria­lien und tech­ni­sche Bera­tung bereit, doch die Häuser bauen die zukünf­tigen Bewohner*innen selbst. Auf dem ehema­ligen Park­platz in La Candel­aria ist das inmitten der Krise bisher nicht gelungen. „Wir wollen drei bis vier Gebäude errichten. Sobald wir die Mittel haben, können wir mit dem Projekt beginnen“, so González.

Eine urbane Revolution

Die Siedler*innen-Bewegung entstand ab 2004. Ihr Ziel war nichts weniger als eine urbane Revo­lu­tion. Ihr Programm ist der Kampf gegen Speku­la­tion, Zwangs­räu­mungen und die Praxis, Wohn­raum zur Ware zu machen. In Vene­zuela inve­stierte der Staat die Erdöl­ein­nahmen seit Mitte des 20. Jahr­hun­derts häufig in Infra­struktur und den Immo­bi­li­en­sektor. Davon profi­tierte die Privat­wirt­schaft, in die das Geld floss. Die Pobla­dores schlagen hingegen vor, die Produk­ti­ons­mittel im Wohnungs­bau­be­reich direkt an die Bevöl­ke­rung zu übertragen.

Anfang 2011 traf sich die Bewe­gung mit dem dama­ligen Präsi­denten Hugo Chávez, der sich soli­da­risch mit ihren Kämpfen erklärte. Die Ansätze einer sozia­li­sti­schen Umge­stal­tung der Städte fanden sich anschlies­send in dem breiten Wohnungs­bau­pro­gramm Gran Misión Vivi­enda Vene­zuela wieder.

Laut offi­zi­ellen Zahlen sind bis heute vier Millionen Wohnungen entstanden, die ärmeren Haus­halten zu symbo­li­schen Preisen über­lassen wurden. Expert*innen halten diese Zahlen zwar für über­trieben und doch hat der staat­liche Wohnungsbau in den vergan­genen elf Jahren grosse Fort­schritte gemacht. Mit öffent­li­cher Unter­stüt­zung trieben auch basis­de­mo­kra­tisch legi­ti­mierte kommu­nale Räte sowie die Pioneros den Bau neuer Häuser mass­geb­lich voran.

Als Grund­lage der sozia­li­sti­schen Wohnungs­po­litik gelten drei im Mai 2011 von Chávez dekre­tierte Gesetze, die von der stadt­po­li­ti­schen Bewe­gung ausge­gangen waren: Das erste bietet Schutz vor Zwangs­räu­mungen. Das zweite Gesetz stärkt die Arbeits­rechte und das Recht auf Wohn­raum von Hausmeister*innen und das dritte erleich­tert die Vergabe von Land­ti­teln in den Armen­vier­teln, in Vene­zuela barrios genannt. Späte­stens seitdem war Chávez ein enger Verbün­deter der Pobla­dores.

„Es ist viel­leicht schwer zu verstehen, dass eine Bewe­gung einen Staats­prä­si­denten als Anführer hat“, erklärt Juan Carlos Rodrí­guez, Spre­cher der Siedler*innen-Bewegung. „Aber Chávez‘ poli­ti­sche Führung war etwas sehr Beson­deres, weil sie in die histo­ri­schen sozialen Kämpfe einge­bettet war.“ Mit der aktu­ellen Regie­rung sei dies anders. „Heute müssen wir als Pobla­dores und als Bewe­gungen gene­rell das Verhältnis zur Regie­rung neu definieren.“

„Sozia­li­sti­scher“ Rechtsruck

Viele Aktivist*innen spüren in den vergan­genen Jahren unter Chávez‘ Nach­folger Nicolás Maduro eine Art Rechts­ruck. Im Zuge des heftigen Macht­kampfes mit der Oppo­si­tion entschied sich die Regie­rung ab 2016 dafür, die Wirt­schaft intrans­pa­rent und ohne öffent­liche Debatte zu libe­ra­li­sieren. Dieser „takti­sche Rich­tungs­wechsel“ sei ange­sichts der gegen Vene­zuela verhängten US-Sank­tionen notwendig, die unter anderem den Verkauf von Erdöl und den Zugang zu staat­li­chen vene­zo­la­ni­schen Vermö­gens­werten im Ausland blockieren.

Doch die wirt­schafts­li­be­ralen Reformen schaffen hand­feste wirt­schaft­liche Inter­essen. Koope­ra­tiven oder andere sozia­li­sti­sche Unter­neh­mens­formen sind der Regie­rung mitt­ler­weile genauso suspekt wie unab­hän­gige Parti­zi­pa­tion der Basis. Statt­dessen setzt sie auf Privatunternehmer*innen und koop­tierte Basis­or­ga­ni­sa­tionen, die ledig­lich Entschei­dungen der regie­renden Vereinten Sozia­li­sti­schen Partei Vene­zuelas (PSUV) umsetzen.

In Vene­zuela bestehen die Städte aus formal geplanten und infor­mell errich­teten Stadt­teilen. Histo­risch wuchsen die Armen­viertel (Barrios) ab den 1920er Jahren in Rand­lagen oder an Hügeln. Der Erdöl­reichtum sowie der Nieder­gang der Land­wirt­schaft sorgten für eine hohe Binnen­mi­gra­tion in die Städte, die heute etwa 95 Prozent der Bevöl­ke­rung umfassen. In den infor­mell entstan­denen Sied­lungen leben etwa 60 Prozent der urbanen Bevöl­ke­rung – häufig in prekären Verhält­nissen. Zum formellen Wohnungs­markt haben die meisten Bewohner*innen der Barrios mangels ausrei­chend finan­zi­eller Mittel keinen Zugang. Eine Alter­na­tive bietet das 2011 gestar­tete staat­liche Wohnungs­bau­pro­gramm Gran Misión Vivi­enda Venezuela.

Während Vene­zuela unter Hugo Chávez ab 2003 einen Konsum- und Inve­sti­ti­ons­boom erlebte, der vor allem den Unter­schichten zugute kam, schlit­terte das südame­ri­ka­ni­sche Land 2014 infolge fallender Erdöl­preise in eine tiefe Rezes­sion. Diese führte zu einer rapiden Verar­mung, die mitt­ler­weile laut Schät­zungen zwischen 70 und 90 Prozent der Bevöl­ke­rung betrifft. Hinzu kam nach Chávez Tod 2013 ein offener Macht­kampf mit der rechten Oppo­si­tion. Dieser mündete im Januar 2019 in dem geschei­terten Versuch, mit US-Unter­stüt­zung den Parla­ments­vor­sit­zenden Juan Guaidó als Inte­rims­prä­si­denten einzu­setzen. Derzeit sitzt die Regie­rung Maduro fest im Sattel. Bis zur näch­sten Präsi­dent­schafts­wahl Ende 2024 will die zersplit­terte Oppo­si­tion mittels Vorwahlen eine*n gemeinsame*n Kandidat*in bestimmen und mit der Regie­rung trans­pa­rente Wahl­be­din­gungen aushandeln.

Wirt­schaft­lich ist mitt­ler­weile eine leichte Erho­lung zu spüren. Im Februar liess Vene­zuela die mehr­jäh­rige Hyper­in­fla­tion hinter sich, mit 140 Prozent ist die jähr­liche Teue­rungs­rate jedoch noch immer hoch. Die Läden sind voll, gezahlt wird meist in US-Dollar. Dieses Jahr könnte Vene­zuela ein zwei­stel­liges Wirt­schafts­wachstum erzielen, seit 2013 ist das Brut­to­in­lands­pro­dukt aller­dings um etwa 80 Prozent geschrumpft. Die soziale Ungleich­heit hat infolge der Libe­ra­li­sie­rungs­po­litik stark zugenommen.

Mit Blick auf die Wohnungs­po­litik sehen private Akteur*innen die Chance gekommen, das Rad zurück­zu­drehen. So fordern Vertreter*innen der Immo­bi­li­en­lobby und des Unternehmer*innendachverbandes Fede­ca­maras, die unter Chavez verab­schie­deten Gesetze zu reformieren.

In der Praxis kam es bereits zu einigen Zwangs­räu­mungen, obwohl diese laut Gesetz gar nicht erlaubt sind. „Der Privat­sektor verdient Geld mit Wohn­raum, aber trägt nicht dazu bei, das Wohn­raum­pro­blem zu lösen“, so Rodrí­guez. Die Elite sehe Wohn­raum nur als finan­zi­elle Inve­sti­tion und miss­traue kollek­tiven Ansätzen.

Statt ange­sichts des poli­ti­schen Rich­tungs­wech­sels mit der Regie­rung zu brechen, versu­chen die Pobla­dores das unter Chávez Erreichte zu erhalten und wieder zu vertiefen. Unter dem Motto #Nadi­eNos­Qui­taLo­Luchado (deutsch: „Niemand nimmt uns das Erkämpfte wieder weg“) mobi­li­sierte die Bewe­gung Ende Juni in den sozialen Netz­werken und auf der Strasse. Tausende Aktivist*innen und Sympathisant*innen zogen zum Präsi­den­ten­pa­last Mira­flores, um gegen den wach­senden Einfluss der Immo­bi­li­en­lobby zu demonstrieren.

Maduro empfing Vertreter*innen der Bewe­gung öffent­lich­keits­wirksam, darunter auch Rodrí­guez. Dabei forderten die Aktivist*innen ein sofor­tiges Ende von Zwangs­räu­mungen sowie Erhalt und Vertie­fung der progres­siven Gesetzgebung.

Als konkreter Vorschlag liegt ein Geset­zes­pro­jekt auf dem Tisch, das kollek­tives Eigentum an städ­ti­schen Grund­stücken ermög­li­chen und den selbst­or­ga­ni­sierten Wohnungsbau stärken soll. „Bisher gehen alle Wohnungen, die im Rahmen der Gran Misión Vivi­enda Vene­zuela entstehen, in indi­vi­du­ellen Besitz über“, erklärt Rodrí­guez. „Das heisst aber, dass die Bank dich irgend­wann raus­schmeissen kann, falls du einen Kredit nicht bedienst und eine Hypo­thek auf deinen Wohn­raum lastet. Es muss darum gehen, ein Recht auf Nutzung des Wohn­raums zu haben, nicht aber darauf, ihn weiterzuverkaufen.“

Schla­fender Gesetzesvorschlag

Am 4. Oktober vergan­genen Jahres, dem UN-Welt-Habitat-Tag, hatten die Pobla­dores den Vorschlag dem vene­zo­la­ni­schen Parla­ment vorge­stellt. Seit der letzten Wahl Ende 2020 besteht dort eine breite chavi­sti­sche Mehrheit.

Ende 2021 wurde das Gesetz für selbst­or­ga­ni­sierten Wohnungsbau dank ausrei­chender parla­men­ta­ri­scher Unter­stüt­zung offi­ziell einge­bracht und in der entspre­chenden Parla­ments­kom­mis­sion ein Entwurf ausge­ar­beitet. Seitdem hat sich aller­dings wenig bewegt. Die erste Lesung steht noch immer aus.

„Eine unserer Forde­rungen an Maduro lautet, das neue Gesetz voran­zu­bringen. Die andere, Gesetze zu erhalten, die wir mit Chávez erreicht haben“, so Rodrí­guez. „Maduro hat uns bei dem Treffen zuge­sagt, dass keines davon ange­ta­stet werde. Das stärkt uns poli­tisch den Rücken.“

Juan Carlos Rodrí­guez im Campa­mento de Pioneros, im Hinter­grund Hugo Chávez. (Foto: Tobias Lambert)

Darüber hinaus sei aber entschei­dend, dass die Basis­be­we­gungen poli­tisch wieder aktiver würden. „Die Mobi­li­sie­rung im Juni war bewusst Teil einer offenen Kampagne, die verschie­dene Kämpfe von unten zusammen bringt.“

Dies sieht auch Reinaldo Itur­riza so. Der Autor und Basis­ak­ti­vist unter­stützt die Kampagne öffent­lich. Zu Beginn von Maduros Amts­zeit 2013, als dieser noch versuchte, nahtlos an das Erbe von Hugo Chávez anzu­küpfen, war Itur­riza drei Jahre lang Mini­ster für die basis­de­mo­kra­ti­schen Comunas [Zusam­men­schlusse mehrerer Kommu­naler Räte, Anm. d. Red.] sowie für Kultur. Mitt­ler­weile steht er kritisch zur Regie­rung Maduro, sieht aber noch immer mehr poli­ti­schen Spiel­raum, als linke Basis­be­we­gungen unter einer mögli­chen rechten Regie­rung hätten.

Itur­riza sitzt in einem kleinen Büro im 20. Stock eines Gebäudes am Parque Central im Zentrum von Caracas mit Blick auf El Candel­aria. Der Name Park war mangels Grün­flä­chen schon in den 1970er-Jahren irre­füh­rend, als der Hoch­haus­kom­plex einge­weiht wurde. Heute lassen die einst höch­sten Wolken­kratzer Latein­ame­rikas nur noch mit viel Fantasie erahnen, dass dies einmal als futu­ri­sti­sches Baupro­jekt galt.

„Auch wenn die Mobi­li­sie­rung für vene­zo­la­ni­sche Verhält­nisse über­schaubar war, ist die Kampagne für die gesamte chavi­sti­sche Bewe­gung bedeutsam“, sagt Itur­riza. „Denn es handelte sich um eine auto­nome Initia­tive, die nicht von der Regie­rung ausging. Und das in einem Moment, in dem die sozialen Bewe­gungen schwach sind.“

Der Gross­teil der Menschen habe sich im einst stark poli­ti­sierten Vene­zuela aufgrund der schwie­rigen wirt­schaft­li­chen Situa­tion und der fehlenden Hoff­nung in die Politik zurück­ge­zogen. „Wir müssen verstehen, was mit den depo­li­ti­sierten Menschen passiert und als Bewe­gung von unten Kräfte aufbauen, um diesen Prozess des Zerfalls umzukehren.“

„Unsere Mobi­li­sie­rung hat dazu beigetragen, die zurzeit unsicht­baren Bewe­gungen wieder sichtbar zu machen. Und das verbes­sert unsere Voraus­set­zungen, um weiter­zu­kämpfen“, meint auch Rodrí­guez. Als soziale Bewe­gungen müssten sie Einfluss auf künf­tige Debatten nehmen. „Denn wenn wir das nicht tun, finden diese weiterhin zwischen den immer glei­chen Polen der Regie­rung und der rechten Oppo­si­tion statt.“

Weitere Infor­ma­tionen über das Movi­mi­ento de Pobla­dores y Pobla­doras sowie die erwähnten Geset­zes­texte finden sich auf Spanisch hier: https://selvihp.org/venezuela/#ven_org


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