Tropischer Regen prasselt auf die Brachfläche, die sich hinter einem breiten Metalltor verbirgt. Rechts ein überdachter Bereich, darunter Stühle, Tische und einige Nähmaschinen. Von der Wand lächelt Venezuelas 2013 verstorbener Ex-Präsident Hugo Chávez. Eigentlich sollten auf dem Grundstück im innenstädtischen Bezirk La Candelaria in Caracas längst Wohnhäuser stehen.
Doch aufgrund der seit Jahren andauernden heftigen Wirtschaftskrise dominiert hier vor allem die Leere. „2017 haben wir das Gelände besetzt“, erzählt Sergio González. „Es ist ein staatliches Grundstück, doch eine Privatperson hat hier einfach einen kommerziellen Parkplatz betrieben, ohne dass dies den Staat interessiert hat.“
Also kümmerten sich González und seine Mitstreiter*innen selbst darum. Sie gehören den Campamentos de Pioneros an, die Teil des Movimiento de Pobladores y Pobladoras (Siedler*innen-Bewegung) sind, in dem sich Bewohner*innen der Armenviertel, Mieter*innen und Wohnungslose organisieren.
Die Pioneros machen ungenutzte Grundstücke ausfindig. Der Staat stellt finanzielle Mittel, Materialien und technische Beratung bereit, doch die Häuser bauen die zukünftigen Bewohner*innen selbst. Auf dem ehemaligen Parkplatz in La Candelaria ist das inmitten der Krise bisher nicht gelungen. „Wir wollen drei bis vier Gebäude errichten. Sobald wir die Mittel haben, können wir mit dem Projekt beginnen“, so González.
Eine urbane Revolution
Die Siedler*innen-Bewegung entstand ab 2004. Ihr Ziel war nichts weniger als eine urbane Revolution. Ihr Programm ist der Kampf gegen Spekulation, Zwangsräumungen und die Praxis, Wohnraum zur Ware zu machen. In Venezuela investierte der Staat die Erdöleinnahmen seit Mitte des 20. Jahrhunderts häufig in Infrastruktur und den Immobiliensektor. Davon profitierte die Privatwirtschaft, in die das Geld floss. Die Pobladores schlagen hingegen vor, die Produktionsmittel im Wohnungsbaubereich direkt an die Bevölkerung zu übertragen.
Anfang 2011 traf sich die Bewegung mit dem damaligen Präsidenten Hugo Chávez, der sich solidarisch mit ihren Kämpfen erklärte. Die Ansätze einer sozialistischen Umgestaltung der Städte fanden sich anschliessend in dem breiten Wohnungsbauprogramm Gran Misión Vivienda Venezuela wieder.
Laut offiziellen Zahlen sind bis heute vier Millionen Wohnungen entstanden, die ärmeren Haushalten zu symbolischen Preisen überlassen wurden. Expert*innen halten diese Zahlen zwar für übertrieben und doch hat der staatliche Wohnungsbau in den vergangenen elf Jahren grosse Fortschritte gemacht. Mit öffentlicher Unterstützung trieben auch basisdemokratisch legitimierte kommunale Räte sowie die Pioneros den Bau neuer Häuser massgeblich voran.
Als Grundlage der sozialistischen Wohnungspolitik gelten drei im Mai 2011 von Chávez dekretierte Gesetze, die von der stadtpolitischen Bewegung ausgegangen waren: Das erste bietet Schutz vor Zwangsräumungen. Das zweite Gesetz stärkt die Arbeitsrechte und das Recht auf Wohnraum von Hausmeister*innen und das dritte erleichtert die Vergabe von Landtiteln in den Armenvierteln, in Venezuela barrios genannt. Spätestens seitdem war Chávez ein enger Verbündeter der Pobladores.
„Es ist vielleicht schwer zu verstehen, dass eine Bewegung einen Staatspräsidenten als Anführer hat“, erklärt Juan Carlos Rodríguez, Sprecher der Siedler*innen-Bewegung. „Aber Chávez‘ politische Führung war etwas sehr Besonderes, weil sie in die historischen sozialen Kämpfe eingebettet war.“ Mit der aktuellen Regierung sei dies anders. „Heute müssen wir als Pobladores und als Bewegungen generell das Verhältnis zur Regierung neu definieren.“
„Sozialistischer“ Rechtsruck
Viele Aktivist*innen spüren in den vergangenen Jahren unter Chávez‘ Nachfolger Nicolás Maduro eine Art Rechtsruck. Im Zuge des heftigen Machtkampfes mit der Opposition entschied sich die Regierung ab 2016 dafür, die Wirtschaft intransparent und ohne öffentliche Debatte zu liberalisieren. Dieser „taktische Richtungswechsel“ sei angesichts der gegen Venezuela verhängten US-Sanktionen notwendig, die unter anderem den Verkauf von Erdöl und den Zugang zu staatlichen venezolanischen Vermögenswerten im Ausland blockieren.
Doch die wirtschaftsliberalen Reformen schaffen handfeste wirtschaftliche Interessen. Kooperativen oder andere sozialistische Unternehmensformen sind der Regierung mittlerweile genauso suspekt wie unabhängige Partizipation der Basis. Stattdessen setzt sie auf Privatunternehmer*innen und kooptierte Basisorganisationen, die lediglich Entscheidungen der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) umsetzen.
In Venezuela bestehen die Städte aus formal geplanten und informell errichteten Stadtteilen. Historisch wuchsen die Armenviertel (Barrios) ab den 1920er Jahren in Randlagen oder an Hügeln. Der Erdölreichtum sowie der Niedergang der Landwirtschaft sorgten für eine hohe Binnenmigration in die Städte, die heute etwa 95 Prozent der Bevölkerung umfassen. In den informell entstandenen Siedlungen leben etwa 60 Prozent der urbanen Bevölkerung – häufig in prekären Verhältnissen. Zum formellen Wohnungsmarkt haben die meisten Bewohner*innen der Barrios mangels ausreichend finanzieller Mittel keinen Zugang. Eine Alternative bietet das 2011 gestartete staatliche Wohnungsbauprogramm Gran Misión Vivienda Venezuela.
Während Venezuela unter Hugo Chávez ab 2003 einen Konsum- und Investitionsboom erlebte, der vor allem den Unterschichten zugute kam, schlitterte das südamerikanische Land 2014 infolge fallender Erdölpreise in eine tiefe Rezession. Diese führte zu einer rapiden Verarmung, die mittlerweile laut Schätzungen zwischen 70 und 90 Prozent der Bevölkerung betrifft. Hinzu kam nach Chávez Tod 2013 ein offener Machtkampf mit der rechten Opposition. Dieser mündete im Januar 2019 in dem gescheiterten Versuch, mit US-Unterstützung den Parlamentsvorsitzenden Juan Guaidó als Interimspräsidenten einzusetzen. Derzeit sitzt die Regierung Maduro fest im Sattel. Bis zur nächsten Präsidentschaftswahl Ende 2024 will die zersplitterte Opposition mittels Vorwahlen eine*n gemeinsame*n Kandidat*in bestimmen und mit der Regierung transparente Wahlbedingungen aushandeln.
Wirtschaftlich ist mittlerweile eine leichte Erholung zu spüren. Im Februar liess Venezuela die mehrjährige Hyperinflation hinter sich, mit 140 Prozent ist die jährliche Teuerungsrate jedoch noch immer hoch. Die Läden sind voll, gezahlt wird meist in US-Dollar. Dieses Jahr könnte Venezuela ein zweistelliges Wirtschaftswachstum erzielen, seit 2013 ist das Bruttoinlandsprodukt allerdings um etwa 80 Prozent geschrumpft. Die soziale Ungleichheit hat infolge der Liberalisierungspolitik stark zugenommen.
Mit Blick auf die Wohnungspolitik sehen private Akteur*innen die Chance gekommen, das Rad zurückzudrehen. So fordern Vertreter*innen der Immobilienlobby und des Unternehmer*innendachverbandes Fedecamaras, die unter Chavez verabschiedeten Gesetze zu reformieren.
In der Praxis kam es bereits zu einigen Zwangsräumungen, obwohl diese laut Gesetz gar nicht erlaubt sind. „Der Privatsektor verdient Geld mit Wohnraum, aber trägt nicht dazu bei, das Wohnraumproblem zu lösen“, so Rodríguez. Die Elite sehe Wohnraum nur als finanzielle Investition und misstraue kollektiven Ansätzen.
Statt angesichts des politischen Richtungswechsels mit der Regierung zu brechen, versuchen die Pobladores das unter Chávez Erreichte zu erhalten und wieder zu vertiefen. Unter dem Motto #NadieNosQuitaLoLuchado (deutsch: „Niemand nimmt uns das Erkämpfte wieder weg“) mobilisierte die Bewegung Ende Juni in den sozialen Netzwerken und auf der Strasse. Tausende Aktivist*innen und Sympathisant*innen zogen zum Präsidentenpalast Miraflores, um gegen den wachsenden Einfluss der Immobilienlobby zu demonstrieren.
Maduro empfing Vertreter*innen der Bewegung öffentlichkeitswirksam, darunter auch Rodríguez. Dabei forderten die Aktivist*innen ein sofortiges Ende von Zwangsräumungen sowie Erhalt und Vertiefung der progressiven Gesetzgebung.
Als konkreter Vorschlag liegt ein Gesetzesprojekt auf dem Tisch, das kollektives Eigentum an städtischen Grundstücken ermöglichen und den selbstorganisierten Wohnungsbau stärken soll. „Bisher gehen alle Wohnungen, die im Rahmen der Gran Misión Vivienda Venezuela entstehen, in individuellen Besitz über“, erklärt Rodríguez. „Das heisst aber, dass die Bank dich irgendwann rausschmeissen kann, falls du einen Kredit nicht bedienst und eine Hypothek auf deinen Wohnraum lastet. Es muss darum gehen, ein Recht auf Nutzung des Wohnraums zu haben, nicht aber darauf, ihn weiterzuverkaufen.“
Schlafender Gesetzesvorschlag
Am 4. Oktober vergangenen Jahres, dem UN-Welt-Habitat-Tag, hatten die Pobladores den Vorschlag dem venezolanischen Parlament vorgestellt. Seit der letzten Wahl Ende 2020 besteht dort eine breite chavistische Mehrheit.
Ende 2021 wurde das Gesetz für selbstorganisierten Wohnungsbau dank ausreichender parlamentarischer Unterstützung offiziell eingebracht und in der entsprechenden Parlamentskommission ein Entwurf ausgearbeitet. Seitdem hat sich allerdings wenig bewegt. Die erste Lesung steht noch immer aus.
„Eine unserer Forderungen an Maduro lautet, das neue Gesetz voranzubringen. Die andere, Gesetze zu erhalten, die wir mit Chávez erreicht haben“, so Rodríguez. „Maduro hat uns bei dem Treffen zugesagt, dass keines davon angetastet werde. Das stärkt uns politisch den Rücken.“
Darüber hinaus sei aber entscheidend, dass die Basisbewegungen politisch wieder aktiver würden. „Die Mobilisierung im Juni war bewusst Teil einer offenen Kampagne, die verschiedene Kämpfe von unten zusammen bringt.“
Dies sieht auch Reinaldo Iturriza so. Der Autor und Basisaktivist unterstützt die Kampagne öffentlich. Zu Beginn von Maduros Amtszeit 2013, als dieser noch versuchte, nahtlos an das Erbe von Hugo Chávez anzuküpfen, war Iturriza drei Jahre lang Minister für die basisdemokratischen Comunas [Zusammenschlusse mehrerer Kommunaler Räte, Anm. d. Red.] sowie für Kultur. Mittlerweile steht er kritisch zur Regierung Maduro, sieht aber noch immer mehr politischen Spielraum, als linke Basisbewegungen unter einer möglichen rechten Regierung hätten.
Iturriza sitzt in einem kleinen Büro im 20. Stock eines Gebäudes am Parque Central im Zentrum von Caracas mit Blick auf El Candelaria. Der Name Park war mangels Grünflächen schon in den 1970er-Jahren irreführend, als der Hochhauskomplex eingeweiht wurde. Heute lassen die einst höchsten Wolkenkratzer Lateinamerikas nur noch mit viel Fantasie erahnen, dass dies einmal als futuristisches Bauprojekt galt.
„Auch wenn die Mobilisierung für venezolanische Verhältnisse überschaubar war, ist die Kampagne für die gesamte chavistische Bewegung bedeutsam“, sagt Iturriza. „Denn es handelte sich um eine autonome Initiative, die nicht von der Regierung ausging. Und das in einem Moment, in dem die sozialen Bewegungen schwach sind.“
Der Grossteil der Menschen habe sich im einst stark politisierten Venezuela aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation und der fehlenden Hoffnung in die Politik zurückgezogen. „Wir müssen verstehen, was mit den depolitisierten Menschen passiert und als Bewegung von unten Kräfte aufbauen, um diesen Prozess des Zerfalls umzukehren.“
„Unsere Mobilisierung hat dazu beigetragen, die zurzeit unsichtbaren Bewegungen wieder sichtbar zu machen. Und das verbessert unsere Voraussetzungen, um weiterzukämpfen“, meint auch Rodríguez. Als soziale Bewegungen müssten sie Einfluss auf künftige Debatten nehmen. „Denn wenn wir das nicht tun, finden diese weiterhin zwischen den immer gleichen Polen der Regierung und der rechten Opposition statt.“
Weitere Informationen über das Movimiento de Pobladores y Pobladoras sowie die erwähnten Gesetzestexte finden sich auf Spanisch hier: https://selvihp.org/venezuela/#ven_org
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