Im Schwitz­ka­sten der SVP

In der Abstim­mung zum Verhül­lungs­verbot ging es nicht um reli­giösen Funda­men­ta­lismus oder Frau­en­rechte. Statt­dessen befeu­erte sie die niveau­lose Debat­ten­kultur in der Schweiz — auf Kosten von Minderheiten. 
Es ist kompliziert: Es gibt weder "den Islam", noch "den Islamismus" und schon gar nicht "den Feminismus". Auch wenn die SVP uns das weis machen möchte. (Illustration: Häsch Gwüsst Kollektiv, Nina Loosli)

Diese Initia­tive war eine einzige Verwir­rungs­taktik. Sie schuf die Illu­sion einer Entschei­dung zwischen zwei Übeln: Seid ihr für Unter­drückung von „Frauen“ oder für Unter­drückung von Minder­heiten? Ist der Niqab ein Zeichen der Miso­gynie oder der Emanzipation?

Diese Fragen sind unmög­lich zu beant­worten. Mehr noch: Es sind Fragen, die niemand bei Verstand stellen würde, da sie dermassen stumpf sind. In der Debatte vor der Abstim­mung wurden sie trotzdem gestellt. Und die Antworten fielen folge­richtig oft genauso stumpf aus.

Reli­giöser Funda­men­ta­lismus in jeder Form bedarf der sorg­fäl­tigen, gut infor­mierten und inter­sek­tio­nalen Analyse, um ange­messen bekämpft zu werden. Ein solcher Kampf muss im Sinne der Soli­da­rität mit unter­drückten, margi­na­li­sierten, verfolgten und ermor­deten Menschen welt­weit geführt werden. Und auch die Soli­da­rität mit Queers und TINF-Personen ist in diesem Kontext wichtig.

Doch Funda­men­ta­lismus und insbe­son­dere isla­mi­scher Funda­men­ta­lismus in Europa ist kompli­ziert und wider­sprüch­lich, in ihm entfalten sich poli­ti­sche und ideo­lo­gi­sche Tiefen. Es gibt keine einfa­chen Antworten. Das Thema eignete sich also perfekt für eine popu­li­sti­sche Kampagne.

Es ist kompliziert

Die Initia­tive „Ja zum Verhül­lungs­verbot“ redu­zierte Frau­en­rechte im Islam künst­lich auf die Wahl zwischen „Ja zur Verhül­lung“ und „Nein zur Verhül­lung“. Somit gab es keinen Platz für diffe­ren­zierte Auseinandersetzung.

Selbst­ver­ständ­lich ist es falsch, der winzigen Minder­heit von ohnehin schon margi­na­li­sierten Niqab­trä­ge­rinnen eine Klei­der­vor­schrift aufzu­er­legen. Ohne Frage sind diese dreissig Frauen allein wegen ihrer Klei­dung weder eine Gefahr für die innere Sicher­heit, noch ist dieses Stück Stoff ein Hinweis darauf, dass sich isla­mi­scher Funda­men­ta­lismus in der Schweiz ausbreitet. Ebenso falsch und zynisch ist es, zu behaupten, die Verhül­lung einer Frau sei an sich ein Akt der Eman­zi­pa­tion. Oder dass isla­mi­scher Funda­men­ta­lismus in Europa nicht existiere.

Die Realität ist nämlich kompli­ziert und wider­sprüch­lich: Eine Niqab­trä­gerin in der Schweiz hat nicht unbe­dingt etwas mit dem funda­men­ta­li­sti­schen Regime in Saudi-Arabien zu tun und sympa­thi­siert auch nicht auto­ma­tisch mit dem soge­nannten IS. Eine Person, die sich in Europa für eine Verschleie­rung entscheidet, ist gleich­zeitig nicht auto­ma­tisch progressiv und verkör­pert nicht die Voll­endung femi­ni­sti­scher oder anti­ko­lo­nialer Ideale.

Diese Debatte lässt sich nicht auf die einfache Formel „unter­drückt oder nicht unter­drückt“ redu­zieren. Und schon gar nicht lässt sie sich mit Ja oder Nein zur Verhül­lung auflösen. Mit jeder Äusse­rung, die für oder gegen diese argu­men­tierte, verfe­stigte sich die Lüge, dass die Abstim­mung der Komple­xität des Themas über­haupt gerecht werden kann.

Das ist nicht Demo­kratie. Es ist der erpres­se­ri­sche Schwitz­ka­sten einer Partei, die mithilfe eines defekten poli­ti­schen Systems Hass und Hetze verbreitet.

Wir bei das Lamm haben uns vor der Abstim­mung dazu entschieden, ein Video zu veröf­fent­li­chen, in dem eine Niqab­trä­gerin zu Wort kommt. Die Initia­tive machte diese Person zu einer Betrof­fenen, deren Perspek­tive wir für die Debatte wichtig fanden. Trotzdem wider­spricht das Welt­bild, das sie im Gespräch darlegt, dem unseren grund­sätz­lich. Wir haben es versäumt, ihre Aussagen zu kontra­stieren und einzu­ordnen. Das war ein Fehler. Die Kommen­tar­spalten unter dem Video zeigten: Wir wurden selbst Teil der verein­fa­chenden Debatte. Doch sie zeigten auch, dass die Ausein­an­der­set­zung mit diesem Thema im Rahmen dieser Abstim­mung kaum möglich war.

Denn sie ist anstren­gend und kompli­ziert, sie braucht Zeit, und Fehler sind vorpro­gram­miert. Wer sich für eine solche Ausein­an­der­set­zung inter­es­siert, der:m seien die Beiträge und Bücher von Autor:innen wie Reyhan Şahin, Sineb El Masrar oder Ronya Othmann ans Herz gelegt.

Alte Mittel

In der Abstim­mung vom letzten Sonntag ging es aber ohnehin nicht um diese Themen. Denn eine ernst­hafte Ausein­an­der­set­zung käme zum Schluss, dass Rechts­extre­mismus und isla­mi­scher Funda­men­ta­lismus zwei Seiten derselben reak­tio­nären Medaille sind, dass die SVP mehr mit Fundamentalist:innen gemeinsam hat als mit einer offenen und egali­tären Gesellschaft.

Es ging in der Abstim­mung einzig und allein um das poli­ti­sche Kalkül der SVP. Sie kehrte mit der Initia­tive zurück zu bewährten Mitteln und freut sich jetzt darüber, dass ihre alten Schreck­ge­spen­ster Islam und Migra­tion immer noch funk­tio­nieren. Dass das verstaubte Erfolgs­re­zept der Blocherpartei alle Zeiten überdauert.

Das sollte uns zu denken geben. Es zeigt: Im Zweifel verbünden sich Wähler:innen hier­zu­lande lieber mit Rechten als mit Minder­heiten. Das Ja zur Initia­tive ist ein Ja zur stumpfen Debatte und ein Ja zu rassi­sti­scher Hetze. Auf diese „Demo­kratie“ ist kein Verlass.


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