Diese Initiative war eine einzige Verwirrungstaktik. Sie schuf die Illusion einer Entscheidung zwischen zwei Übeln: Seid ihr für Unterdrückung von „Frauen“ oder für Unterdrückung von Minderheiten? Ist der Niqab ein Zeichen der Misogynie oder der Emanzipation?
Diese Fragen sind unmöglich zu beantworten. Mehr noch: Es sind Fragen, die niemand bei Verstand stellen würde, da sie dermassen stumpf sind. In der Debatte vor der Abstimmung wurden sie trotzdem gestellt. Und die Antworten fielen folgerichtig oft genauso stumpf aus.
Religiöser Fundamentalismus in jeder Form bedarf der sorgfältigen, gut informierten und intersektionalen Analyse, um angemessen bekämpft zu werden. Ein solcher Kampf muss im Sinne der Solidarität mit unterdrückten, marginalisierten, verfolgten und ermordeten Menschen weltweit geführt werden. Und auch die Solidarität mit Queers und TINF-Personen ist in diesem Kontext wichtig.
Doch Fundamentalismus und insbesondere islamischer Fundamentalismus in Europa ist kompliziert und widersprüchlich, in ihm entfalten sich politische und ideologische Tiefen. Es gibt keine einfachen Antworten. Das Thema eignete sich also perfekt für eine populistische Kampagne.
Es ist kompliziert
Die Initiative „Ja zum Verhüllungsverbot“ reduzierte Frauenrechte im Islam künstlich auf die Wahl zwischen „Ja zur Verhüllung“ und „Nein zur Verhüllung“. Somit gab es keinen Platz für differenzierte Auseinandersetzung.
Selbstverständlich ist es falsch, der winzigen Minderheit von ohnehin schon marginalisierten Niqabträgerinnen eine Kleidervorschrift aufzuerlegen. Ohne Frage sind diese dreissig Frauen allein wegen ihrer Kleidung weder eine Gefahr für die innere Sicherheit, noch ist dieses Stück Stoff ein Hinweis darauf, dass sich islamischer Fundamentalismus in der Schweiz ausbreitet. Ebenso falsch und zynisch ist es, zu behaupten, die Verhüllung einer Frau sei an sich ein Akt der Emanzipation. Oder dass islamischer Fundamentalismus in Europa nicht existiere.
Die Realität ist nämlich kompliziert und widersprüchlich: Eine Niqabträgerin in der Schweiz hat nicht unbedingt etwas mit dem fundamentalistischen Regime in Saudi-Arabien zu tun und sympathisiert auch nicht automatisch mit dem sogenannten IS. Eine Person, die sich in Europa für eine Verschleierung entscheidet, ist gleichzeitig nicht automatisch progressiv und verkörpert nicht die Vollendung feministischer oder antikolonialer Ideale.
Diese Debatte lässt sich nicht auf die einfache Formel „unterdrückt oder nicht unterdrückt“ reduzieren. Und schon gar nicht lässt sie sich mit Ja oder Nein zur Verhüllung auflösen. Mit jeder Äusserung, die für oder gegen diese argumentierte, verfestigte sich die Lüge, dass die Abstimmung der Komplexität des Themas überhaupt gerecht werden kann.
Das ist nicht Demokratie. Es ist der erpresserische Schwitzkasten einer Partei, die mithilfe eines defekten politischen Systems Hass und Hetze verbreitet.
Wir bei das Lamm haben uns vor der Abstimmung dazu entschieden, ein Video zu veröffentlichen, in dem eine Niqabträgerin zu Wort kommt. Die Initiative machte diese Person zu einer Betroffenen, deren Perspektive wir für die Debatte wichtig fanden. Trotzdem widerspricht das Weltbild, das sie im Gespräch darlegt, dem unseren grundsätzlich. Wir haben es versäumt, ihre Aussagen zu kontrastieren und einzuordnen. Das war ein Fehler. Die Kommentarspalten unter dem Video zeigten: Wir wurden selbst Teil der vereinfachenden Debatte. Doch sie zeigten auch, dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema im Rahmen dieser Abstimmung kaum möglich war.
Denn sie ist anstrengend und kompliziert, sie braucht Zeit, und Fehler sind vorprogrammiert. Wer sich für eine solche Auseinandersetzung interessiert, der:m seien die Beiträge und Bücher von Autor:innen wie Reyhan Şahin, Sineb El Masrar oder Ronya Othmann ans Herz gelegt.
Alte Mittel
In der Abstimmung vom letzten Sonntag ging es aber ohnehin nicht um diese Themen. Denn eine ernsthafte Auseinandersetzung käme zum Schluss, dass Rechtsextremismus und islamischer Fundamentalismus zwei Seiten derselben reaktionären Medaille sind, dass die SVP mehr mit Fundamentalist:innen gemeinsam hat als mit einer offenen und egalitären Gesellschaft.
Es ging in der Abstimmung einzig und allein um das politische Kalkül der SVP. Sie kehrte mit der Initiative zurück zu bewährten Mitteln und freut sich jetzt darüber, dass ihre alten Schreckgespenster Islam und Migration immer noch funktionieren. Dass das verstaubte Erfolgsrezept der Blocherpartei alle Zeiten überdauert.
Das sollte uns zu denken geben. Es zeigt: Im Zweifel verbünden sich Wähler:innen hierzulande lieber mit Rechten als mit Minderheiten. Das Ja zur Initiative ist ein Ja zur stumpfen Debatte und ein Ja zu rassistischer Hetze. Auf diese „Demokratie“ ist kein Verlass.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 8 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 676 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 280 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 136 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?