Immer weiter

2022 ist ein wich­tiges Jahr für den Schweizer Frau­en­fuss­ball: Die Schweiz tritt erst zum zweiten Mal an einer Euro­pa­mei­ster­schaft an. Ein Gespräch mit der Stür­merin des FC Zürich Meriame Terchoun über die aktu­elle Saison, über fehlende Gleich­stel­lung sowie Chancen und Risiken einer Profes­sio­na­li­sie­rung des Frauenfussballs. 
"Ich habe nur eine begrenzte Zeit auf der Erde und möchte diese möglichst sinnvoll und erfüllend gestalten. Dazu gehört für mich, dass ich für meine Werte einstehe." (Foto: Laura Rivas)

Wir errei­chen Meriame Terchoun bei der Arbeit. „Entschul­digen Sie die Verspä­tung, ich musste noch etwas erle­digen“, sagt sie zu Beginn. Sie sei gerade noch ein wenig müde von der Vorbe­rei­tung für die Rück­runde, aber auch von der Booster-Impfung, die sie am Tag zuvor verab­reicht bekommen hat. Doppel- und Drei­fach­be­la­stungen überall – das ist die Norm im Schweizer Frau­en­fuss­ball, wo Höchst­lei­stungen erwartet und Mini­mal­be­träge bezahlt werden.

Das Lamm: Frau Terchoun, 2019 erlitten Sie bereits Ihren dritten Kreuz­band­riss. Und das im Alter von 24. Was geht einem da durch den Kopf?

Meriame Terchoun: Zuerst einmal war ich sehr depri­miert. Die Verlet­zung geschah eine Woche vor dem Cupfinal, was die Verlet­zung noch viel schlimmer machte. Zwar hatte ich Glück im Unglück und zog mir neben dem Kreuz­band­riss keine weitere Verlet­zung zu, etwa am Meniskus. Trotzdem habe ich mich in der Zeit oft gefragt, wie es weiter­gehen soll, ob ich über­haupt noch auf diesem Niveau spielen möchte.

Als die Saison 2020 dann wegen Covid unter­bro­chen wurde und ich von einer Reise nach Hause kam, habe ich die spiel­freie Zeit für mein Aufbau­trai­ning genutzt.

Meriame Terchoun ist eine Schweizer Fuss­ball­spie­lerin, die beim FC Zürich unter Vertrag steht. In ihrer Karriere gewann sie sieben Mal die Schweizer Meister­schaft und acht Mal den Schweizer Cup. Nach über zwei­ein­halb Jahren stiess sie im November 2021 wieder zum Kader des Schweizer Natio­nal­teams hinzu, mit dem sie an der Euro­pa­mei­ster­schaft 2017 teilnahm.

In Ihrem ersten Spiel im Herbst 2020 haben Sie dann gleich in der letzten Minute ein Tor erzielt – und das gegen Ihren Exclub.

Ja, das war ein beson­derer Moment. Nicht wegen dem FC Basel oder dem Spiel an sich, sondern wegen der spür­baren Freude und Unter­stüt­zung im Team. Mit einem Mal fiel die ganze Last der letzten Monate von meinen Schul­tern. Das hat mir auch die Locker­heit gegeben zu sagen: Alles, was jetzt noch kommt in meiner Karriere, ist ein schöner Bonus.

So reden sonst nur Spieler:innen kurz vor dem Karrie­re­ende. Dabei stehen Sie mit dem FC Zürich auf Platz 1 der Tabelle und mit Ihren sechs Toren in neun Spielen an zweiter Stelle der Torschütz:innenliste.

Dass ich nach drei schweren Verlet­zungen immer noch auf diesem Niveau spielen kann, grenzt an ein Wunder. Auch wenn die Verlet­zungen irgend­wann geheilt sind: Der Körper verän­dert sich. Deswegen versuche ich am Boden zu bleiben und meine körper­liche Fitness reali­stisch einzuschätzen. 

Die Verlet­zungen waren zudem auch psychisch sehr bela­stend. Ich war zum Beispiel selbst für meine Aufbau­ar­beit verant­wort­lich. Und weil man als Spie­lerin in der höch­sten Liga der Schweiz beim Bund nicht auto­ma­tisch als Spit­zen­sport­lerin gilt, bedeu­tete das auch, dass ich meine Intensiv-Reha selbst orga­ni­sieren musste.

Aber ja, diese Saison läuft es sehr gut. Der Wechsel der Trai­nerin hat mir gutgetan, ich kenne Inka Grings von früher und verstehe mich gut mit ihr. Sie gibt mir die nötige Zeit, mich körper­lich auf die Spiele vorzu­be­reiten. Solange ich die aktu­elle Form halten kann und fit bleibe, werde ich alles dafür geben, dass wir die Saison auch auf dem 1. Platz beenden.

Mit Ihrer Leistung haben Sie auch Natio­nal­trainer Nils Nielsen über­zeugt. Für das letzte Quali­fi­ka­ti­ons­spiel für die Euro­pa­mei­ster­schaft 2022 wurden Sie nach­no­mi­niert. Rechnen Sie damit, dass Sie im Sommer mit dem Natio­nal­team nach England fahren?

Nein, ich mache mir nicht allzu viele Gedanken über eine mögliche Teil­nahme an der Euro­pa­mei­ster­schaft. Wie gesagt: Jeder Erfolg, der jetzt noch kommt, ist nicht selbstverständlich.

Die Schweiz hat aktuell ein sehr starkes Team, viele Spieler:innen verdienen ihr Geld im Ausland und sind im Gegen­satz zu mir Voll­profis. Ich persön­lich konzen­triere mich auf die Saison mit dem FC Zürich und möchte mit meiner Leistung dazu beitragen, dass wir die Meister­schaft gew:innen. Aber natür­lich: Wenn ich für das Kader in England aufge­boten werde, werde ich alles geben.

Es ist nach der EM 2017 erst die zweite Teil­nahme des Schweizer Frau­en­fuss­ball­teams an einer EM. Was bedeutet das für den Schweizer Frauenfussball?

Es ist ein Riesen­er­folg und gleich­zeitig eine grosse Chance für den Frau­en­fuss­ball. Wir können der Welt und der Schweiz zeigen, dass wir Fuss­ball auf hohem Niveau spielen können. Mit dem Turnier rückt der Frau­en­fuss­ball dieses Jahr auch in die mediale Aufmerk­sam­keit, was hoffent­lich auch viele Mädchen dazu moti­viert, selbst Fuss­ball zu spielen.

Zudem sind grosse Turniere immer auch mit Inve­sti­tionen vom Verband in die Infra­struktur und das Team verbunden. Mit der Kandi­datur für die EM 2025, die der Kanton Zürich auch unter­stützt, zeigt der Schweizer Fuss­ball­ver­band, dass er in Sachen Frau­en­fuss­ball endlich vorwärts­ma­chen will. Deswegen bin ich verhalten positiv gestimmt für die Zukunft.

Und trotzdem: Von Ländern wie Frank­reich oder Deutsch­land ist die Schweiz noch meilen­weit entfernt. Warum tun wir uns so schwer mit dem Frauenfussball?

Das ist eine Frage, die ich mir auch oft stelle. Natür­lich hat die Schweiz lang­same büro­kra­ti­sche Prozesse, Verän­de­rungen brau­chen hier länger, sind aber dafür nach­hal­tiger. Die Schweiz ist aber nicht wirk­lich eine Sport­na­tion, mit Ausnahme natür­lich des Skisports. Selbst beim Männer­fuss­ball sehen wir nicht die Fanszenen, die es in anderen Ländern gibt. Und natür­lich ist die Schweiz sehr klein­räumig und hat dadurch einen einge­schränkten Fern­seh­markt, was sich auf die Finanzen der Vereine auswirkt.

Das Ziel muss sein, dass Spieler:innen für die hohe Leistung, die ihnen abver­langt wird, auch entspre­chend entlohnt werden. Und davon sind wir leider aktuell noch weit entfernt. Das ist vielen Leuten nicht bewusst: Sie gehen davon aus, dass eine Spie­lerin, die in der höch­sten Liga spielt, auto­ma­tisch auch vom Sport leben kann.

Gibt es somit auch viel Unwissen rund um den Frauenfussball?

Ja, ganz klar. Deswegen ist es so wichtig, dass die Spiele nicht nur im Fern­sehen über­tragen, sondern auch vermehrt durch Hinter­grund­be­richt­erstat­tung über die Spieler:innen begleitet werden. Wir alle in der Schweizer Liga sind neben den vielen Trai­nings noch berufstätig. 

Solche Geschichten inter­es­sieren die Zuschauer:innen und machen deut­lich, wie gross die Leistung von Spieler:innen ist, die jede Woche auf hohem Niveau Fuss­ball spielen. Und so können Fussballer:innen auch Vorbilder für junge Frauen sein, die sich für den Sport interessieren.

Es gibt auch Diskus­sionen, dass der Frau­en­fuss­ball mit geän­derten Regeln attrak­tiver gemacht werden könnte für jene, die sich bisher nur für Männer­fuss­ball inter­es­siert haben. Etwa mit einem klei­neren Ball oder Feld…

Ja, die gibt es, aber diese Vorschläge zielen am Kern des Problems vorbei. Der Frau­en­fuss­ball wäre deut­lich schneller und attrak­tiver, wenn Frauen im selben Masse wie Männer geför­dert und so bezahlt würden, dass sie ihren Lebens­un­ter­halt bestreiten können. 

Das und eine weitere Profes­sio­na­li­sie­rung würde helfen, dass sich Frauenfussballer:innen, die fast alle täglich einem Beruf nach­gehen oder studieren, sich voll auf den Sport konzen­trieren können.

Aber selbst wenn der Frau­en­fuss­ball besser bezahlt würde, wäre der Vergleich mit dem Männer­fuss­ball nicht sinn­voll. Es sind zwei Ange­bote auf dem selben Markt, mit unter­schied­li­chen Stärken und Schwä­chen. Frau­en­fuss­ball muss man anders schauen als Männerfussball.

Wie meinen Sie das – Frau­en­fuss­ball „anders schauen“?

Wer ein Frau­en­fuss­ball­spiel anschaut und die Qualität nur an der Geschwin­dig­keit und an der Physis misst, ist im Vergleich mit dem Männer­fuss­ball viel­leicht enttäuscht. Wer aber Aspekte wie tech­ni­sche Finesse oder Taktik ins Zentrum stellt, merkt, dass der Frau­en­fuss­ball minde­stens gleich­wertig wie der Männer­fuss­ball ist. 

Ganz zu schweigen davon, dass wir fairer, tole­ranter und ehrli­cher sind und trotzdem immer 100 Prozent Einsatz geben.

Birgt aber die Profes­sio­na­li­sie­rung, die Sie sich wünschen, nicht auch die Gefahr, dass die nega­tiven Aspekte des Männer­fuss­balls über­nommen werden?

Die Gefahr besteht, ja. Ich selbst schaue gerne Männer­fuss­ball, aber wie viel Geld dort im Spiel ist und wie dort mit Spie­lern auch in der Schweiz zum Teil umge­gangen wird, grenzt an unmensch­lich. Wo viel Geld fliesst, gehen die Werte anschei­nend schnell verloren.

Wenn ich von Profes­sio­na­li­sie­rung spreche, dann beziehe ich das vor allem auf das Trai­nings­um­feld und auf die Bezah­lung: Mehr Einzel­trai­nings, bessere medi­zi­ni­sche Betreuung, fairere Bezah­lung. Aber ich hoffe, dass die mensch­liche Nähe, die den Frau­en­fuss­ball bisher ausmacht, beibe­halten werden kann.

Ist es so betrachtet nicht auch eine zusätz­liche Chance, dass die Frau­en­fuss­ball-EM in England im selben Jahr wie die umstrit­tene Männer­fuss­ball-WM in Katar stattfindet?

Ja, das ist durchaus eine Chance. Wobei wir uns nichts vorma­chen müssen: Trotz den Neben­ge­räu­schen rund um die WM in Katar wird die grosse Mehr­heit der Fuss­ball­fans die Männer-WM schauen. Aber für die Minder­heit, die aus mora­li­schen Gründen darauf verzichtet, ist die Frauen-EM im Sommer natür­lich eine will­kom­mene Alternative.

Ganz im Gegen­satz zu vielen Sportler:innen scheinen Sie kein Problem damit zu haben, sich poli­tisch zu posi­tio­nieren, auch ausser­halb des Sports. So haben Sie sich letztes Jahr etwa zur Abstim­mung über das Burka-Verbot geäus­sert. Wieso sind sie unver­krampfter als so manche anderen Spitzensportler:innen?

Ich habe nur eine begrenzte Zeit auf der Erde und möchte diese möglichst sinn­voll und erfül­lend gestalten. Dazu gehört für mich, dass ich für meine Werte einstehe. Wir Spitzensportler:innen haben eine öffent­liche Platt­form und ich bin davon über­zeugt, dass wir eine Pflicht haben, diese zu nutzen. Gerade auch, weil viele Menschen in anderen Staaten diese Chancen nicht haben. 

Ich spreche aber nur zu Themen, über die ich mich im Vorfeld gut infor­miert habe und bei denen ich auch zu meiner Meinung öffent­lich stehen kann. Aber dort, wo ich kann, möchte ich mich dafür einsetzen, dass alle die glei­chen Chancen erhalten.

Dieses Inter­view ist zuerst bei der P.S.-Zeitung erschienen. Die P.S.-Zeitung gehört wie Das Lamm zu den verlags­un­ab­hän­gigen Medien der Schweiz.


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