Es ist Freitag, der 23. November 2018, in einem schummrigen Keller in Olten. Der Boden ist abgewetzt, ein feuchter Dunst liegt in der Luft. An der Bar wird Bier in Plastikbechern ausgeschenkt, durch das grellorange Licht auf der Bühne türmt sich Nebel auf.
Dahinter steht das Trio der Post-Punk-Band Asbest, das gerade eine überleitende Bridge im Song „Driven“ spielt. Über aufbauendem Gitarrengezerre, wippendem Bass und tappendem Schlagzeug-Becken spricht die Sängerin und Gitarristin Robyn Trachsel langsam einen dystopischen Text:
„I cannot turn back
Even if the horizon’s black
I need to walk this way
The other option would be to die
I will have to endure this pain
If I want to see the light“
(Driven, 2018)
Und dann:
Schreie.
Schreie wie das Klirren der Signalpfeife einer Kondukteurin auf dem Perron.
Lange, hohe, explodierende Schreie, die sich in das musikalische Arrangement einfügen, als ob sie ein eigenes Instrument wären. Die Zuschauer:innen bewegen ihre Köpfe im klassischen Stoner-Rock-Rhythmus. Die Stimmung pendelt zwischen Faszination und Schrecken. Es tönt nach radikalem Aufbruch.
Wie funktioniert das: Aus Lärm Musik machen? Wie politisch ist schreiende Musik in einem Land, dessen Einwohner:innen gemeinhin eher als schweigsam und neutral statt als lautstark und kritisch beschrieben werden?
Nische freiprügeln
„Ich bin diejenige, die schreit“, sagt die Bassistin der Band Judith Breitinger beim Gespräch im Restaurant und Kulturlokal Hirscheneck in Basel, wo die Band 2016 ihr erstes Konzert spielte: „Wir waren überrascht, wie gut es damals angekommen ist.“ Nachdem sie eine erste Kassette aufgenommen und ein paar Konzerte in Basel gespielt hätten, habe es immer mehr Booking-Anfragen gegeben.
Neben Breitinger am Tisch sitzt Robyn Trachsel, Songwriterin, Sängerin und Gitarristin von Asbest. Das Paar rief die Band 2016 ins Leben: „Wir wollten eine Band gründen, die etwas Konsequentes hat. Ohne Kompromisse einzugehen. Etwas, das heftig ist. Etwas, das klassischer Weiblichkeit entgegensteht.“ Gerade beim Schreien gehe es darum, „sich eine Nische freizuprügeln“ innerhalb einer Kultur, die sich oft wie ein Korsett anfühle.
Breitinger ergänzt: „Laut sein, sich den Platz nehmen, ist etwas, das klassischer Weiblichkeit entgegensteht.“
Als Frontfrauen repräsentieren Trachsel und Breitinger das Gesicht der Band. Dahinter sitzt stets der Schlagzeuger Jonas Häne im Tanktop. „Die zwei bleichen Hexen und dahinter der bärtige Dude, so wurden wir mal beschrieben“, sagt Trachsel mit einem Lächeln. Und weiter: „Ich finde es angenehm, noch einen Typen dabeizuhaben. Sonst besteht die Gefahr von aussen darauf reduziert zu werden, ‚bloss‘ eine Frauen-Punk-Band zu sein.“
Asbest will draufhauen, anecken und stören, dieses Konzept jedoch nicht zur klassischen Formel verkommen lassen. Zu oft werde komplexer Inhalt mit einfachen Schlagwörtern zusammengefasst, meinen Breitinger und Trachsel, was an der Komplexität einer Sache meist vorbeiziele. Es gehe ihnen darum, ins Diffuse vorzudringen, die Grauzonen zu bespielen.
„Alle wollen immer hören, was man so macht“, meint Trachsel zu den Stilrichtungen der Band, die mit Post-Punk, Noise und Shoegaze ganz gut abgesteckt sind. Breitinger widerspricht: „Ich lasse mich gar nicht von Post-Punk inspirieren. Vielleicht ist Stoner Rock der Bereich, in dem wir drei uns am ehesten treffen. Das Schwere, das Tiefe.“
Obwohl vieles in der Schwebe bleiben soll, wird schon im Namen klar, dass Asbest für Gefahr steht. Wenn es einen Stoff gibt, der bei den meisten Menschen ein ungutes Gefühl weckt, dann diesen. Man vermeidet, mit ihm in Berührung zu kommen. „Asbest ist ein eingebauter Teil des Systems“, sagt Trachsel zum Bandnamen. „Gezwungenermassen zur Substanz dazugehörend. Doch wenn man Asbest entfernen möchte, wehrt sich das Material – jeder Versuch bleibt fruchtlos.“
Je enger die Grenzen einer Gesellschaft gesetzt sind, desto stärker das Verlangen, diese zu sprengen. Je sichtbarer die Unterdrückungsmechanismen der Produktion, desto schneller ihre Überwindung.
Asbest – das heisst auch Wut und Verzweiflung, die herausgeschrien gehört. Denn was schlecht ist, ist schlecht. Weder mit gängigen Floskeln schönzureden noch mit einem vagen Lächeln zu überspielen. Man muss es darstellen – und zwar radikal.
Die Umgebung in ihrer Rauheit zu beschreiben, dies hat Asbest sich auf die Fahnen geschrieben. „Subversion war von Anfang unser Anspruch“, meint Trachsel, die auf dem ersten Album „Driven“ ihre Diskriminierungserfahrungen als trans Frau beschreibt. „Im ersten Album ging es darum, wie es ist, an die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptierten zu stossen. Was es mit einem macht, wenn man einer gesellschaftlichen Norm widerspricht.“
„They kill the happy ones first
So the sad must suffer longer
They kill the strong ones first
Because the weak are more easy to plunder“
(They Kill, 2018)
Erfolg und Strom
Bevor das Album „Driven“ herauskam, wurde zuerst die Single „They Kill“ veröffentlicht. Im Rückblick ein Vorgeschmack darauf, was später noch kommen sollte. Judith Breitinger erzählt: „Der Tag, an dem unsere Single „They Kill“ herauskam, war absurd. Die Kritiker:innen überboten sich mit Lob. Wir waren völlig überrascht.“
„Noch nie wurden kalter post punk, leidenschaftlichster noiserock und hypnotischer shoegaze so selbstverständlich ineinander verwoben“, schrieb beispielsweise das Musikmagazin „bprodukt“ in einem Artikel.
Ein paar Monate später, im Frühling 2019, wurde die Band für die Kategorie Rock am m4music-Festival in Zürich nominiert. Asbest gewann die Kategorie, zusätzlich wurde ihr Song „They Kill“ als „Demo of the Year 2019“ ausgezeichnet. „Während der Preisverleihung war ich so überfordert, dass ich gleich zu weinen begann. Seither ist aber viel Gutes passiert“, blickt Trachsel zurück.
Trotzdem sei der Erfolg auch ein zweischneidiges Schwert. „Das Projekt hat seither etwas seine naive Unschuld verloren. Wir mussten merken, dass wir eine Messlatte gelegt haben. Das ist stressig für ein zweites Album“, führt Trachsel weiter aus. Nach dem ersten Album sei das Interesse gestiegen und sie hätten ein- bis zweimal pro Monat ein Konzert gespielt. „Da wir beide sonst noch arbeitstätig sind – ich in der Administration und neu in der Tontechnik, Judith im Sozialwesen –, war es etwas stressig. Aber mit Corona wurde alles stillgelegt.“
Mit dem zunehmenden Interesse stiess Asbest in Gebiete vor, die nicht zu ihrem Habitus gehörten. Dies habe auch zu skurrilen Situationen geführt. Als die Band 2019 am alle 25 Jahre stattfindenden Winzer:innenfest Fête des Vignerons in Vevey spielte, hätten die Veranstaltenden gedroht, den Strom abzustellen.
„Dass wir dort spielten, war auch bisschen ein Stinkefinger gegen dieses Bünzlifest“, sagt Trachsel und Breitinger führt aus: „Während dem Spielen hat uns die Kioskbesitzerin von nebenan angeschrien. Anscheinend ecken wir wirklich an. Wenn man immer vor einem Szene-Publikum spielt, vergisst man manchmal, dass man doch sehr weit weg vom Mainstream ist.“
Auch habe die Band an einem Festival in Tunesien spielen können, wie Breitinger weiter erzählt: „Beim Soundcheck war das Publikum schon voll dabei. Als wir zum ersten Mal geschrien haben, hats einfach zurückgeschriehen. Wir brauchten kurz, um zu checken, dass das kein Vocal-Effekt von den Boxen, sondern das Publikum ist!“ Seit dem Arabischen Frühling habe sich viel geöffnet in Tunesien, wie Trachsel weiter meint: „Doch die Gesellschaft ist immer noch konservativ. Alternativkultur wird dort vor allem von einer jungen, privilegierten Schicht getragen. Diese Menschen, die es sich leisten konnten, an das Festival zu kommen, waren so fucking parat.“
Politik und in die Fresse
„Be productive
Be productive
Reproductive
Reprodutive“
(Means of Reproduction, 2018)
Asbest hat es mit ihrem ersten Album geschafft, mit alternativer Nischenkultur eine breitere Zuhörer:innenschaft zu erreichen. Gleichzeitig blieb die Band dem Rauen und Ungeschliffenen treu und liess sich nicht von der Musikindustrie vereinnahmen.
Die Band ist Teil des Systems, bleibt aber widerständig und gefährlich. Wie der Stoff Asbest.
„Wenn man es schafft, mit kantiger und unangenehmer Musik Menschen anzusprechen, die sonst nicht kantige und unangenehme Musik hören, dann ist das fast das Schönste“, meint Trachsel. Breitinger konkretisiert: „Da spielt auch Glück mit rein, dass wir uns nicht nur in unseren Kreisen bewegen.“ So oder so sei unabhängig von der Szene, aus der ihre Zuhörer:innen kommen, klar: „Wenn mehrere Menschen zusammenkommen, um ein Konzert zu hören, ist das eine Form von Zugehörigkeit. Hier gibt es politische Energie, die gebündelt wird. Man geht anders wieder heraus, als man hereingekommen ist.“
Wie viel revolutionäres Potenzial steckt also in Asbest?
„Wir leben in einer Zeit, in der Musik immer mehr zum Hintergrundding verkommt“, antwortet Trachsel. „Deshalb werden wir nicht die Weltrevolution anzetteln. Trotzdem kommen Menschen zu mir und meinen: Interessanter Text, das habe ich mir bis jetzt so noch nicht überlegt.“
Dass die Band mit revolutionären politischen Strömungen sympathisiert, ist klar. Aber: „Wir sind nicht aktiv organisiert. Ich finde das schwierig. Sobald es pragmatisch wird, ist es für mich oftmals zu eindimensional und populistisch“, sagt Trachsel und meint mit Pragmatismus die Unterordnung unter einige Leitsätze, die man dann publikumswirksam zu vertreten hat. „Die Realität ist dafür einfach viel zu komplex.“
Sowohl Trachsel als auch Breitinger kritisieren gerne. Im Alltag sei man dafür stets eine Erklärung schuldig. In der Musik nicht. Deshalb sei die Bühne ihr Platz. „Wenn ihr das hören wollt, gerne, wenn nicht, auch okay“, meint Trachsel dazu.
Das neue Album kommt im Frühling 2022. Es setze musikalisch dort an, wo das letzte aufgehört habe. „Im Sommer waren wir in Deutschland im Studio und haben aufgenommen. Im Moment ist es im Mastering“, sagt Breitinger. „Alles immer noch sehr asbestig“, führt Trachsel aus. „Immer noch ziemlich in die Fresse.“
Inhaltlich sei es weniger konkret, sondern mehr auf der Metaebene. Themen wie Leistungsgesellschaft, psychische Gesundheit, Psychopharmaka. Existenzialismus. „Kritik an Erwartungshaltungen, die eine Gesellschaft stellt, die in sich pathologisch ist“, sagt Trachsel.
Konsequenter Lärm, der den Status quo beschreibt, wie er ist. Ohne schönreden zu wollen.
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