Das Bauchgefühl war immer ein ominöses Konzept für mich. Du triffst jemanden zum ersten Mal und weisst: Irgendetwas stimmt hier nicht. Oder umgekehrt: Diese Person fühlt sich vertraut an, obwohl du sie kaum kennst. Ohne klar benennen zu können, warum, beschleunigst du den Schritt in einer dunklen Gasse. Von Beziehungen ganz zu schweigen – kein Regelwerk, keine Formel, nur das Bauchgefühl als einziger Kompass, der dort funktioniert. Für verkopfte Menschen ein einziges Fragezeichen.
Das Bauchgefühl ist eine körperlich spürbare Form von Wissen – ein Ziehen im Magen, ein Engegefühl in der Brust, ein inneres Ja oder Nein, das sich plötzlich herauskristallisiert, bevor wir über etwas wirklich nachgedacht haben. Lange Zeit galt Wissen als etwas, das sich in Büchern, Theorien und Daten fassen lässt – objektiv, nachvollziehbar, allgemein. Doch Intuition kommt ohne diese Instrumente aus. Sie basiert auf Erfahrung und Wahrnehmung – ein verkörpertes Verständnis von der Welt, das in den letzten Jahren zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten ist.
Intuition als subversives Wissen
Schon seit den 1980ern betonen Denkerinnen wie Donna Haraway oder Audre Lorde, dass verkörpertes Wissen eine zentrale Strategie ist, um sich gegen patriarchale, koloniale und normative Wissensregime zu behaupten: In ihrem Essayband „Sister Outsider” (1984) macht Lorde deutlich, dass Intuition kein irrationales Gefühl, sondern eine kraftvolle Quelle für Wissen von marginalisierten Menschen ist.
Die afroamerikanische Dichterin, Aktivistin und feministische Theoretikerin – in ihrer bekannten Selbstbezeichnung „Black, lesbian, mother, warrior, poet“ („Schwarz, Lesbe, Mutter, Kriegerin, Dichterin”) – beschreibt beispielsweise den Moment, als sie erfährt, dass sie möglicherweise an Brustkrebs erkrankt ist. Noch bevor die Diagnose sicher ist, spürt sie in dieser Zeit des Bangens intuitiv, dass ihr Schweigen über Angst, Schmerz und Unterdrückung sie letztlich mehr gefährdet als das Verbalisieren dieser Erfahrungen. „Your silence will not protect you” („Dein Schweigen wird dich nicht schützen”), schreibt sie – ein Satz, der zur feministischen Parole geworden ist.
Dieses intuitive Wissen – ein inneres Drängen, nicht länger stumm zu bleiben – wird für sie zum Ausgangspunkt eines radikalen Verständnisses von Sprache, Handlung und Selbstermächtigung. Für Lorde stammt diese Einsicht nicht aus logischen Überlegungen, sondern aus einem verkörperten Wissen. Es tritt für sie aus einem Moment der existenziellen Bedrohung heraus und wird zur Sprache.
Vieles, was wir als intuitiv empfinden, ist beeinflusst von gesellschaftlicher Sozialisierung
Donna Haraway setzte diesen Gedanken in den 1980er und 1990er-Jahren fort. In ihrem berühmten Essay „Situated Knowledges” (1988) hebt sie die Bedeutung des verkörperten, situierten Wissens hervor: Intuition wird hier nicht als unscharfe Gefühlssache abgetan, sondern als politisches Wissen verstanden. Eines, das marginalisierte Perspektiven, Erfahrungen und Körper sichtbar macht, die in dominanten Strukturen oft unsichtbar bleiben.
Haraway, die US-amerikanische Wissenschaftsphilosophin, Biologin und feministische Theoretikerin, kritisiert die Vorstellung eines „gottgleichen Blicks von nirgendwo“ – die weiss-männlich-westliche Perspektive, die sich lange als neutral-universell getarnt hat. Gleichzeitig fordert sie ein „Wissen von irgendwo“: ein bewusst situiertes, verantwortliches Wissen, das die eigene Position und Verkörperung nicht verleugnet, sondern einbezieht.
Längst sind die Zeiten vorbei, in denen das Wissen der Welt zwischen zwei Buchdeckel passen musste. Gut so, denn statt in verstaubten Enzyklopädien im untersten Regalfach kann Wissen in ganz unterschiedlichen Formen kommen.
Doch was zählt überhaupt als Wissen? Wer bestimmt darüber und wer hat Zugang dazu? In der Annzyklopädie widmet sich Ann Mbuti den Wissensformen unserer Zeit. Mit kritischem Blick und einer gesunden Skepsis nimmt sie unsere individuellen Perspektiven und Erfahrungen unter die Lupe, die die Art und Weise prägen, wie Wissen gesammelt und interpretiert wird.

Ann Mbuti ist unabhängige Autorin mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer Kunst und Popkultur. Ihre Arbeit konzentriert sich auf künstlerische Projekte, die das Potenzial für soziale, politische oder ökologische Veränderungen haben. Derzeit beschäftigt sie sich mit Mythologien, mündlicher Geschichte, Science Fiction und der Verschmelzung von Fakten und Fiktion. Seit 2024 ist sie Professorin für Prozessgestaltung am HyperWerk der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel.
Verkörpertes Wissen als Praxis
So kraftvoll Intuition als Form verkörperten Wissens sein kann – sie entzieht sich oft der Überprüfbarkeit. Nur schwer lässt sie sich in klaren Begriffen ausdrücken, noch seltener beweisen. Der Vorteil standardisierter Wissensformen – klar kommunizierbar, reproduzierbar, scheinbar objektiv – fehlt ihr.
Lange wurde Intuition zudem als vermeintlich „natürliche“ Eigenschaft dargestellt. Ein Zuschreibungsmuster, das vor allem Frauen und marginalisierten Gruppen galt – und dadurch neue Formen des Ausschlusses erzeugte. Statt sie also romantisch zu verklären, gilt es, Intuition als politisch und sozial eingebettete Wissensform ernst zu nehmen – mit all ihren Möglichkeiten und Grenzen.
Vieles, was wir als intuitiv empfinden, ist beeinflusst von Sozialisierung: Wer in einer Gesellschaft aufwächst, die bestimmte Körper als gefährlich, fremd oder minderwertig markiert, wird solche Zuschreibungen mit hoher Wahrscheinlichkeit unbewusst verinnerlichen. Man reagiert aufgrund bestimmter Muster, hat eine intuitive Reaktion, die sozial erlernt ist und sich genau als solch ein diffuses Bauchgefühl äussert. Intuition ist also keineswegs automatisch richtig oder wahr, sondern kann genauso gut Ausdruck verinnerlichter Vorurteile sein.
Umso wichtiger ist es, dieses Geflecht von intuitivem Wissen nicht nur zuzulassen, sondern auch zu hinterfragen: Woher stammt ein Gefühl? Wessen Erfahrungen prägen es? Was erscheint vertraut und warum? Es wäre zu einfach, Intuition als reine Gegenkraft zu rationalem Denken zu sehen – sie als Wissensform kritisch ernst zu nehmen bedeutet auch, sich der eigenen Verstrickungen bewusst zu werden.
Intuition ernst zu nehmen heisst nicht, sich von Beweisen zu verabschieden.
Die Theorie nimmt sie als Anfang, als Korrektiv oder ihre Erweiterung. Bei Donna Haraway lernen wir beispielsweise, die eigene Position sichtbar zu machen: Sich zu fragen, welche Erfahrungen, Identitäten und Machtverhältnisse ein Gefühl formen. Das Ziel ist, die eigene Perspektive nicht als Hindernis zu sehen, sondern als Ausgangspunkt: Man selbst ist Teil des Wissensprozesses.
Bei Audre Lorde und bell hooks lernen wir, dass Intuition erst in Verbindung mit Sprache, Austausch und Beziehung lebendig wird. Intuitive Einsichten sind nicht abgeschlossen, kein gegebener Fakt, sondern müssen in den Dialog mit anderen Perspektiven treten.
Bei Sara Ahmed oder Paulo Freire lernen wir von der zentralen Rolle der Körperwahrnehmung, die eine Achtsamkeit für die Signale des Körpers bedeutet. Welche Gefühlsreaktion und körperliche Resonanz kommt in bestimmten Situationen auf? Wo zieht sich der Bauch zusammen? Wo wird die Brust weit? Verkörpertes Wissen braucht Zeit und Aufmerksamkeit, um verstanden zu werden.
Intuition ist eng verbunden mit dem Vertrauen in den eigenen Körper, in emotionale und sinnliche Wahrnehmungen, die oft jenseits jener Rationalitätsmassstäbe liegen, die in westlich geprägten Wissenssystemen historisch dominiert haben. Sie fordert eine Erweiterung dessen, was als „gültiges Wissen“ gilt: Intuition ernst zu nehmen heisst nicht, sich von Beweisen zu verabschieden. Es heisst, andere Formen von Wissen anzuerkennen – auch dann, wenn sie subtil, ungeordnet oder unbequem sind. Es heisst dann auch das Bauchgefühl – dieses vormals ominöse, kaum greifbare Empfinden – als Werkzeug zu sehen, das nicht nur die Navigation durch dunkle Gassen, sondern auch durch komplexe soziale Realitäten erleichtert. Und vielleicht liegt genau darin sein Potenzial für Veränderung.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 8 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 676 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 280 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 136 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?